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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Michel Serres macht es sich nicht leicht, das Herz seiner jungen Leser zu gewinnen. "Mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann", bezeichnet der dreiundachtzig Jahre alte französische Philosoph jene Leute, die mit ihren beiden Daumen in Höchstgeschwindigkeit auf ihren Smartphones tippen, als kleiner Däumling und Däumelinchen. "Petite Poucette" hatte er sogar seinen Vortrag überschrieben, den er vor zweieinhalb Jahren am Institut de France gehalten und, zum Essay ausgearbeitet, inzwischen als Buch veröffentlicht hat. Sein deutscher Verlag verkauft das Büchlein mit der pathetischen Überschrift "Erfindet euch neu!" als "Liebeserklärung an die vernetzte Generation" (Edition Suhrkamp, Berlin 2013. 69 S., br., 8,- [Euro]).
Und doch wendet sich Serres mit keinem Wort an diese Jüngeren direkt, er beschreibt sie in ihrem eigenen Geschichts-, Orts- und Körperbewusstsein, ihrer Sprache, Kommunikationshaltung und Arbeitsauffassung, die sich von den früheren fundamental unterscheidet. Um sich dann mit Verve auf ihre Seite zu schlagen: Heute, stellt Serres fest, gehorche "das Objektive, das Kollektive, das Technologische, das Organisatorische" weit eher ihren Verfahren, die der Philosoph "das algorithmische oder prozedurale Kognitive" nennt, als "den deklarativen Abstraktionen, wie sie mehr als zwei Jahrtausende von einer aus den Natur- und Geisteswissenschaften sich speisenden Philosophie gefeiert wurden".
Dass sich das alte Gegenüber von Sprechendem und Zuhörern auflöst, dass nicht nur die Schüler nicht mehr stillsitzen, sondern keine einzige Versammlung Erwachsener ohne Getuschel und Geschwätz auskommt, stört Serres kaum. Er sieht uns an der Schwelle eines zweiten oralen Zeitalters, in dem sich reale und virtuelle Stimmen mit den virtuellen Schrifterzeugnissen mischen. Zwei Neuerungen hebt er hervor: Einerseits sei die einseitiger Rede zugrundeliegende Inkompetenzunterstellung der Zuhörer unhaltbar geworden. Andererseits sehe sich jeder in der Lage, die anderen, und seien es die Oberen, seien es die großen Institutionen, zu beurteilen. "Gemeinsam mit anderen ihresgleichen, denen sie Kompetenz unterstellen", schreibt Serres, "belehren uns die kleinen Däumlinge, die sich im Übrigen ihrer selbst nicht so sicher sind, mit ihrer diffusen Stimme darüber, dass jene Dinosaurier, die umso mehr Platz beanspruchen, als sie im Aussterben begriffen sind, die Emergenz neuer Kompetenzen ignorieren."
Es gibt nur eines, was diese kleine, optimistische Schrift des so unbekümmert jung wirkenden Philosophen doch alt wirken lässt: Sie wurde verfasst vor einer der größten Verunsicherungen des Netzes und seiner Benutzer, der Enthüllung der unglaublichen Überwachungsmaschine, mit der die digitalen Fingerabdrücke von Däumling und Däumelinchen gespeichert, abgeglichen, ausgewertet und vermarktet werden. Nur so kann Serres ohne jeden dunklen Schatten eine fünfte Gewalt zu den vertrauten vier treten sehen, jene der Daten.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
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