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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Im Ausland ein Star, ein Außenseiter in dem Land, in dessen Sprache er schrieb: Jetzt erscheinen postum Aleksander Tismas Memoiren auch auf Deutsch.
Ein älterer Herr wartet am Straßenrand auf ein Taxi, neben ihm zwei Koffer und ein Vogelkäfig. Darin ein Distelfink, braun mit rotem Schnabel. Der Herr ist auf der Flucht. Er hat sich wieder einmal mit seiner Frau gestritten. Nun zieht er zu seiner Mutter, wie nach jedem Streit. Die lebt in einem Pflegeheim, wo man das Spiel schon kennt. "Wenn ich ab und zu Sonja verließ und zu Mama zog, nahm ich den Vogel mit, weil sich Sonja, obwohl sie ihn liebte, davor ekelte, den Käfig sauber zu machen, und ihn auch sonst, zum Beispiel beim Füttern, nicht berühren mochte", schreibt der ältere Herr. "Wenn ich wieder zu meiner Frau zog, brachte ich auf dieselbe Weise den Vogel zurück. Und beim nächsten Mal wieder zu Mama." Wohnt der ältere Herr im Pflegeheim bei der Mutter, kommt er manchmal zum Mittagessen nach Hause, und dann kann es vorkommen, dass er sich wieder verträgt mit seiner Frau. "Beeindruckt von dieser Harmonie, zog ich manchmal nach längerer Abwesenheit wieder zu ihr." Doch meist heißt es schon bald wieder: Koffer, Vogel, Taxi.
Diese zwischen Komik und Tristesse changierenden Szenen finden sich in "Erinnere dich ewig", dem als Autobiographie firmierenden letzten Buch des serbischen Schriftstellers Aleksander Tisma. Gut zwei Jahrzehnte nach der serbischen Erstveröffentlichung liegt es nun in der souveränen Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann auf Deutsch vor - womöglich gerade noch rechtzeitig, um einen großen Stern vor dem Verglühen zu bewahren.
Denn Tisma ist auf dem Weg, in Vergessenheit zu geraten. Seine große Zeit im deutschen Sprachraum war die der neunziger Jahre, was nicht zuletzt der Vermittlung des "Literarischen Quartetts" zu verdanken war. Das befasste sich zwischen 1993 und 1999 viermal mit Werken des Dichters aus Novi Sad, und stets gab es Lob. Selbst Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler, sonst selten einer Meinung, stimmten überein, dass Tisma ein großer europäischer Schriftsteller sei.
Aus den Hymnen des deutschsprachigen Feuilletons hat sich hierzulande die Ansicht entwickelt, Tisma sei der führende Repräsentant der serbischen Literatur seiner Zeit. In Jugoslawien respektive Serbien war er zu Lebzeiten allerdings weit von diesem Status entfernt und ist auch nach seinem Tod nicht bekannter geworden. Viele seiner Werke erreichten im Original nur bescheidene Auflagen. Das sagt nichts über die Qualität von Tismas Prosa, aber vielleicht erklärt sich daraus die um die öffentliche Meinung vollkommen unbekümmerte Rücksichtslosigkeit, mit der Tisma in seinem letzten Werk von sich erzählt. Denn da erzählt einer, der trotz seines großen Erfolgs im Ausland ein Außenseiter blieb in dem Land, das die Sprache spricht, in der er schrieb.
