Keine Gesänge aus dem Elfenbeinturm, sondern ein bewegtes Lebensbild. Zunächst nur für die Enkel begonnen, hat Albrecht Schöne ein bewegendes und eindrucksvolles Erinnerungsbuch geschrieben. Von der Herkunft, der Prägung durch ein konservativ-protestantisches Elternhaus über die Jugend im NS-Staat, den Krieg und das Studium im zerstörten Nachkriegsdeutschland entfaltet sich ein Lebensgang, in dem erlebte Geschichte und wissenschaftliche Reflexion wie Text und Kommentar zusammentreten. Es folgen die Stationen eines erfolgreichen Gelehrtenlebens mit kritischen Blicken auf die Studentenrevolte nach '68 und die Entwicklung der deutschen Universität. Immer verbinden sich persönliche Fragen und wissenschaftliche Antworten mit den Sehepunkten des Autors. Entstanden ist ein facettenreiches Bild aus Geschichte und Geschichten der Jahre, die ihr kennt, von denen viele Leser auf eigene Weise sagen können, dass sie dabei gewesen sind. Wie kaum ein anderer Gelehrter hat Albrecht Schöne die Reputation der Germanistik als einer deutschen Wissenschaft an den Universitäten und in der Welt geprägt. Auch davon erzählt sein bewegendes Erinnerungsbuch.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.07.2020Da kam das Vergangene
über mich
Das Jahrhundert des Germanisten Albrecht Schöne
Die Lebenserinnerungen, die der Literaturwissenschaftler Albrecht Schöne jetzt zu seinem 95. Geburtstag vorlegt, haben eine Mitte, ein Scharnier, das sie in zwei Teile zerlegt. Im Winter 1946/47 arbeitete Schöne im Sauerland als Holzfäller, denn solche Dienste (Bergbau und Trümmerbeseitigung gehörten auch dazu) waren eine Voraussetzung für einen Studienplatz. Eine harte, eintönige und einsame Arbeit. Davor war Schöne Soldat und Kriegsgefangener gewesen. Danach ging es los mit Studium und glanzvoller akademischer Laufbahn, über Freiburg, Münster und Göttingen, wo Schöne dann blieb.
Bei den Waldarbeiten kam, so sagt er, „das Vergangene über mich mit großer Gewalt“. Er wurde seiner Verstrickung in Schuld und Verbrechen inne, er begriff mit Sätzen aus dem ersten Buch Mose die in der Natur des Menschen lauernde Unmenschlichkeit: „Denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Er denkt nach über das Geschehene, die Millionen Toten, die Zerstörungen und Verfolgungen, ein Nachdenken, das sein Leben fortan begleitete.
In diesen Stunden der Verzweiflung kam ihm ein Neues Testament zu Hilfe, wo er einen Satz im ersten Korintherbrief fand. Paulus schrieb an die Brüder der Gemeinde, sie sollten „weinen, als weineten sie nicht; und die sich freuen, als freueten sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich wollte aber, dass ihr ohne Sorge wäret.“ Dieses Haben der Welt, als habe man sie nicht, ließ ihn nie mehr ganz los, es sei lebensbestimmend geworden. „Es fällt mir schwer, mich dabei verständlich zu machen.“
Was man vielleicht versteht, ist, dass Schöne hier eine Distanz der Uneigentlichkeit in sein Leben eingebaut hat, wo Worte und ihre Formen, zum Beispiel Konjunktive (ein späteres Forschungsgebiet), wichtig wurden. Harald Weinrich hat viel später Schönes Methode von der Rezeptionsästhetik des Hans Robert Jauß abgehoben, indem er sie als protestantisch und katholisch charakterisierte: traditionsgeleitet der Konstanzer Papist, hingegen vom Misstrauen gegen die Traditionsgeschichte beseelt, auf dem reinen Wort bestehend die gut lutherische Literaturwissenschaft, die aus Göttingen kam. Der paulinische Nullpunkt im Wald von 1947 hat aus dem jugendlichen Draufgänger einen Wissenschaftler gemacht, bevor er überhaupt zu studieren begonnen hatte.
