Nobelpreis für Literatur 2022
Mit schonungsloser Genauigkeit erzählt Annie Ernaux von ihrer ersten sexuellen Begegnung – von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. Von einer Wunde, die niemals ausgeheilt ist. Und vom teuer bezahlten Erkennen des eigenen Werts.
Sommer 1958: Annie Duchesne wird 18 Jahre alt. Sie arbeitet als Betreuerin in einer Ferienkolonie. Sie findet in eine Clique, zusammen feiern sie Feten, genießen ihre Jugend. Und Annie ist in H. verliebt, mit ihm hat sie ihr erstes Mal. Eine Nacht, die einen anhaltenden Schock bedeutet. Auch weil H. sie fortan ignoriert, weiß sie nicht, wohin mit sich und lässt sich auf andere ein. Schnell ist sie verfemt. Was folgt, sind Ausgrenzung, der Hohn der anderen, ihre eigene Scham.
Und Schweigen. Denn über 55 Jahre braucht Annie Ernaux, um sich dieser »Erinnerung der Scham« stellen zu können. »Annie Ernaux gelingt es ganz hervorragend, in ihrem Roman noch einmal zu der innerlich zerrissenen, verliebten, magersüchtigen, ehrgeizigen jungen Frau zu werden, die sie war, als alles in ihr ins Wanken geriet.« Iris Radisch, Die Zeit
Mit schonungsloser Genauigkeit erzählt Annie Ernaux von ihrer ersten sexuellen Begegnung – von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. Von einer Wunde, die niemals ausgeheilt ist. Und vom teuer bezahlten Erkennen des eigenen Werts.
Sommer 1958: Annie Duchesne wird 18 Jahre alt. Sie arbeitet als Betreuerin in einer Ferienkolonie. Sie findet in eine Clique, zusammen feiern sie Feten, genießen ihre Jugend. Und Annie ist in H. verliebt, mit ihm hat sie ihr erstes Mal. Eine Nacht, die einen anhaltenden Schock bedeutet. Auch weil H. sie fortan ignoriert, weiß sie nicht, wohin mit sich und lässt sich auf andere ein. Schnell ist sie verfemt. Was folgt, sind Ausgrenzung, der Hohn der anderen, ihre eigene Scham.
Und Schweigen. Denn über 55 Jahre braucht Annie Ernaux, um sich dieser »Erinnerung der Scham« stellen zu können. »Annie Ernaux gelingt es ganz hervorragend, in ihrem Roman noch einmal zu der innerlich zerrissenen, verliebten, magersüchtigen, ehrgeizigen jungen Frau zu werden, die sie war, als alles in ihr ins Wanken geriet.« Iris Radisch, Die Zeit
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2018Wie wir Liebe erfinden
In "Erinnerung eines Mädchens" kehrt Annie Ernaux zurück zu einem alles verändernden Erlebnis in der Ferienkolonie
Auf den Straßen von Paris fliegen die Pflastersteine, wer in Frankreich Anfang zwanzig ist, ist auf der Straße im Mai 1968. Die Protagonisten aus Annie Ernaux' autobiographischem Roman "Die Jahre", der letztes Jahr in Deutschland und bereits 2008 in Frankreich erschienen ist, sind jedoch weder Anfang zwanzig, noch leben sie in Paris. Obwohl sie die Revolten unterstützen und von ihnen profitieren, sind sie nicht Teil von ihnen. Sie studieren und rebellieren nicht, sie wohnen in der Provinz und haben "Angst, dass es bald kein Benzin und vor allem keine Lebensmittel mehr geben würde".
Fünfzig Jahre später, im Dezember 2018, zeigt sich die Aktualität dieser Szene. Genau die Menschen, die Annie Ernaux vor zehn Jahren beschrieb, sind aus allen Gegenden Frankreichs nach Paris gekommen und protestieren, ausgerechnet, gegen erhöhte Benzinpreise. Ernaux, die ihre politische Meinung auch in ihren Texten nie versteckt hat, äußerte in den vergangenen Wochen in verschiedenen Interviews ihr Verständnis für die Gelbwesten. In der französischen Tageszeitung "Libération" rief sie mit anderen Intellektuellen dazu auf, sich im Kampf für mehr Gleichheit zusammenzuschließen.
