In der Arbeitswelt Erfolg zu haben verlangt, sich rational und ehrgeizig zu verausgaben. Die Sinnfragen bleiben zu Hause, Eigensinn und Ideale schleifen sich ab. Die Industriegesellschaft kann Menschen zu charakterlosen Funktionären machen. Sie leiten dann mit derselben stummen Professionalität eine Schule oder eine »Investmentbank«, stellen ebenso fleißig und loyal Bücher oder Bomben her. Wie sind unsere Arbeitswelten entstanden – und wie funktionieren sie? Warum fasziniert, fesselt und verdummt uns der Ehrgeiz? Warum sollten wir uns gegen die Durchformung unseres Daseins durch die Karriere wehren? Und wie ermöglicht es das Philosophieren, sich eine eigene Lebensweise zu bewahren? Das sind die Fragen der Philosophie für die Arbeitswelt.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Auch wenn Aleida Assmann feststellt, dass in Michael Andricks moralischer "Philippika" gegen das neoliberale und für ein autonomes Subjekt die soziale Dimension des Seins etwas auf der Strecke bleibt, findet sie Andricks "Kampfrede" wichtig und gelungen durch eine jargonfreie Sprache, einen unter die Haut gehenden, persönlichen Ton und Andricks Ausgriffe in die kritische Theorie Hannah Arendts, Theodor W. Adornos und Siegfried Kracauers. Was den Menschen in die Anpassung und die Unfreiheit des Betriebs treibt und wie er sich daraus befreien kann (Lebensweg statt Karriereweg!), erfährt Assmann vom Autor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2022Das Elend des Ehrgeizes
Ein Philosoph über die Pathologie der Arbeitswelt
Ehrgeiz macht stumm auf der Karriereleiter, Erfolg lässt am Ende innerlich leer zurück. Wer in der Industriegesellschaft selbstbestimmt und moralisch überleben will, darf in seinem Beruf nicht einfach nur funktionieren. Er muss sich produktiv mit dem auseinandersetzen, was ihm begegnet, "muss das Philosophieren lernen". Das ist der Tenor von Michael Andricks Handreichung für die Arbeitswelt. Das Buch hat offenbar einen Nerv getroffen. Ein zerknüllter weißer Papierball auf dem Buchcover animiert zum Nachdenken, was dem ungewöhnlichen Titelwort auf 208 Seiten folgt. "Nachdenken" ist der Schlüsselbegriff in Andricks Philosophie. Nichts anderes brauche es philosophisch, sagt er, und das rätselhafte Bild stimmt auf seine Denkweise ein.
Andrick, studierter Philosoph und Historiker, im Brotberuf Manager und daneben Kolumnist für die Berliner Zeitung, ist überzeugt, dass die heutige Arbeitswelt das Gros der Werktätigen moralisch korrumpiert. Denn Erfolg zu haben und Karriere zu machen verlange, sich ehrgeizig unter Verzicht auf eigene Ideale und Lebenswünsche zu verausgaben. So forme die Industriegesellschaft Menschen zu willfährigen, charakterlosen Funktionären, die mit derselben stummen Professionalität Schulen und Investmentbanken leiteten wie sie Brot, Bücher und Bomben herstellten.
Andricks Philosophie für die Arbeitswelt mit Verweisen auf Spinoza, Kant, Wittgenstein, Marcuse und andere Größen scheut nicht deutliche Worte und polemische Zuspitzung. Sie liest sich dabei mit Gewinn und Amüsement auch als scharfsinnige, kulturkritische Gegenwartsanalyse mit verhaltensökonomischen Aspekten. Immer wieder begeistern dabei einfallsreiche Wortfindungen des Verfassers, der 2022 den Jürgen-Moll-Preis für verständliche Sprache in der Wissenschaft bekommen hat.
In acht formulierungsstarken Kapiteln geht Andrick in "Erfolgsleere" der Frage nach, wie die Industriegesellschaft die soziale Schmiere des Konformismus unter ihren Mitgliedern auf dem Weg nach oben erreicht und was dem Einzelnen zur Gegenwehr bleibt, wenn er nicht als Funktionär moralisch untergehen, sondern persönliche Vorstellungen bewahren will. Andricks Anfangskapitel befassen sich mit der "lebenspraktischen Bedeutung der Philosophie als Handwerk des Lebens". Philosophieren sei keine abgehobene Expertentätigkeit, sondern natürliches Tun des Menschen, sagt er. Das Leben sieht er als Arbeit an uns selbst an, die Philosophie als Suche nach dem richtigen Weg dieser Selbstarbeit. Im vierten Kapitel zeigt er, wie die Logik von Status und Ansehen, die in Industriegesellschaften Verhalten strukturiert, historisch entstanden ist. Interessant ist dort seine Analogie zum Marktgeschehen und der Preistheorie von Adam Smith.