Schöne kam nicht aus einer nationalsozialistisch kompromittierten Familie. Sein Vater, einarmiger Invalide des Ersten Weltkriegs, verlor nach der Machtergreifung eine Schuldirektorenstelle, weil er das Aufziehen einer Hakenkreuzfahne verhindert hatte. Ein Onkel, zunächst nationalsozialistisch infiziert, bald zynisch enttäuscht, riskierte nach Stalingrad durch Kettenbriefe an Verwandte von Verschollenen sein Leben, er schlug darin unter anderem vor, mit den Judenmassakern aufzuhören, um Erleichterungen für die in der Sowjetunion kriegsgefangenen Deutschen zu erwirken. Ein Militärgericht ließ ihn mit einer milden Strafe davonkommen.
Schöne selbst war beim Jungvolk, sportiv erfolgreich, und wurde ein sehr junger Panzerleutnant, mit all den abenteuerlichen Überlebenszufällen, die solche Kriegserinnerungen unvermeidlich mit sich führen (die Gefallenen können nicht mehr erzählen). Doch anders als Jauß und Günter Grass tat er sich nicht mit besonderem Waffen-SS-Eifer hervor. Am Ende rettete den in der Elbe fast schon Ertrinkenden ein amerikanischer Soldat: „Come on!“, lautete der Zuruf, der eine neue Epoche einläutete.
Sorge und Sorgfalt um Sprache und Vergangenheit wurden die Grundmotive der wissenschaftlichen Arbeit Schönes, die – vor allem der klassische „Faust“-Kommentar – ein breites Publikum erreichte und ihn selbst auf die Höhen von Ruhm und Ehrungen führte. Die Innenansicht dieser wohlbekannten Lebensarbeit zehrt von dem biblischen Ausgangspunkt, der, kaum überraschend, eine lange familiäre Tradition fortsetzte: Bildungsbürger, Pfarrer. Heute in einer Zeit, die von Kongressen und Tagungen geradezu verstellt ist, ist es bewegend zu erfahren, wie wichtig der erste Weltkongress der Germanisten war, den Schöne 1985 in Göttingen ausrichten konnte; die Festlichkeit einer von allen Seiten erlebten Versöhnung schwingt nach in der Erzählung eines doch akademischen Vorgangs. Wie bewegend sind Reisen nach Israel, die Hilfe beim Neuaufbau einer germanistischen Literaturwissenschaft, das Zusammentreffen mit Emigranten wie Gershom Scholem! Schöne hat die Gabe, mit Verknappung und einfachen Schlusssätzen das Gefühlsgewicht solcher Erfahrungen für sich sprechen zu lassen.
Freiburg, Münster, Göttingen, ein Ausflug nach Basel: Die Stationen von Schönes Studium rufen die großen Namen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Erinnerung, übrigens mehr Philosophen und Historiker als Germanisten. Die Münsteraner Ritter-Schule, das Historikerdreigestirn Heuss-Schramm-Heimpel in Göttingen, Plessner und Jaspers, sie strahlen bis heute, und man beneidet eine neugierige, vom Krieg zu neuer Lebenslust entlassene Generation, die sich in diesem überreichen Garten bewegen konnte.
Bitter sind die Erinnerungen an 1968 und die Studentenbewegung, die in Göttingen besonders rabiat agierte, bis hin zu physischer Gewalt, Morddrohungen und dem Durchsuchen des Schöneschen Mülleimers zu Denunziationszwecken. Mit Verve bestreitet Schöne, erst damals sei mit der Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen worden. Zwar hätte seine Generation als die jüngste mitverstrickte des Dritten Reichs sich zunächst nicht legitimiert gefühlt, den Angepassten und Profiteuren nachzuforschen; aber man wusste es, wenn jemand im Widerstand gewesen war wie der Freiburger Historiker Gerhard Ritter. Den Versuch der niedersächsischen Landesregierung, in den fünfziger Jahren einen offen rechtsradikalen Kultusminister zu etablieren, verhinderte man durch massenhaften Protest, nicht ohne Rückerinnerung an die „Göttinger Sieben“. Schönes eigene Beiträge waren Tiefenbohrungen wie die zu den Göttinger Bücherverbrennungen von 1933.