Das Besondere an Annie Ernaux' Schreiben, der Grund, warum sie jüngere französische Schriftsteller wie Didier Eribon als ihr Vorbild bezeichnen, ist genau dieses politische Engagement. Ihre eigene Biographie, zu der sie in ihrem Schreiben immer wieder zurückkehrt, dient nur als Ausgangspunkt, um sich dann genau den politischen Strukturen zu widmen, die diese Biographie geprägt haben: sozialen Ungleichheiten und der Rolle der Frau. Aus dieser Perspektive heraus untersuchte Ernaux, die inzwischen achtundsiebzig Jahre alt ist, die verschiedensten Aspekte ihres Lebens: den Tod ihrer Eltern und Schwester, ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen und die damit verbundene Scham. Dass ihre Beobachtungen häufig sehr genau und treffend waren, merkte man auch daran, dass Themen, die später im gesellschaftlichen Diskurs auftauchten, in ihren Büchern schon längst angesprochen worden waren.
Genauso geschah es mit ihrem neuesten Buch, "Erinnerung eines Mädchens", das (wahrscheinlich glücklicherweise) in Frankreich ein Jahr vor der #MeToo-Debatte erschien. Der Roman geht weit zurück in Ernaux' Jugend zu einem Erlebnis, das sie über die nächsten fünfzig Jahre begleiten wird. Es ist eine "unbeschreibliche Leerstelle", die unbedingt noch gefüllt werden müsse. Mit achtzehn Jahren, das erste Mal weg von zu Hause, arbeitet die Protagonistin Annie als Betreuerin in einem Ferienlager und macht dort ihre erste sexuelle Erfahrung. Es ist, wie man ahnen kann, keine glückliche.
In einem Interview bestritt Annie Ernaux, dass es so etwas wie weibliches Schreiben gebe. Aber das Leben der Frauen habe sich nun einmal für eine sehr lange Zeit deutlich vom Leben der Männer unterschieden, was einen Einfluss auf ihre Wahrnehmung der Welt und somit auf ihr Schreiben gehabt habe: Solange diese Erfahrungen so signifikant verschieden seien, so Ernaux, sei es das Schreiben genauso. Genau diese Haltung prägte "Die Jahre", einen Text, der kein weibliches Buch war, aber eine weibliche Perspektive zeigte, was auch deshalb interessant war, weil sie vollkommen anders war als die der Männer. Dass die sexuelle Revolution für Frauen sehr viel mehr bedeutete als für Männer, wurde hier bereits deutlich: Ernaux beschrieb den weiblichen Konflikt zwischen gesellschaftlich verlangter Unschuld und Freiheitsdrang, ein nahezu erstickendes Klima, das in den fünfziger und frühen sechziger Jahren herrschte und so oft zu Geheimhaltung und Scham führte. Diese Scham, die "weibliche Scham", wie Ernaux sie nennt, rückt in "Erinnerung eines Mädchens" in den Mittelpunkt.
Es ist ein ganz anderer und viel persönlicherer Text dabei entstanden als "Die Jahre", was auch an seiner Form liegt: Ernaux erzählt hier nicht nur in der dritten, sondern auch in der ersten Person, sie wechselt die Perspektive, um ihre Erlebnisse aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die #MeToo-Debatte, die dem Erscheinen des Romans zufälligerweise folgte, zeigte deutlich, dass die individuelle Erfahrung und das Leid, das mit sexuellen Übergriffen einhergeht, sich in einen größeren Kontext einbetten. Es waren keine Einzelfälle, die hier beschrieben wurden, die schiere Masse an Berichten legte offen, welche Probleme und Machtstrukturen großen Teilen unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Doch was die Kraft der Bewegung ausmachte, war auch ihr Nachteil: In der riesigen Anzahl von Fällen und der immer länger werdenden Liste von Anschuldigungen ging das Individuelle der einzelnen Situationen verloren. Häufig genug, insbesondere in Frankreich, kam auch von Frauen wie Catherine Deneuve oder der Schriftstellerin Catherine Millet die Frage auf: Warum habt ihr es denn dazu kommen lassen? Warum habt ihr euch nicht gewehrt? "Erinnerung eines Mädchens" versucht Antworten darauf zu finden, indem es die ganze Geschichte erzählt, die Person, die sie erlebt, so genau wie möglich zu zeigen versucht: "Man muss das Terrain abstecken - das soziale, familiäre, sexuelle."