In der zweiten Buchhälfte geht es um unterschiedliche Effekte heutigen Lebens in der Arbeitswelt. Andrick beschreibt, wie dort "eine Pseudomoral professionellen Ehrgeizes und Erfolgs" kultiviert, individuelles Dasein abgeschliffen und Menschen sukzessiv in Funktionäre umgewandelt werden. Am Ende steht die Frage nach einem Ausweg für den Einzelnen aus dieser Lage.
Seine Diagnose von der Pathologie heutiger Arbeitswelt macht Andrick in kritischer bis bitterböser Betrachtung an Vokabeln wie Professionalität, Karriere, Erfolg und Ehrgeiz fest. Der Professionalität etwa attestiert er den Beigeschmack von "Falschheit und menschlichem Ungenügen". Sie sei "das genaue Gegenteil jeder Tugend", darauf angelegt, "dass der Betriebszweck nicht unter unserer Menschlichkeit zu leiden hat". Karriere nennt er "einen zweckmäßig angelegten Hindernisparcours" und "ein Biotop, das Menschen Halt, Regelmäßigkeit, Richtung, Belohnung und Anerkennung bietet zum Preis eifriger Anpassung". Erfolg gilt dem Autor als "das moderne Erlösungsversprechen" der Industriegesellschaft, das moralisches Handeln ersetzt. Ehrgeiz schließlich, diese "Stammtugend der Industriegesellschaft", sieht er als "Krankheitsbild im Zentrum der Kultur unserer Gegenwart". Er hält Ehrgeiz nicht nur für den "Ausdruck der Aufgabe moralischer Reflexion", sondern für "pseudomoralischen Wahnsinn".
Als Fazit betont Andrick noch einmal seine Kernüberzeugung: "Für den Betrieb der Gesellschaft und die Bedienung der Herrschenden mit Leib und Seele Funktionär zu werden, ist Verrat an mir selbst. Das selbst gestaltete Leben ist der Sinn der Welt." Konkreter mag er nicht werden, denn: "Es gibt in der philosophischen Tradition keine allgemein tauglichen Lehren, was wir mit unserem Leben anfangen sollen."
Auch seine private Philosophie, die Lehre über die Erfolgsleere, hält keinen festen Satz von Empfehlungen bereit, wie wir uns das Leben einrichten sollen. Er ist überzeugt: "Jeder Ausweg aus der Erfolgsleere ist ein persönlicher. Ob man zu einer zufriedenen Lebensführung gelangen kann, hängt stark davon ab, wie man sich seine individuellen Lebensumstände vorstellt." Andrick ermutigt, für eigene Ideale zu kämpfen und sich dabei immer wieder zu fragen, "ob wir bereits der Mensch sind, der wir für uns selbst und andere sein wollen". Das scheint heute vor allem für Jüngere keine ganz fremde Denkweise. Eine wachsende Zahl von ihnen möchte sich nicht mehr über ihre Arbeit allein definieren. Nicht alle engagieren sich dabei für Umwelt, Nachhaltigkeit oder Menschenrechte, viele aber streben schon nach Work-Life-Balance, indem sie auch Freizeit und flexible Arbeitszeiten zum Auswahlkriterium bei der Stellensuche machen. In dieser Stimmungslage könnte Andricks Buch auch weiterhin offene Türen einrennen. ULLA FÖLSING
Michael Andrick: Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt. Herder-Verlag, Freiburg 2022, 208 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Philosoph über die Pathologie der Arbeitswelt
Ehrgeiz macht stumm auf der Karriereleiter, Erfolg lässt am Ende innerlich leer zurück. Wer in der Industriegesellschaft selbstbestimmt und moralisch überleben will, darf in seinem Beruf nicht einfach nur funktionieren. Er muss sich produktiv mit dem auseinandersetzen, was ihm begegnet, "muss das Philosophieren lernen". Das ist der Tenor von Michael Andricks Handreichung für die Arbeitswelt. Das Buch hat offenbar einen Nerv getroffen. Ein zerknüllter weißer Papierball auf dem Buchcover animiert zum Nachdenken, was dem ungewöhnlichen Titelwort auf 208 Seiten folgt. "Nachdenken" ist der Schlüsselbegriff in Andricks Philosophie. Nichts anderes brauche es philosophisch, sagt er, und das rätselhafte Bild stimmt auf seine Denkweise ein.
Andrick, studierter Philosoph und Historiker, im Brotberuf Manager und daneben Kolumnist für die Berliner Zeitung, ist überzeugt, dass die heutige Arbeitswelt das Gros der Werktätigen moralisch korrumpiert. Denn Erfolg zu haben und Karriere zu machen verlange, sich ehrgeizig unter Verzicht auf eigene Ideale und Lebenswünsche zu verausgaben. So forme die Industriegesellschaft Menschen zu willfährigen, charakterlosen Funktionären, die mit derselben stummen Professionalität Schulen und Investmentbanken leiteten wie sie Brot, Bücher und Bomben herstellten.
