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So bitte nicht: Der neue Roman von Gabriel García Márquez
Der große kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez hat nach zehn Jahren Pause einen neuen, heiß erwarteten Roman über sein ewiges Thema, die Liebe, geschrieben. Aber eigentlich sind es zwei Romane - zumindest sind zwei sehr unterschiedliche Lesarten möglich. Der erste Roman erzählt diese Geschichte: Ein alter, einsamer Mann wünscht sich zu seinem neunzigsten Geburtstag noch einmal eine Liebesnacht mit einem jungen Mädchen. Er hat sein Leben lang immer für Sexualität bezahlt, damit kennt er sich aus, nicht aber mit der Liebe. Als ihm nun eine Bordellbesitzerin das gewünschte junge Mädchen besorgt, findet er es schlafend vor: müde von der Arbeit für Mutter und Geschwister zu Hause, erschöpft von der Arbeit in der Fabrik. Der Alte betrachtet die schlafende Schöne, legt sich neben sie, erzählt ihr Geschichten. Das geht ein paar Nächte so, er bringt Geschenke, sie schläft. Er spielt Musik, sie schläft. Er fühlt zum erstenmal nicht (nur) Begierde, sondern eine große Zärtlichkeit einer Frau gegenüber. Und er ist leicht, glücklich, am Ende verliert er seine angebetete Delgadina zwar aus den Augen, aber sie ist um ihn, sie hat ihn verändert. Er hat keine Angst mehr vor dem Sterben, er hat die Liebe noch kennengelernt. Und wir lernen, daß das Alter nur außen, aber nie innen ist: "Innerlich spürt man es nicht, aber von außen sieht es alle Welt." Was für eine schöne Geschichte - und wie gekonnt aufgebaut, mit wieviel psychologischen und sprachlichen Feinheiten von einem grandiosen Nobelpreisträger erzählt.
Aber man kann die Geschichte auch so lesen: Ein lüsterner Alter, sein Leben lang Bordellgeher, will zu seinem neunzigsten Geburtstag eine Jungfrau haben. Die Bordellbesitzerin hat nur "Gebrauchtware", verspricht aber, sich umzuhören, und findet und liefert eine stark unterernährte Vierzehnjährige. Die wird gewaschen, parfümiert, rasiert, nackt und "verfügbar" auf ein Bett gelegt. "Vögele sie bis zu den Ohren mit diesem erstaunlichen Eselsschwanz", rät die Puffmutter, die minderjährige Mädchen jahrzehntelang anlernte und auspreßte, bis sie "diplomierte Huren"geworden waren. Der Alte kommt, versucht, mit dem Knie zwischen ihre Beine zu dringen, preßt sich nackt an sie, bedeckt ihren ganzen Körper mit Küssen. Sie schläft.
Er kommt jede Nacht, erinnert sich an Hunderte von Frauen, die er schon bestiegen hat, zum Beispiel seine nun auch alte Haushälterin Damiana - als sie sich einmal beim Wäschewaschen bückte, "streifte (ich) den Schlüpfer bis zu den Waden herunter und rammte sie verkehrt herum". Ihr gefiel das nicht, aber ihm, und so kam es, daß er über die nächsten zwanzig Jahre "einen monatlichen Ritt einkalkulierte, immer beim Wäschewaschen und immer verkehrt herum". Jahre später klagt Damiana, sie sei immer noch Jungfrau. Ihn interessiert das nicht. Er denkt an "grünäugige kleine Schlampen", bei denen er sich "zu erleichtern suchte", er sieht junge radfahrende Mädchen, "wie Rehe, schön und verfügbar, bereit, mir vor die Flinte zu laufen", und er schreit seine schlafende Schöne an: "Du Hure!", als er sie mit Goldkettchen vorfindet, die nicht von ihm stammen. Eine Frau, die mit jemand anderem schläft, ist also eine Hure, wenn man sie selbst benutzt, ist sie rein.
Der Autor will uns suggerieren, daß der geile Alte Liebe empfindet. Liebe für ein Mädchen, das sich aus Angst vor seiner Vergewaltigung (ihre Freundin ist bei einem ähnlichen Geschäft innerhalb von nur zwei Stunden verblutet) Nacht für Nacht schlafend stellt. Dieser Roman ist an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten und gehört in die Reihe der Altherrenphantasien von Nabokovs "Lolita" über Philip Roths "Das sterbende Tier" und den gräßlichen "Brasilien"-Roman des sonst so wunderbaren John Updike bis zu Charles Simmons' "Das Venus-Spiel", Martin Walsers "Der Augenblick der Liebe" oder Louis Begleys "Schiffbruch". Große alte Männer der Literatur, bewundernswerte Geschichtenerzähler lassen im Alter plötzlich noch mal - ja: die Sau raus und beschreiben, wovon sie heimlich unter der Bettdecke träumen. Immer geht es dabei um strammes junges Fleisch, und immer denkt man beim Lesen: Großer Gott, so genau hab' ich es doch gar nicht wissen wollen. Hier wird Liebe verwechselt mit Begierde, und die Begierde zielt immer auf Frischfleisch. Natürlich darf die Literatur alles. Natürlich darf García Márquez alles. Aber wir regen uns auf über Kinderpornographie und preisen gleichzeitig diesen Roman, den die Kritik mit Elogen wie "Eine virtuose Feier der Liebe und somit des Lebens" oder "Eine geheimnisvolle Poesie liegt über der Handlung" oder "Hohes Lied auf die Enthaltsamkeit" feiert, die Lüsternheit eines Greises mit prächtigem "Eselsschwanz" nach einem unterernährten vierzehnjährigen Mädchen, das er mit seinen Küssen vollsabbert, als große Literatur. Ich halte das auch dann, wenn man es als lateinamerikanisches Machogehabe abtut, immer noch für eine höchst verlogene Angelegenheit.
Gabriel García Márquez: "Erinnerung an meine traurigen Huren". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 160 S., geb., 16,90 [Euro].
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El País
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