Annie, die Protagonistin des Romans, ist überrumpelt von der Situation, in der sie sich wiederfindet: Es ist der Anfang des Sommers. In der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin arbeitet, findet eine Party statt. Die allererste Party, die Annie in ihrem Leben besucht. Schon ganz zu Beginn, kaum hat sie die Tanzfläche betreten, fordert H, der vier Jahre ältere Chefbetreuer, sie zum Tanzen auf. Kurz darauf geht das Licht aus, H küsst sie und führt sie aus dem Tanzkeller. Annie versteht die Welt nicht mehr: Warum nun ausgerechnet sie, unscheinbar und jung, wie sie ist? Sie gehen in ihr Zimmer, und dort passiert alles sehr schnell: "Sofort schwappt ihr ein fetter Schwall Sperma entgegen, spritzt ihr bis in die Nasenlöcher. Es sind keine fünf Minuten vergangen, seit sie das Zimmer betreten haben." H tut ihr weh, sie schreit. Er sagt: "Mir wäre es lieber, du würdest vor Lust schreien!" Es ist eine entsetzliche Situation. Warum geht sie nicht? Und noch viel verwunderlicher: Warum verliebt sie sich in ihn?
Der Versuch zu erklären, wie all das geschieht, wie sie sogar noch eine zweite Nacht mit diesem Mann verbringt, diesmal freiwillig ("Eine gewollte Nacht gegen eine erlittene Nacht drei Wochen zuvor"), macht Ernaux' Text so eindrücklich. Er zeigt, dass die Aufzählung von Taten nicht reicht, um die Komplexität sexueller Begegnungen zu beschreiben, denn weder beginnen noch enden sie mit diesem einen Moment. Annie wird ein weiteres Jahr in H verliebt sein, bevor sie sich ihrer dann als kindisch empfundenen Leidenschaft schämt und eine Essstörung entwickelt. H wird heiraten: "Wie sind wir im Leben der anderen präsent, in ihren Erinnerungen, ihrer Persönlichkeit, sogar ihren Handlungen? Extremes Missverhältnis zwischen dem Einfluss zweier Nächte mit diesem Mann auf mein Leben und meiner kompletten Abwesenheit in seinem." Hat H, muss man sich beim Lesen fragen, irgendwann noch einmal an diesen Sommer gedacht? Und: Hat er sich immer so verhalten?
Annie ist zum ersten Mal fort von ihren Eltern, frei von den Augen des Dorfes, und "sie kann es kaum erwarten, eine Liebesgeschichte zu erleben". Vielleicht wird ihr gerade das zum Verhängnis. Denn sie hat keinerlei Ahnung, wie Liebesgeschichten sein können, hat noch nie einen Mann wirklich näher kennengelernt. Ihre einzige Quelle sind die Schlager, die sie im Radio hört, die Romane aus Frauenzeitschriften. Also malt sie sich eine Geschichte aus, wie sie sie gehört und gelesen hat und von der sie all die Anzeichen der Realität nicht abbringen können: Nicht das abweisende Verhalten Hs, sein spöttischer Blick, während die anderen sie auslachen, seine Verlobte und die Tatsache, dass er sich weder von ihr verabschiedet noch bei ihr meldet. Irgendwann, da ist sie sich sicher, wird sie ihn wiedertreffen: "Mon histoire c'est l'histoire d'un amour", meine Geschichte ist eine Liebesgeschichte, singt Dalida, und Annie glaubt, dass auch ihre eine sein wird. Niemals käme sie auf die Idee, ihre Nacht mit H als eine Vergewaltigung zu bezeichnen. Diese Dinge gibt es in ihrer Lebenswelt nicht.