Andricks Philosophie für die Arbeitswelt mit Verweisen auf Spinoza, Kant, Wittgenstein, Marcuse und andere Größen scheut nicht deutliche Worte und polemische Zuspitzung. Sie liest sich dabei mit Gewinn und Amüsement auch als scharfsinnige, kulturkritische Gegenwartsanalyse mit verhaltensökonomischen Aspekten. Immer wieder begeistern dabei einfallsreiche Wortfindungen des Verfassers, der 2022 den Jürgen-Moll-Preis für verständliche Sprache in der Wissenschaft bekommen hat.
In acht formulierungsstarken Kapiteln geht Andrick in "Erfolgsleere" der Frage nach, wie die Industriegesellschaft die soziale Schmiere des Konformismus unter ihren Mitgliedern auf dem Weg nach oben erreicht und was dem Einzelnen zur Gegenwehr bleibt, wenn er nicht als Funktionär moralisch untergehen, sondern persönliche Vorstellungen bewahren will. Andricks Anfangskapitel befassen sich mit der "lebenspraktischen Bedeutung der Philosophie als Handwerk des Lebens". Philosophieren sei keine abgehobene Expertentätigkeit, sondern natürliches Tun des Menschen, sagt er. Das Leben sieht er als Arbeit an uns selbst an, die Philosophie als Suche nach dem richtigen Weg dieser Selbstarbeit. Im vierten Kapitel zeigt er, wie die Logik von Status und Ansehen, die in Industriegesellschaften Verhalten strukturiert, historisch entstanden ist. Interessant ist dort seine Analogie zum Marktgeschehen und der Preistheorie von Adam Smith.
In der zweiten Buchhälfte geht es um unterschiedliche Effekte heutigen Lebens in der Arbeitswelt. Andrick beschreibt, wie dort "eine Pseudomoral professionellen Ehrgeizes und Erfolgs" kultiviert, individuelles Dasein abgeschliffen und Menschen sukzessiv in Funktionäre umgewandelt werden. Am Ende steht die Frage nach einem Ausweg für den Einzelnen aus dieser Lage.
Seine Diagnose von der Pathologie heutiger Arbeitswelt macht Andrick in kritischer bis bitterböser Betrachtung an Vokabeln wie Professionalität, Karriere, Erfolg und Ehrgeiz fest. Der Professionalität etwa attestiert er den Beigeschmack von "Falschheit und menschlichem Ungenügen". Sie sei "das genaue Gegenteil jeder Tugend", darauf angelegt, "dass der Betriebszweck nicht unter unserer Menschlichkeit zu leiden hat". Karriere nennt er "einen zweckmäßig angelegten Hindernisparcours" und "ein Biotop, das Menschen Halt, Regelmäßigkeit, Richtung, Belohnung und Anerkennung bietet zum Preis eifriger Anpassung". Erfolg gilt dem Autor als "das moderne Erlösungsversprechen" der Industriegesellschaft, das moralisches Handeln ersetzt. Ehrgeiz schließlich, diese "Stammtugend der Industriegesellschaft", sieht er als "Krankheitsbild im Zentrum der Kultur unserer Gegenwart". Er hält Ehrgeiz nicht nur für den "Ausdruck der Aufgabe moralischer Reflexion", sondern für "pseudomoralischen Wahnsinn".
Als Fazit betont Andrick noch einmal seine Kernüberzeugung: "Für den Betrieb der Gesellschaft und die Bedienung der Herrschenden mit Leib und Seele Funktionär zu werden, ist Verrat an mir selbst. Das selbst gestaltete Leben ist der Sinn der Welt." Konkreter mag er nicht werden, denn: "Es gibt in der philosophischen Tradition keine allgemein tauglichen Lehren, was wir mit unserem Leben anfangen sollen."
Auch seine private Philosophie, die Lehre über die Erfolgsleere, hält keinen festen Satz von Empfehlungen bereit, wie wir uns das Leben einrichten sollen. Er ist überzeugt: "Jeder Ausweg aus der Erfolgsleere ist ein persönlicher. Ob man zu einer zufriedenen Lebensführung gelangen kann, hängt stark davon ab, wie man sich seine individuellen Lebensumstände vorstellt." Andrick ermutigt, für eigene Ideale zu kämpfen und sich dabei immer wieder zu fragen, "ob wir bereits der Mensch sind, der wir für uns selbst und andere sein wollen". Das scheint heute vor allem für Jüngere keine ganz fremde Denkweise. Eine wachsende Zahl von ihnen möchte sich nicht mehr über ihre Arbeit allein definieren. Nicht alle engagieren sich dabei für Umwelt, Nachhaltigkeit oder Menschenrechte, viele aber streben schon nach Work-Life-Balance, indem sie auch Freizeit und flexible Arbeitszeiten zum Auswahlkriterium bei der Stellensuche machen. In dieser Stimmungslage könnte Andricks Buch auch weiterhin offene Türen einrennen. ULLA FÖLSING
Michael Andrick: Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt. Herder-Verlag, Freiburg 2022, 208 Seiten, 20 Euro.
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Von diesem wuchtigen Text können alle etwas lernen. 'Erfolgsleere' macht im Sinne des Wortes nachdenklich. Fred Luks Der Standard 20230117