Oskar Negts autobiographische Spurensuche, die er in Überlebensglück so eindrücklich wie bewegend beschrieben hat, findet nun ihre Fortsetzung im zweiten Teil. Sein Flüchtlingsdasein hat Negt für sich abgeschlossen, sich mit dem Oldenburger Abitur ein Zertifikat der Sesshaftigkeit ausgestellt. Als junger Mann geht Negt an der Frankfurter Universität auf eine 'Denk-Reise'. Und das tun viele seines Alters. Die Vorlesungen bei Adorno, Horkheimer und Habermas sind brechend voll, auch wenn sie in einem alten halbzerstörten und kalten Biologiesaal stattfinden. Besonders der Vortragsstil Horkheimers schlägt die Studenten in seinen Bann, der mit seiner Fähigkeit, auch den abwegigsten Fragen seiner Zuhörer einen rationellen Kern abzugewinnen, viele ermutigt, sich am philosophischen Gespräch zu beteiligen. Negts Studienjahre münden in die Assistenz bei Jürgen Habermas. Während dieser Zeit tritt er mit Vorträgen und Kampfschriften als einer der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition auf, sucht aber auch die öffentliche Auseinandersetzung mit der RAF. Als politischer Intellektueller ist er unbotmäßiger Zeitgenosse, als Wissenschaftler und Denker wandelt er zwischen Soziologie und Philosophie. 1970 wird Negt Professor an der Universität Hannover, doch seine Arbeit bleibt nicht auf die akademische Lehre beschränkt. Als Publizist setzt er sich für die gewerkschaftliche Bildungs- und Kulturarbeit ein, gründet mit der 'Glocksee' ein alternatives Schulmodell und wird später politischer Berater während der rot-grünen Regierungsjahre um Gerhard Schröder, dessen Agenda 2010 er heftig kritisiert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2019Bedürfnisse müssen organisiert werden
Vom Altern der Neuen Linken: Oskar Negt setzt seine autobiographischen Erkundungen fort
Oskar Negt, der im Sommer fünfundachtzig Jahre alt wird, hat nach "Überlebensglück" (2016) eine zweite autobiographische Reise in die Vergangenheit unternommen. Nach der "Spurensuche" in den frühen Jahren sind es nun "Denkbilder" in eigener Sache, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler anbietet. Es ist ja in der Tat erstaunlich: Wie wird jemand, der auf einem ostpreußischen Bauernhof seine Kindheit verbracht und noch dazu als "Vertriebener" nach Westdeutschland kam, ein Vordenker der Neuen Linken in der Bundesrepublik? Über den privaten Negt erfahren wir in diesem Buch wenig, das eher ein Rechenschaftsbericht an die Gegenwart und die nachkommenden Generationen ist, und zwar über Zeiten, die man sich nicht mehr richtig vorstellen kann. Dass in der Autobiographie ein "Theorieproblem" im Mittelpunkt steht, ist selbst ein Überrest jener Zeit, in der sich Intellektuelle noch in den Dienst einer Sache gestellt haben, dabei aber keineswegs deren Knecht werden mussten.
Um welche Sache geht es? Um Genesis und Geltung der Kritischen Theorie und des Versuchs, diese in sozialistische Politik zu überführen. Aufklärung und Vernunft, Demokratie und Sozialismus, Arbeit und Lernen, Theorie und Praxis, Erfahrung und Entfremdung sind die Schlüsselbegriffe aus Negts Vita, die im Zeichen der Theorie- und Öffentlichkeitsarbeit stand - ab 1970 vor allem mit dem so ganz anderen Intellektuellentyp Alexander Kluge. Damals ließ sich die Gesellschaft mit solchen Begriffen denken und deuten, auch und gerade weil jene Gesellschaft solches Denken ermöglichte.
Die Autobiographie hat aber auch Anekdotisches zu bieten. Negt berichtet von den Frankfurter Lehrjahren bei Horkheimer und Adorno, vor allem von der erstaunlichen Begegnung mit Jürgen Habermas, den er in einem Adorno-Hauptseminar kennenlernte, als Negt ein dreistündiges (!) Marxreferat hielt. Habermas habe ihm daraufhin zu seiner Überraschung angeboten, sein Assistent zu werden. Anders als die Assistenten von Adorno und Horkheimer durfte er dann machen, was er wollte. Sogar die Angriffe auf Habermas im Rahmen der Studentenunruhen in Frankfurt zwischen 1967 und 1969, als Negt die Rolle des Mentors der aggressiven Studenten einnahm und selbst das unfreundliche Buch "Die Linke antwortet Jürgen Habermas" herausgab, zerstörten die Beziehung nicht.