Anders als "Die Jahre" konzentriert sich "Erinnerung eines Mädchens" auf eine relativ kurze Zeit in Ernaux' Leben, dreht sich hauptsächlich um diesen einen Sommer im Jahr 1958 und die zwei Jahre, die darauf folgen. In ständigen Zeitsprüngen zwischen damals und jetzt geht es Ernaux immer um die Frage, was das Mädchen dieser Zeit noch mit der schreibenden Frau fünfzig Jahre später zu tun hat. Sind wir, im Verlauf unseres Lebens, immer dieselben? Ist es passend, "ich" zu schreiben, wenn wir von unserer Jugend erzählen? Annie Duchesne, das Mädchen aus dem Sommer 1958, trägt nun nicht nur einen anderen Namen als die über siebzigjährige schreibende Frau: "Um sie zu sein, müsste ich eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können." Ernaux verwendet für sie die dritte Person, und das nicht nur, um sich zu distanzieren. Sie ist inzwischen tatsächlich eine andere geworden. Es geht ihr darum, dieses Paradoxon - das Mädchen von damals zu kennen wie keine andere und dabei doch nicht sie zu sein - irgendwie in eine Form zu bringen: "Ich träume von einer Formulierung, die beide Perspektiven enthält, ohne Widerspruch, einfach durch das Spiel einer neuen Syntax." Es ist keine neue Syntax, die sie hier erfindet, doch gelingt es ihr trotzdem, über ihr damaliges Ich zu schreiben, ohne dabei ihre heutige Sicht zu verlieren.
Im Gegenteil wird vieles erst im Laufe der Zeit klarer, mit dem Abstand der Jahre beginnt sie ihr Verhalten zu verstehen, kann ihre damalige Vorstellung von der Welt mit ihrer jetzigen Sicht in Einklang bringen. Gerade durch ihre autobiographische Form stellt "Erinnerung eines Mädchens" Annies Erlebnisse immer wieder in Frage, zeigt, "dass nicht zählt, was passiert, sondern das, was man aus dem, was passiert, macht". Welche Rolle dabei die anderen spielen, ihre Gedanken und Erinnerungen, oder besser das, von dem wir zumindest glauben, es könnten die ihren sein. Für eine Weile ist sich Annie sicher, niemals so glücklich gewesen zu sein wie damals in der Ferienkolonie. Sie ist frei, oder hält sich für frei. Die Meinung der anderen, die über sie reden, sie öffentlich bloßstellen, verdrängt sie, um im nächsten Jahr schöner, klüger, unerreichbarer zurückzukehren. Die Erkenntnis, dass diese Version nur ihre eigene ist, dass H sie niemals lieben wird, führen zu der unglaublichen Scham, die sie über Jahrzehnte begleitet.
"Genau in diesem Moment werden in den Straßen, Großraumbüros, Hörsälen und in der Metro Millionen von Romanen in den Köpfen geschrieben", schreibt Ernaux an einer Stelle und meint damit all die Liebesgeschichten, die wir erfinden und denen wir in unserem Leben nacheifern. "Erinnerung eines Mädchens" erzählt deren andere Seite.
ANNA VOLLMER
Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp-Verlag, 163 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Erinnerung eines Mädchens" kehrt Annie Ernaux zurück zu einem alles verändernden Erlebnis in der Ferienkolonie
Auf den Straßen von Paris fliegen die Pflastersteine, wer in Frankreich Anfang zwanzig ist, ist auf der Straße im Mai 1968. Die Protagonisten aus Annie Ernaux' autobiographischem Roman "Die Jahre", der letztes Jahr in Deutschland und bereits 2008 in Frankreich erschienen ist, sind jedoch weder Anfang zwanzig, noch leben sie in Paris. Obwohl sie die Revolten unterstützen und von ihnen profitieren, sind sie nicht Teil von ihnen. Sie studieren und rebellieren nicht, sie wohnen in der Provinz und haben "Angst, dass es bald kein Benzin und vor allem keine Lebensmittel mehr geben würde".
Fünfzig Jahre später, im Dezember 2018, zeigt sich die Aktualität dieser Szene. Genau die Menschen, die Annie Ernaux vor zehn Jahren beschrieb, sind aus allen Gegenden Frankreichs nach Paris gekommen und protestieren, ausgerechnet, gegen erhöhte Benzinpreise. Ernaux, die ihre politische Meinung auch in ihren Texten nie versteckt hat, äußerte in den vergangenen Wochen in verschiedenen Interviews ihr Verständnis für die Gelbwesten. In der französischen Tageszeitung "Libération" rief sie mit anderen Intellektuellen dazu auf, sich im Kampf für mehr Gleichheit zusammenzuschließen.