1964 brachte die Ernennung eines völkischen Germanisten zum Rektor in Bonn jüngere Germanisten in Rage, die nun in einer Erklärung verlangten, auch der dunklen Jahre ohne Scheu zu gedenken, „ebenso frei von ängstlicher Beschönigung wie von moralischer Überheblichkeit“, auch als Mahnung, „nicht zu glauben, dass die Stunde der Anfechtung niemals wiederkehren könne“. Nun begann, begleitet von dem aus der Emigration zurückgekehrten Germanisten Richard Alewyn, der schon 1949 erklärt hatte „zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“, eine Erforschung der Vergangenheit des Faches, deren erster Höhepunkt der Münchner Germanistentag von 1966 war.
Schönes Erinnerungen sind ein Generationenbuch, das man zusammen mit den Selbstzeugnissen seiner Altersgenossen lesen kann, die die Geisteswissenschaft der Bundesrepublik geprägt haben. Doch in diesem öffentlichen Charakter gehen sie nicht auf. Sie beginnen als vertrauliches Buch für Kinder und Enkel mit privaten und familiären Erinnerungen. Bedacht erweitert der Erzähler den Hörerkreis ins Öffentliche. Man lauscht einer Familie, aber als Gast vom Rande aus, als Eingeladener.
Am Schluss zieht sich die Erzählung wieder ins Persönliche und Intime, indem der Verfasser sich selbst bei seiner Vorbereitung auf die letzten Dinge zeigt, wozu ganz nüchtern auch die Wahl einer würdigen Grabstätte gehört. Die Auslegung eines Verses von Paul Celan, der ein Hausfreund gewesen war, nimmt das Sterben selbst in den Blick. Sie beschließt die Erzählungen von vielen Dichterbegegnungen, die das Buch zuvor gezeigt hatte.
Ein Gelehrten- und Weltbuch, abenteuer- und figurenreich, lutherisch, freisinnig, altdeutsch, wie man es kaum noch einmal lesen wird.
GUSTAV SEIBT
Albrecht Schöne: Erinnerungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 333 Seiten, 28 Euro.
Ein amerikanischer Soldat rettete
den in der Elbe fast
schon Ertrinkenden: „Come on!“
Man lauscht einer Familie,
aber als Gast vom Rande aus,
als Eingeladener
Albrecht Schöne in seiner Göttinger Bibliothek. Am 17. Juli feiert der Germanist seinen 95. Geburtstag.
Foto: Wolfgang Weihs/dpa
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über mich
Das Jahrhundert des Germanisten Albrecht Schöne
Die Lebenserinnerungen, die der Literaturwissenschaftler Albrecht Schöne jetzt zu seinem 95. Geburtstag vorlegt, haben eine Mitte, ein Scharnier, das sie in zwei Teile zerlegt. Im Winter 1946/47 arbeitete Schöne im Sauerland als Holzfäller, denn solche Dienste (Bergbau und Trümmerbeseitigung gehörten auch dazu) waren eine Voraussetzung für einen Studienplatz. Eine harte, eintönige und einsame Arbeit. Davor war Schöne Soldat und Kriegsgefangener gewesen. Danach ging es los mit Studium und glanzvoller akademischer Laufbahn, über Freiburg, Münster und Göttingen, wo Schöne dann blieb.
Bei den Waldarbeiten kam, so sagt er, „das Vergangene über mich mit großer Gewalt“. Er wurde seiner Verstrickung in Schuld und Verbrechen inne, er begriff mit Sätzen aus dem ersten Buch Mose die in der Natur des Menschen lauernde Unmenschlichkeit: „Denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Er denkt nach über das Geschehene, die Millionen Toten, die Zerstörungen und Verfolgungen, ein Nachdenken, das sein Leben fortan begleitete.