Der Sozialphilosoph verstand sich als politischer Intellektueller an der Universität (ab 1971 in Hannover) und nicht als Berufsakademiker. So wurde er Theorieminister des Sozialistischen Büros (SB) in Offenbach/Frankfurt, zu dem alle Linken gingen, die nach dem Zerfall des SDS nicht zurück in die SPD oder in die DKP oder eine der K-Gruppen wollten und die zudem weder die Frankfurter Spontiszene noch die RAF anziehend fanden. Das SB, das in den Siebzigern beständig zwischen 1000 und 1500 Mitglieder hatte, bundesweit in Gruppen verteilt, sollte nach Negt die "Organisationsform des überfraktionellen Bewusstseins" der Linken sein und sich der Lebenswelt der Menschen vom Betrieb bis zum Kindergarten zuwenden, um "Bedürfnisse" zu organisieren und der gesellschaftlichen Entfremdung "Erfahrungen" entgegenzusetzen.
Was für eine Persönlichkeit war und ist Oskar Negt, mit welchen Adjektiven kann man sie beschreiben? Integer, gewissenhaft, genau - alles also, was die protestantische Ethik verlangt und Negts Vorbild Immanuel Kant vorgelebt hat. Natürlich könnte man dann auch die entsprechenden Negativadjektive des Pflichtenkatalogs anführen, denn so viel Rechtschaffenheit führt schnell zu altlinken Kitschformeln à la "der aufrechte Gang". Negts bodenständiges und doch gelehrtes Denken ist merkbar auf einem gut geführten Bauernhof entstanden, dazu im Kontakt mit der Fabrik, in Wertschätzung des zweiten Bildungswegs. Arbeiten und Lernen, Freiheit durch Gleichheit und Gleichheit mit Freiheit, Arbeiterbildung und Alternativpädagogik sind die Säulen seiner Biographie. Auch in Rückschau auf sein politisches und intellektuelles Leben "beackert" er "Arbeitsfelder", um "Wissensvorräte" für die Emanzipation anzulegen.
An dieser Autobiographie kann man das Altern der Neuen Linken mitverfolgen. Negt hat in seinem Leben wenig falsch gemacht (abgesehen wohl von der Beratungstätigkeit für Gerhard Schröder), doch der Sozialismus von unten ist der Gesellschaft mit der Zeit irgendwie abhandengekommen, ohne dass man in Negts Denkreise zufriedenstellend erfahren würde, warum eigentlich. Ihre Botschaft für die Gegenwart ist eine konservative: "Anstand" und "politische Urteilskraft" bewahren gegen die Zerstörungen, die der neoliberale Kapitalismus und der autoritäre Nationalismus anrichten. Wenn ein zentraler Vertreter der Kritischen Theorie, die angetreten ist, die Gesellschaft zu verändern, an seinem Lebensabend nur noch auf Erfahrungen, Erinnerungen und den Appell an den "langen Atem" setzen kann, dann ist das ein eher deprimierendes Zeitzeichen. Trotz eines reichen Lebens.
JÖRG SPÄTER
Oskar Negt:
"Erfahrungsspuren".
Eine autobiographische
Denkreise.
Steidl Verlag, Göttingen 2019. 384 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Altern der Neuen Linken: Oskar Negt setzt seine autobiographischen Erkundungen fort
Oskar Negt, der im Sommer fünfundachtzig Jahre alt wird, hat nach "Überlebensglück" (2016) eine zweite autobiographische Reise in die Vergangenheit unternommen. Nach der "Spurensuche" in den frühen Jahren sind es nun "Denkbilder" in eigener Sache, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler anbietet. Es ist ja in der Tat erstaunlich: Wie wird jemand, der auf einem ostpreußischen Bauernhof seine Kindheit verbracht und noch dazu als "Vertriebener" nach Westdeutschland kam, ein Vordenker der Neuen Linken in der Bundesrepublik? Über den privaten Negt erfahren wir in diesem Buch wenig, das eher ein Rechenschaftsbericht an die Gegenwart und die nachkommenden Generationen ist, und zwar über Zeiten, die man sich nicht mehr richtig vorstellen kann. Dass in der Autobiographie ein "Theorieproblem" im Mittelpunkt steht, ist selbst ein Überrest jener Zeit, in der sich Intellektuelle noch in den Dienst einer Sache gestellt haben, dabei aber keineswegs deren Knecht werden mussten.