Das Besondere an Annie Ernaux' Schreiben, der Grund, warum sie jüngere französische Schriftsteller wie Didier Eribon als ihr Vorbild bezeichnen, ist genau dieses politische Engagement. Ihre eigene Biographie, zu der sie in ihrem Schreiben immer wieder zurückkehrt, dient nur als Ausgangspunkt, um sich dann genau den politischen Strukturen zu widmen, die diese Biographie geprägt haben: sozialen Ungleichheiten und der Rolle der Frau. Aus dieser Perspektive heraus untersuchte Ernaux, die inzwischen achtundsiebzig Jahre alt ist, die verschiedensten Aspekte ihres Lebens: den Tod ihrer Eltern und Schwester, ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen und die damit verbundene Scham. Dass ihre Beobachtungen häufig sehr genau und treffend waren, merkte man auch daran, dass Themen, die später im gesellschaftlichen Diskurs auftauchten, in ihren Büchern schon längst angesprochen worden waren.
Genauso geschah es mit ihrem neuesten Buch, "Erinnerung eines Mädchens", das (wahrscheinlich glücklicherweise) in Frankreich ein Jahr vor der #MeToo-Debatte erschien. Der Roman geht weit zurück in Ernaux' Jugend zu einem Erlebnis, das sie über die nächsten fünfzig Jahre begleiten wird. Es ist eine "unbeschreibliche Leerstelle", die unbedingt noch gefüllt werden müsse. Mit achtzehn Jahren, das erste Mal weg von zu Hause, arbeitet die Protagonistin Annie als Betreuerin in einem Ferienlager und macht dort ihre erste sexuelle Erfahrung. Es ist, wie man ahnen kann, keine glückliche.
In einem Interview bestritt Annie Ernaux, dass es so etwas wie weibliches Schreiben gebe. Aber das Leben der Frauen habe sich nun einmal für eine sehr lange Zeit deutlich vom Leben der Männer unterschieden, was einen Einfluss auf ihre Wahrnehmung der Welt und somit auf ihr Schreiben gehabt habe: Solange diese Erfahrungen so signifikant verschieden seien, so Ernaux, sei es das Schreiben genauso. Genau diese Haltung prägte "Die Jahre", einen Text, der kein weibliches Buch war, aber eine weibliche Perspektive zeigte, was auch deshalb interessant war, weil sie vollkommen anders war als die der Männer. Dass die sexuelle Revolution für Frauen sehr viel mehr bedeutete als für Männer, wurde hier bereits deutlich: Ernaux beschrieb den weiblichen Konflikt zwischen gesellschaftlich verlangter Unschuld und Freiheitsdrang, ein nahezu erstickendes Klima, das in den fünfziger und frühen sechziger Jahren herrschte und so oft zu Geheimhaltung und Scham führte. Diese Scham, die "weibliche Scham", wie Ernaux sie nennt, rückt in "Erinnerung eines Mädchens" in den Mittelpunkt.
Es ist ein ganz anderer und viel persönlicherer Text dabei entstanden als "Die Jahre", was auch an seiner Form liegt: Ernaux erzählt hier nicht nur in der dritten, sondern auch in der ersten Person, sie wechselt die Perspektive, um ihre Erlebnisse aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die #MeToo-Debatte, die dem Erscheinen des Romans zufälligerweise folgte, zeigte deutlich, dass die individuelle Erfahrung und das Leid, das mit sexuellen Übergriffen einhergeht, sich in einen größeren Kontext einbetten. Es waren keine Einzelfälle, die hier beschrieben wurden, die schiere Masse an Berichten legte offen, welche Probleme und Machtstrukturen großen Teilen unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Doch was die Kraft der Bewegung ausmachte, war auch ihr Nachteil: In der riesigen Anzahl von Fällen und der immer länger werdenden Liste von Anschuldigungen ging das Individuelle der einzelnen Situationen verloren. Häufig genug, insbesondere in Frankreich, kam auch von Frauen wie Catherine Deneuve oder der Schriftstellerin Catherine Millet die Frage auf: Warum habt ihr es denn dazu kommen lassen? Warum habt ihr euch nicht gewehrt? "Erinnerung eines Mädchens" versucht Antworten darauf zu finden, indem es die ganze Geschichte erzählt, die Person, die sie erlebt, so genau wie möglich zu zeigen versucht: "Man muss das Terrain abstecken - das soziale, familiäre, sexuelle."
