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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Zum Neunzigsten: Erzählungen von Wolfgang Kohlhaase
Wolfgang Kohlhaase ist der bedeutendste deutsche Drehbuchautor der Nachkriegszeit. Das ist kein Kompliment, sondern eine Feststellung. Niemand sonst hat über so lange Zeit an so vielen prägenden Filmen mitgearbeitet, zuerst im Kino der DDR, dann in dem des wiedervereinigten Deutschlands. Und doch fällt es schwer, die Elemente dieses Erfolgs genau zu benennen. Die Nähe zu den Menschen und ihrem Milieu, die Kohlhaase auszeichnet, gibt es auch bei Autoren wie Ulrich Plenzdorf oder Peter Steinbach, die souveräne Beherrschung des Handwerks gilt ebenso für Wolfgang Menge oder Günter Schütter. Vielleicht kommt man dem Genie des Wolfgang Kohlhaase am ehesten auf die Spur, wenn man die Form betrachtet, die er seinen Kinoerzählungen gibt.
In einem Podiumsgespräch der Friedrich-Ebert-Stiftung hat Kohlhaase vor ein paar Tagen geschildert, wie er aus Hermann Kants Roman "Der Aufenthalt", der Vorlage des gleichnamigen Spielfilms von 1982, "die Novelle herausgeholt" habe. Dabei musste er alles weglassen, was dem Handlungskern, der Untersuchungshaft von Kants Alter Ego in Warschau, vorausgeht oder folgt. Ebenso hat es Kohlhaase vor drei Jahren bei der Verfilmung von Eugen Ruges Familienroman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" gemacht. Zugleich hat er darauf verzichtet, das Geschehen dramatisch zuzuspitzen, wie es die Hollywood-Schule des Drehbuchschreibens verlangt. Man könnte Kohlhaases Kino geradezu als antidramatische Kunst bezeichnen, als Übersetzung des Novellistischen in Bilder. Statt die Charaktere allein durch ihre Aktionen zu zeichnen, gibt er ihnen Zeit, sich zu erklären.
Das verleiht den Dialogen, die er für Konrad Wolf, Frank Beyer und viele andere geschrieben hat, besonderes Gewicht. Und es gibt den Regisseuren wiederum Gelegenheit, den Schauplätzen, auf denen sich ihre Figuren bewegen, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Mit anderen Worten: Der Realismus, der im Kino oft nur eine hohle Floskel ist, steht am Anfang und am Ende von Kohlhaases Arbeit - jener Wirklichkeitssinn, den man nicht mit dem Nachstellen von Wirklichkeit verwechseln darf; auch die Schönhauser Allee, die in Andreas Dresens "Sommer vorm Balkon" nach Kohlhaases Skript gezeigt wird, sieht im Film ja anders aus als im "echten" heutigen Berlin.
Wie dieser Instinkt für das Reale funktioniert, wenn keine Filmkamera im Spiel ist, zeigt aufs schönste der Band "Erfindung einer Sprache", den der Wagenbach Verlag zu Wolfgang Kohlhaases neunzigstem Geburtstag am heutigen Samstag neu aufgelegt hat. Die drei kurzen und zehn längeren Erzählungen sind zuerst 1977 erschienen, zu einer Zeit, als Kohlhaase längst eine feste Adresse im Produktionssystem der Defa und durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Konrad Wolf vor politischen Eingriffen geschützt war. Drei der Geschichten wurden inzwischen verfilmt, zuletzt die Titelerzählung, deren Adaption "Persischstunden" vergangenes Jahr auf der Berlinale lief, aber auch das "Begräbnis einer Gräfin", dessen Schilderungen - "Brause steht früh um sechs auf, steigt in die Hosen, geht auf den Hof und holt sich von der Pumpe einen Eimer Wasser" - sich wie Szenenanweisungen lesen. "Inge, April und Mai" schließlich, die Story einer Jugendliebe in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstagen, hat Kohlhaase selbst 1992 verfilmt, mit mittlerem Aufwand und wenig Fortune. Nicht jeder große Autor ist ein großer Regisseur.
Im Mittelpunkt jeder der dreizehn Geschichten steht die von der Novelle erheischte "unerhörte Begebenheit". Ein Patient erwacht während der Operation; ein jüdisches Mädchen gebiert im Konzentrationslager ein Kind; der Zinksarg einer Gräfin wird geöffnet; ein Untermieter ersticht seine Wirtin; eine Ehefrau erschlägt ihren todkranken Mann. Manchmal, wie in "Inge, April und Mai", findet das Unerhörte ganz beiläufig statt, wie der Suizidversuch der Titelheldin; und manchmal liegt es, wie in "Nagel zum Sarg", weit in der Vergangenheit. Aber jedes Mal sind der Weg zu dem Ereignis hin und die Bewegung, die es auslöst, wichtiger als das Geschehen selbst. Ihre Reaktionen darauf geben den Figuren Kontur.
Das Mädchen, das sich aufhängen wollte, als die Rote Armee nach Berlin kam, ist plötzlich bereit, mit ihrem Freund zu schlafen, aber er ergreift die Chance nicht. Die Jüdin lässt das Kind, das einer Vergewaltigung entstammt, verhungern. Der Patient, der auf dem Operationstisch die Augen aufschlägt, geht, kaum genesen, auf Liebesabenteuer aus und erleidet das nächste Missgeschick. Im Rückblick auf sein filmisches Frühwerk hat Kohlhaase seine Überwältigung durch den italienischen Neorealismus geschildert. Der Einfluss der Italiener ist auch in diesen Erzählungen spürbar: Man denkt an Pavese, Gadda und Pirandello, dazu vielleicht an Faulkner und Hemingway. Woran man nicht denkt, ist der heroische Realismus russischer Prägung. Hier schreibt ein Sozialist mit westlichen Wurzeln.
Die einzige Geschichte, in der keine unerhörte Begebenheit vorkommt, ist zugleich die längste dieses Bandes. In "Silvester mit Balzac" flieht der Ich-Erzähler, ein Avatar des Autors, aus einer Lebens- und Liebeskrise nach Budapest, wo er in den Armen einer Übersetzerin zu sich selbst zu finden hofft. Wegen schlechten Wetters muss der Flug aus Schönefeld zweimal umdrehen. Aber auch nach seiner verspäteten Ankunft tappt der Erzähler weiter im Nebel ungelebter Augenblicke herum. Die Silvesterfeier in einer verwohnten Villa wird zum melancholischen Desaster. Die Gelegenheitsgeliebte, anfangs feurig, lässt ihn in seinem Schlafquartier allein. Aus Langeweile öffnet er einen Bücherschrank und findet zehn Bände Balzac, auf Ungarisch. Außer den Namen versteht er kein Wort. Dennoch liest er weiter und gerät ins Grübeln: "Welche Wege nahmen die Leidenschaften jetzt? So viele Tote unter unseren Füßen, so viel Feuerschein am Himmel ..."
Der Ton existentieller Ratlosigkeit, der hier anklingt, ist selten in der DDR-Literatur der siebziger Jahre; und vielleicht wäre Kohlhaase, wenn er ihn weiter verfeinert hätte, eine der wichtigsten schriftstellerischen Stimmen seines Landes geworden. Stattdessen blieb er der wichtigste deutsche Kinoautor. Dieser Band zeigt, was möglich gewesen wäre, wenn er sich anders entschieden hätte.
ANDREAS KILB
Wolfgang Kohlhaase:
"Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen".
Mit einem Nachwort von Andreas Dresen. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 208 S., br., 18,- [Euro].
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