Um welche Sache geht es? Um Genesis und Geltung der Kritischen Theorie und des Versuchs, diese in sozialistische Politik zu überführen. Aufklärung und Vernunft, Demokratie und Sozialismus, Arbeit und Lernen, Theorie und Praxis, Erfahrung und Entfremdung sind die Schlüsselbegriffe aus Negts Vita, die im Zeichen der Theorie- und Öffentlichkeitsarbeit stand - ab 1970 vor allem mit dem so ganz anderen Intellektuellentyp Alexander Kluge. Damals ließ sich die Gesellschaft mit solchen Begriffen denken und deuten, auch und gerade weil jene Gesellschaft solches Denken ermöglichte.
Die Autobiographie hat aber auch Anekdotisches zu bieten. Negt berichtet von den Frankfurter Lehrjahren bei Horkheimer und Adorno, vor allem von der erstaunlichen Begegnung mit Jürgen Habermas, den er in einem Adorno-Hauptseminar kennenlernte, als Negt ein dreistündiges (!) Marxreferat hielt. Habermas habe ihm daraufhin zu seiner Überraschung angeboten, sein Assistent zu werden. Anders als die Assistenten von Adorno und Horkheimer durfte er dann machen, was er wollte. Sogar die Angriffe auf Habermas im Rahmen der Studentenunruhen in Frankfurt zwischen 1967 und 1969, als Negt die Rolle des Mentors der aggressiven Studenten einnahm und selbst das unfreundliche Buch "Die Linke antwortet Jürgen Habermas" herausgab, zerstörten die Beziehung nicht.
Der Sozialphilosoph verstand sich als politischer Intellektueller an der Universität (ab 1971 in Hannover) und nicht als Berufsakademiker. So wurde er Theorieminister des Sozialistischen Büros (SB) in Offenbach/Frankfurt, zu dem alle Linken gingen, die nach dem Zerfall des SDS nicht zurück in die SPD oder in die DKP oder eine der K-Gruppen wollten und die zudem weder die Frankfurter Spontiszene noch die RAF anziehend fanden. Das SB, das in den Siebzigern beständig zwischen 1000 und 1500 Mitglieder hatte, bundesweit in Gruppen verteilt, sollte nach Negt die "Organisationsform des überfraktionellen Bewusstseins" der Linken sein und sich der Lebenswelt der Menschen vom Betrieb bis zum Kindergarten zuwenden, um "Bedürfnisse" zu organisieren und der gesellschaftlichen Entfremdung "Erfahrungen" entgegenzusetzen.
Was für eine Persönlichkeit war und ist Oskar Negt, mit welchen Adjektiven kann man sie beschreiben? Integer, gewissenhaft, genau - alles also, was die protestantische Ethik verlangt und Negts Vorbild Immanuel Kant vorgelebt hat. Natürlich könnte man dann auch die entsprechenden Negativadjektive des Pflichtenkatalogs anführen, denn so viel Rechtschaffenheit führt schnell zu altlinken Kitschformeln à la "der aufrechte Gang". Negts bodenständiges und doch gelehrtes Denken ist merkbar auf einem gut geführten Bauernhof entstanden, dazu im Kontakt mit der Fabrik, in Wertschätzung des zweiten Bildungswegs. Arbeiten und Lernen, Freiheit durch Gleichheit und Gleichheit mit Freiheit, Arbeiterbildung und Alternativpädagogik sind die Säulen seiner Biographie. Auch in Rückschau auf sein politisches und intellektuelles Leben "beackert" er "Arbeitsfelder", um "Wissensvorräte" für die Emanzipation anzulegen.
An dieser Autobiographie kann man das Altern der Neuen Linken mitverfolgen. Negt hat in seinem Leben wenig falsch gemacht (abgesehen wohl von der Beratungstätigkeit für Gerhard Schröder), doch der Sozialismus von unten ist der Gesellschaft mit der Zeit irgendwie abhandengekommen, ohne dass man in Negts Denkreise zufriedenstellend erfahren würde, warum eigentlich. Ihre Botschaft für die Gegenwart ist eine konservative: "Anstand" und "politische Urteilskraft" bewahren gegen die Zerstörungen, die der neoliberale Kapitalismus und der autoritäre Nationalismus anrichten. Wenn ein zentraler Vertreter der Kritischen Theorie, die angetreten ist, die Gesellschaft zu verändern, an seinem Lebensabend nur noch auf Erfahrungen, Erinnerungen und den Appell an den "langen Atem" setzen kann, dann ist das ein eher deprimierendes Zeitzeichen. Trotz eines reichen Lebens.
JÖRG SPÄTER
Oskar Negt:
"Erfahrungsspuren".
Eine autobiographische
Denkreise.
Steidl Verlag, Göttingen 2019. 384 S., geb., 28,- [Euro].
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