Annie, die Protagonistin des Romans, ist überrumpelt von der Situation, in der sie sich wiederfindet: Es ist der Anfang des Sommers. In der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin arbeitet, findet eine Party statt. Die allererste Party, die Annie in ihrem Leben besucht. Schon ganz zu Beginn, kaum hat sie die Tanzfläche betreten, fordert H, der vier Jahre ältere Chefbetreuer, sie zum Tanzen auf. Kurz darauf geht das Licht aus, H küsst sie und führt sie aus dem Tanzkeller. Annie versteht die Welt nicht mehr: Warum nun ausgerechnet sie, unscheinbar und jung, wie sie ist? Sie gehen in ihr Zimmer, und dort passiert alles sehr schnell: "Sofort schwappt ihr ein fetter Schwall Sperma entgegen, spritzt ihr bis in die Nasenlöcher. Es sind keine fünf Minuten vergangen, seit sie das Zimmer betreten haben." H tut ihr weh, sie schreit. Er sagt: "Mir wäre es lieber, du würdest vor Lust schreien!" Es ist eine entsetzliche Situation. Warum geht sie nicht? Und noch viel verwunderlicher: Warum verliebt sie sich in ihn?
Der Versuch zu erklären, wie all das geschieht, wie sie sogar noch eine zweite Nacht mit diesem Mann verbringt, diesmal freiwillig ("Eine gewollte Nacht gegen eine erlittene Nacht drei Wochen zuvor"), macht Ernaux' Text so eindrücklich. Er zeigt, dass die Aufzählung von Taten nicht reicht, um die Komplexität sexueller Begegnungen zu beschreiben, denn weder beginnen noch enden sie mit diesem einen Moment. Annie wird ein weiteres Jahr in H verliebt sein, bevor sie sich ihrer dann als kindisch empfundenen Leidenschaft schämt und eine Essstörung entwickelt. H wird heiraten: "Wie sind wir im Leben der anderen präsent, in ihren Erinnerungen, ihrer Persönlichkeit, sogar ihren Handlungen? Extremes Missverhältnis zwischen dem Einfluss zweier Nächte mit diesem Mann auf mein Leben und meiner kompletten Abwesenheit in seinem." Hat H, muss man sich beim Lesen fragen, irgendwann noch einmal an diesen Sommer gedacht? Und: Hat er sich immer so verhalten?
Annie ist zum ersten Mal fort von ihren Eltern, frei von den Augen des Dorfes, und "sie kann es kaum erwarten, eine Liebesgeschichte zu erleben". Vielleicht wird ihr gerade das zum Verhängnis. Denn sie hat keinerlei Ahnung, wie Liebesgeschichten sein können, hat noch nie einen Mann wirklich näher kennengelernt. Ihre einzige Quelle sind die Schlager, die sie im Radio hört, die Romane aus Frauenzeitschriften. Also malt sie sich eine Geschichte aus, wie sie sie gehört und gelesen hat und von der sie all die Anzeichen der Realität nicht abbringen können: Nicht das abweisende Verhalten Hs, sein spöttischer Blick, während die anderen sie auslachen, seine Verlobte und die Tatsache, dass er sich weder von ihr verabschiedet noch bei ihr meldet. Irgendwann, da ist sie sich sicher, wird sie ihn wiedertreffen: "Mon histoire c'est l'histoire d'un amour", meine Geschichte ist eine Liebesgeschichte, singt Dalida, und Annie glaubt, dass auch ihre eine sein wird. Niemals käme sie auf die Idee, ihre Nacht mit H als eine Vergewaltigung zu bezeichnen. Diese Dinge gibt es in ihrer Lebenswelt nicht.