In diesen Stunden der Verzweiflung kam ihm ein Neues Testament zu Hilfe, wo er einen Satz im ersten Korintherbrief fand. Paulus schrieb an die Brüder der Gemeinde, sie sollten „weinen, als weineten sie nicht; und die sich freuen, als freueten sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich wollte aber, dass ihr ohne Sorge wäret.“ Dieses Haben der Welt, als habe man sie nicht, ließ ihn nie mehr ganz los, es sei lebensbestimmend geworden. „Es fällt mir schwer, mich dabei verständlich zu machen.“
Was man vielleicht versteht, ist, dass Schöne hier eine Distanz der Uneigentlichkeit in sein Leben eingebaut hat, wo Worte und ihre Formen, zum Beispiel Konjunktive (ein späteres Forschungsgebiet), wichtig wurden. Harald Weinrich hat viel später Schönes Methode von der Rezeptionsästhetik des Hans Robert Jauß abgehoben, indem er sie als protestantisch und katholisch charakterisierte: traditionsgeleitet der Konstanzer Papist, hingegen vom Misstrauen gegen die Traditionsgeschichte beseelt, auf dem reinen Wort bestehend die gut lutherische Literaturwissenschaft, die aus Göttingen kam. Der paulinische Nullpunkt im Wald von 1947 hat aus dem jugendlichen Draufgänger einen Wissenschaftler gemacht, bevor er überhaupt zu studieren begonnen hatte.
Schöne kam nicht aus einer nationalsozialistisch kompromittierten Familie. Sein Vater, einarmiger Invalide des Ersten Weltkriegs, verlor nach der Machtergreifung eine Schuldirektorenstelle, weil er das Aufziehen einer Hakenkreuzfahne verhindert hatte. Ein Onkel, zunächst nationalsozialistisch infiziert, bald zynisch enttäuscht, riskierte nach Stalingrad durch Kettenbriefe an Verwandte von Verschollenen sein Leben, er schlug darin unter anderem vor, mit den Judenmassakern aufzuhören, um Erleichterungen für die in der Sowjetunion kriegsgefangenen Deutschen zu erwirken. Ein Militärgericht ließ ihn mit einer milden Strafe davonkommen.
Schöne selbst war beim Jungvolk, sportiv erfolgreich, und wurde ein sehr junger Panzerleutnant, mit all den abenteuerlichen Überlebenszufällen, die solche Kriegserinnerungen unvermeidlich mit sich führen (die Gefallenen können nicht mehr erzählen). Doch anders als Jauß und Günter Grass tat er sich nicht mit besonderem Waffen-SS-Eifer hervor. Am Ende rettete den in der Elbe fast schon Ertrinkenden ein amerikanischer Soldat: „Come on!“, lautete der Zuruf, der eine neue Epoche einläutete.
Sorge und Sorgfalt um Sprache und Vergangenheit wurden die Grundmotive der wissenschaftlichen Arbeit Schönes, die – vor allem der klassische „Faust“-Kommentar – ein breites Publikum erreichte und ihn selbst auf die Höhen von Ruhm und Ehrungen führte. Die Innenansicht dieser wohlbekannten Lebensarbeit zehrt von dem biblischen Ausgangspunkt, der, kaum überraschend, eine lange familiäre Tradition fortsetzte: Bildungsbürger, Pfarrer. Heute in einer Zeit, die von Kongressen und Tagungen geradezu verstellt ist, ist es bewegend zu erfahren, wie wichtig der erste Weltkongress der Germanisten war, den Schöne 1985 in Göttingen ausrichten konnte; die Festlichkeit einer von allen Seiten erlebten Versöhnung schwingt nach in der Erzählung eines doch akademischen Vorgangs. Wie bewegend sind Reisen nach Israel, die Hilfe beim Neuaufbau einer germanistischen Literaturwissenschaft, das Zusammentreffen mit Emigranten wie Gershom Scholem! Schöne hat die Gabe, mit Verknappung und einfachen Schlusssätzen das Gefühlsgewicht solcher Erfahrungen für sich sprechen zu lassen.