Ein Leitmotiv dieser Memoiren, die im Mai 1992 abgeschlossen, aber erst acht Jahre später veröffentlicht wurden, ist Tismas Interesse an Prostituierten. Es taucht bereits in seinen Tagebüchern auf, in denen er als junger Mann festhält, wie wichtig es ihm für die sexuelle Erfüllung sei, eine Frau als Objekt sehen zu können, "eine Sache, die es duldet, dass wir sie zu unserem Vergnügen nehmen und benutzen". Hat eine Frau selbst Spaß am Sex, nimmt ihm das die Lust. "Eine Prostituierte jedoch, die ich kaufe, ist tatsächlich nur ein Gegenstand, an dem ich meine Leidenschaft verwirkliche - also die ideale Frau." Vor allem, wenn Furcht hinzukomme, wie er 1943 festhält: "Ich gebe mich bei den Straßenmädchen als Detektiv aus, weide mich an ihrer Angst und drücke dann ein Auge zu, damit sie mir zu Willen sind." Was in den Tagebüchern die Phantasien oder Untaten eines Jünglings sind, bestätigt der arrivierte Autor der Memoiren fast ein halbes Jahrhundert später, als er die Zeit des Zweiten Weltkrieges im Rückblick mit den Jahren seines erwachenden sexuellen Interesses und der Entdeckung verbindet, "dass es in den Kneipen von Novi Sad überall junge Frauen gab, zu denen man für Geld ins Bett steigen und sich auf männlich dominante Art befriedigen konnte". Als er später nach Budapest zieht, stürzt er sich "wie ein Goldgieriger zwischen Kisten voller geraubter und nicht mehr gehüteter Schätze" auf die vielen käuflichen Frauen der Stadt, "ein enormer Reichtum, eine riesige Erweiterung der Jagdgründe im Vergleich zu den wenigen Kaffeehäusern und Puffs von Novi Sad, die ich bislang besucht hatte". Im Unterschied zu Novi Sad habe Budapest nämlich "eine Fülle von Körpern" geboten, "die man frei auf der Straße kaufen konnte".
Tismas eigentlicher Lebensinhalt ist aber der Wunsch, gute Literatur zu schreiben. Als Jugoslawien im März 1941 vor der Wahl steht, entweder einen Pakt mit Hitlers Deutschland einzugehen oder von der Wehrmacht zermalmt zu werden, wählen die Serben den Widerstand: Lieber Krieg als Pakt, lieber im Grabe als Sklave, lauten die Parolen, woraufhin Hitler wutentbrannt den Überfall auf Jugoslawien befiehlt. Tisma, der orthodox getaufte Sohn einer jüdischen Mutter und eines serbischen Vaters, hätte als junger Mann lieber mit Hitlers Regime paktiert, statt sich dagegen zu erheben, schreibt er in seinen Erinnerungen: "Ich stand nicht vor diesem Dilemma, ich stellte mir zu jener Zeit die Frage, welches Buch ich lesen sollte, welche Anregung ich darin finden könnte, Schriftsteller zu werden, denn mit siebzehn Jahren war bei mir dieser Ehrgeiz schon voll entwickelt."
Hätte man ihn gezwungen, eine ehrliche Antwort zu geben, wäre seine Wahl 1941 eindeutig ausgefallen, mutmaßt Tisma: "Ich hätte mich für den Pakt und nicht für den Krieg, für die Sklaverei und nicht für das Grab entschieden. Denn ich war anders, mich zwang keine nationale Zugehörigkeit oder, sagen wir, kein nationales Bewusstsein zum Verzicht auf den egoistischen Wunsch zu leben und mich als eine unabhängige Persönlichkeit zu verwirklichen." Wer das liest, versteht auch, warum Tisma in seiner Heimat nie zu einem Poeta laureatus wurde wie etwa Ivo Andric. Solche Sätze schreibt man nicht ungestraft.
Hin und wieder geht die Egozentrik von Tismas Ansichten auch in kruden Unsinn über, etwa wenn er über die kommunistische Gefängnisinsel Goli Otok schreibt, man habe dort von den Sträflingen verlangt, "jene Meinung zu revidieren, wegen der sie bestraft worden waren", um dazu festzustellen, "so etwas verlangte nicht einmal die SS von Juden". Da hätte man den Autor schon fragen wollen, welche "Meinung" es wohl gewesen sein mag, für die Juden nach Auschwitz kamen. Über den Zerfall Jugoslawiens finden sich einige Feststellungen ähnlicher Qualität in dem Buch.