Anders als "Die Jahre" konzentriert sich "Erinnerung eines Mädchens" auf eine relativ kurze Zeit in Ernaux' Leben, dreht sich hauptsächlich um diesen einen Sommer im Jahr 1958 und die zwei Jahre, die darauf folgen. In ständigen Zeitsprüngen zwischen damals und jetzt geht es Ernaux immer um die Frage, was das Mädchen dieser Zeit noch mit der schreibenden Frau fünfzig Jahre später zu tun hat. Sind wir, im Verlauf unseres Lebens, immer dieselben? Ist es passend, "ich" zu schreiben, wenn wir von unserer Jugend erzählen? Annie Duchesne, das Mädchen aus dem Sommer 1958, trägt nun nicht nur einen anderen Namen als die über siebzigjährige schreibende Frau: "Um sie zu sein, müsste ich eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können." Ernaux verwendet für sie die dritte Person, und das nicht nur, um sich zu distanzieren. Sie ist inzwischen tatsächlich eine andere geworden. Es geht ihr darum, dieses Paradoxon - das Mädchen von damals zu kennen wie keine andere und dabei doch nicht sie zu sein - irgendwie in eine Form zu bringen: "Ich träume von einer Formulierung, die beide Perspektiven enthält, ohne Widerspruch, einfach durch das Spiel einer neuen Syntax." Es ist keine neue Syntax, die sie hier erfindet, doch gelingt es ihr trotzdem, über ihr damaliges Ich zu schreiben, ohne dabei ihre heutige Sicht zu verlieren.
Im Gegenteil wird vieles erst im Laufe der Zeit klarer, mit dem Abstand der Jahre beginnt sie ihr Verhalten zu verstehen, kann ihre damalige Vorstellung von der Welt mit ihrer jetzigen Sicht in Einklang bringen. Gerade durch ihre autobiographische Form stellt "Erinnerung eines Mädchens" Annies Erlebnisse immer wieder in Frage, zeigt, "dass nicht zählt, was passiert, sondern das, was man aus dem, was passiert, macht". Welche Rolle dabei die anderen spielen, ihre Gedanken und Erinnerungen, oder besser das, von dem wir zumindest glauben, es könnten die ihren sein. Für eine Weile ist sich Annie sicher, niemals so glücklich gewesen zu sein wie damals in der Ferienkolonie. Sie ist frei, oder hält sich für frei. Die Meinung der anderen, die über sie reden, sie öffentlich bloßstellen, verdrängt sie, um im nächsten Jahr schöner, klüger, unerreichbarer zurückzukehren. Die Erkenntnis, dass diese Version nur ihre eigene ist, dass H sie niemals lieben wird, führen zu der unglaublichen Scham, die sie über Jahrzehnte begleitet.
"Genau in diesem Moment werden in den Straßen, Großraumbüros, Hörsälen und in der Metro Millionen von Romanen in den Köpfen geschrieben", schreibt Ernaux an einer Stelle und meint damit all die Liebesgeschichten, die wir erfinden und denen wir in unserem Leben nacheifern. "Erinnerung eines Mädchens" erzählt deren andere Seite.
ANNA VOLLMER
Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp-Verlag, 163 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Iris Radisch hat sich auf den Weg in die französische Retortenstadt Cergy gemacht, um mit der dort seit dreißig Jahren lebenden Annie Ernaux über Aufwachsen im Proletariat, Camus, Fremdeln in der französischen Kulturelite und natürlich Ernauxs nun auch in Deutschland erschienenem autobiografischen Essay "Erinnerung eines Mädchens" zu plaudern. Den hält die Kritikerin dann auch für äußerst lesenswert, denn Ernaux gelinge es grandios, sich noch einmal in ihr achtzehnjähriges Ich zurückzuversetzen, wie Radisch versichert. Wenn sie hier liest, wie das junge Mädchen in einer Ferienkolonie gegen ihren Willen mit einem jungen Mann schlief, sich in jenen dennoch verliebte und fortan als "Nutte" behandelt wurde, meint Radisch nicht nur den "ranzigen Geschmack der Fünfziger" zu schmecken, sondern sie erfährt auch viel über die Unfreiheit und "historisch Scham" der Frauen jener Generation.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Annie Ernaux' kollektive Autobiografien sind unendlich starke Werkzeuge dafür, individuelle Leben zu verstehen.« Hanna Engelmeier taz. die tageszeitung 20181117