Freiburg, Münster, Göttingen, ein Ausflug nach Basel: Die Stationen von Schönes Studium rufen die großen Namen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Erinnerung, übrigens mehr Philosophen und Historiker als Germanisten. Die Münsteraner Ritter-Schule, das Historikerdreigestirn Heuss-Schramm-Heimpel in Göttingen, Plessner und Jaspers, sie strahlen bis heute, und man beneidet eine neugierige, vom Krieg zu neuer Lebenslust entlassene Generation, die sich in diesem überreichen Garten bewegen konnte.
Bitter sind die Erinnerungen an 1968 und die Studentenbewegung, die in Göttingen besonders rabiat agierte, bis hin zu physischer Gewalt, Morddrohungen und dem Durchsuchen des Schöneschen Mülleimers zu Denunziationszwecken. Mit Verve bestreitet Schöne, erst damals sei mit der Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen worden. Zwar hätte seine Generation als die jüngste mitverstrickte des Dritten Reichs sich zunächst nicht legitimiert gefühlt, den Angepassten und Profiteuren nachzuforschen; aber man wusste es, wenn jemand im Widerstand gewesen war wie der Freiburger Historiker Gerhard Ritter. Den Versuch der niedersächsischen Landesregierung, in den fünfziger Jahren einen offen rechtsradikalen Kultusminister zu etablieren, verhinderte man durch massenhaften Protest, nicht ohne Rückerinnerung an die „Göttinger Sieben“. Schönes eigene Beiträge waren Tiefenbohrungen wie die zu den Göttinger Bücherverbrennungen von 1933.
1964 brachte die Ernennung eines völkischen Germanisten zum Rektor in Bonn jüngere Germanisten in Rage, die nun in einer Erklärung verlangten, auch der dunklen Jahre ohne Scheu zu gedenken, „ebenso frei von ängstlicher Beschönigung wie von moralischer Überheblichkeit“, auch als Mahnung, „nicht zu glauben, dass die Stunde der Anfechtung niemals wiederkehren könne“. Nun begann, begleitet von dem aus der Emigration zurückgekehrten Germanisten Richard Alewyn, der schon 1949 erklärt hatte „zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“, eine Erforschung der Vergangenheit des Faches, deren erster Höhepunkt der Münchner Germanistentag von 1966 war.
Schönes Erinnerungen sind ein Generationenbuch, das man zusammen mit den Selbstzeugnissen seiner Altersgenossen lesen kann, die die Geisteswissenschaft der Bundesrepublik geprägt haben. Doch in diesem öffentlichen Charakter gehen sie nicht auf. Sie beginnen als vertrauliches Buch für Kinder und Enkel mit privaten und familiären Erinnerungen. Bedacht erweitert der Erzähler den Hörerkreis ins Öffentliche. Man lauscht einer Familie, aber als Gast vom Rande aus, als Eingeladener.
Am Schluss zieht sich die Erzählung wieder ins Persönliche und Intime, indem der Verfasser sich selbst bei seiner Vorbereitung auf die letzten Dinge zeigt, wozu ganz nüchtern auch die Wahl einer würdigen Grabstätte gehört. Die Auslegung eines Verses von Paul Celan, der ein Hausfreund gewesen war, nimmt das Sterben selbst in den Blick. Sie beschließt die Erzählungen von vielen Dichterbegegnungen, die das Buch zuvor gezeigt hatte.
Ein Gelehrten- und Weltbuch, abenteuer- und figurenreich, lutherisch, freisinnig, altdeutsch, wie man es kaum noch einmal lesen wird.
GUSTAV SEIBT
Albrecht Schöne: Erinnerungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 333 Seiten, 28 Euro.