Doch obwohl Aleksandar Tisma wie schon in seinen Tagebüchern auch in seiner Autobiographie oft alles andere als sympathisch wirkt, gibt es berührende Passagen in diesem Buch. Jene vor allem, in denen der Autor ineinander verwoben zwei Tode beschreibt: den seiner Mutter und den Jugoslawiens. Während sich Tisma im Pflegeheim um seine demente Mutter kümmert, sie füttert und wäscht, ihr die Hände hält und mit ihr redet, erlischt auch der Staat, in dem beide leben: "Meine Mama war hierhergekommen wegen des beginnenden Verfalls ihrer Persönlichkeit, so wie die Armee wegen des Verfalls des Staates dahin gekommen war, dass sie vor laufenden Fernsehkameras kroatische Städte in Schutt und Asche legte." Tisma verfolgt die Ereignisse auf dem Fernseher des Speiseraums der Pflegestation. "Am Mittag, während ich Mama fütterte, gab es Nachrichten", notiert er und berichtet von Bildern aus Kroatien: zerstörte Häuser, eingestürzte Kirchtürme, Leichen in den Straßen. "Jugoslawien ging unter, Jugoslawien brach dort auseinander, vor meinen Augen, während ich einen Löffel Suppe in den welken, zahnlosen Mund meiner Mama schob, um sie am Leben zu erhalten. Ihr Leben wurde jedoch immer weniger, wie auch das Leben Jugoslawiens auf dem Fernsehschirm."
Die Mutter bekommt davon allerdings kaum noch etwas mit und staunt manchmal über den Fremden, der ihr Sohn zu sein behauptet: "Wieso sind wir beide zusammen?", fragt sie. Die Antwort: "Weil du meine Mutter bist und ich dein Sohn bin", überzeugt offenbar nicht. "Ich deine Mutter? Wie bin ich denn deine Mutter geworden?" Zum Glück ist da noch Zora, eine Nachbarin aus dem Pflegeheim, die sich als Vierjährige ein Bein gebrochen hat, das nie mehr richtig verheilte. Unverheiratet geblieben, war sie schon mit etwa sechzig Jahren ins Heim gegangen. Dort half sie Tisma gegen geringe Bezahlung bei der Betreuung der Mutter: "So lebten wir beinahe zu dritt. Eine alte Frau, ein Schriftsteller, der nicht mehr schrieb, und eine hinkende alte Jungfer."
Ob sich das alles wirklich so abgespielt hat, weiß man bei zu Memoiren deklarierter Prosa natürlich nie und bei Tisma schon gar nicht. War er wirklich der liebende Sohn, oder hat er diese Rolle erfunden für ein letztes Prosawerk? Hat der erloschene schriftstellerische Ehrgeiz es ihm im Alter ermöglicht, seinen Nächsten, oder zumindest der Mutter, jene Liebe zu schenken, die er in vitaleren Zeiten für sich behielt, da ihm Schreiben und Prostituierte wichtiger waren? Olga Müller, Tismas Mutter, starb am 17. November 1991, drei Tage vor dem endgültigen Fall der donauaufwärts von Novi Sad gelegenen Stadt Vukovar, die längst in Schutt und Asche lag. Ihr Sohn folgte kaum zwölf Jahre später. Tismas Beerdigung im Februar 2003 fand an einem sonnigen Wintertag bei minus sieben Grad statt. Etwa hundert Menschen folgten dem Sarg. Der deutsche Botschafter hatte ein Beileidstelegramm geschickt, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels einen Kranz. Von der serbischen Regierung ließ sich niemand blicken. Ein Redner behauptete, Tisma sei ein Kämpfer für die Menschenrechte gewesen, obwohl alle Anwesenden wussten, dass das gelogen war. Es war eine Beerdigung wie geschaffen für eine Erzählung von Tisma. Mit dessen großer Prosa, mit Romanen wie "Das Buch Blam" oder "Der Gebrauch des Menschen", kann "Erinnere dich ewig" nicht mithalten. Doch wenn die Veröffentlichung dieses letzten Werks dazu führen sollte, wieder mehr Interesse für Tismas Werk zu wecken, hätte es seinen Zweck allemal erfüllt.
MICHAEL MARTENS.
Aleksandar Tisma, "Erinnere Dich ewig: Autobiographie". Übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling, 312 Seiten, 24 Euro.
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