Ein amerikanischer Soldat rettete
den in der Elbe fast
schon Ertrinkenden: „Come on!“
Man lauscht einer Familie,
aber als Gast vom Rande aus,
als Eingeladener
Albrecht Schöne in seiner Göttinger Bibliothek. Am 17. Juli feiert der Germanist seinen 95. Geburtstag.
Foto: Wolfgang Weihs/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Patrick Bahners liest die Lebenserinnerungen des Germanisten Albrecht Schöne als "Enkel im Geiste", dem "sprachbildende Kraft", Goethe, bürgerliche Bildung und ein klarer Stil erstrebenswert erscheinen. Sowohl das literaturwissenschaftliche Erbe als auch die "außerliterarische Lebensthematik" des Autors scheinen Bahners von Interesse zu sein. Wenn Schöne aus dem Krieg und Nachkrieg berichtet, zeigt sich der Rezensent zwar mitunter erschüttert, er staunt allerdings auch, ob der Energie der geistigen Welt, die dem Autor zu allen Zeiten zugeflossen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2020Es war ein König in Barby
Emblematik der Treue: Der Germanist Albrecht Schöne hat seine Erinnerungen geschrieben
Dem Germanisten Albrecht Schöne, der kürzlich seinen fünfundneunzigsten Geburtstag feierte, wurde Goethe, dem er mehrere Bücher gewidmet hat, zuletzt eines über den "Briefschreiber", nicht in die Wiege gelegt. Sondern neben die Wiege beziehungsweise genaugenommen neben den Kinderwagen gestellt. In den "Erinnerungen", die Schöne zunächst für seine Enkel niederschrieb und dann doch seinem Schüler Thedel von Wallmoden für den von diesem gegründeten Wallstein Verlag übergab, druckt er einen Brief ab, den sein Vater ihm schrieb, als er zehn Tage alt war. Der Adressat fand ihn nach dem Tod des Vaters unter dessen Papieren.
Friedrich Schöne war Studienrat im Städtchen Barby an der Elbe und beschreibt seinem schlafenden Stammhalter dessen Umgebung: das väterliche Arbeitszimmer mit Schreibpult, Bücherregalen und Bildern an der Wand. Mit Fragen, die der Angesprochene noch nicht verstehen kann, greift er der Zeit vor. "Du kleiner Kerl, der Du jetzt aus sattem Kinderschlaf aufseufzest, wann wirst Du zum ersten Mal mit funkelnden Augen und heißen Wangen in die Schätze greifen, die da neben Deinem Wagen stehen? Den ersten Band Goethe und Shakespeare, Tolstoi und Hebbel aufschlagen?"
Albrecht Schöne behandelt seinen Vater nicht wie den "Briefschreiber Goethe", von dem er neun Briefe (darunter keinen an den Sohn August) auswählte, um sie Stück für Stück mit einem Vielfachen an Textmenge zu erläutern. Dabei eignete sich zweifellos auch Friedrich Schönes unveröffentlichtes, dem Empfänger nicht einmal ausgehändigtes Briefzeugnis als Stoff für die Germanistik, wie Albrecht Schöne ihn bestimmte, als er 1985 in Göttingen die Teilnehmer des ersten Weltkongresses seiner Disziplin auf deutschem Boden willkommen hieß: Es geht seinem Fach um "Schriftwerke", anhand derer sich eine "Fülle an historischer Erfahrung und Einsicht in die Möglichkeiten des Menschen" vermitteln lässt, "an Orientierungsmustern und Handlungsanleitungen, Trostgeschenken, Fluchthilfen, Lebens- und Sterbemitteln".
An den Topoi, die Studienrat Schöne bei der feierlichen Begrüßung seines Erstgeborenen verwendete, müsste sich bestätigen, was Professor Schöne im Resümee seiner komparatistischen Untersuchung der Figur "Auf Biegen und Brechen" notiert, mit dem er auch seine Studien zur Emblematik, ja, seine gesamte Arbeit zusammenfasst: "Allemal erweist sich das literarische Motiv so als Indikator der religiösen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse, die seinen unterschiedlichen Spielarten zugrunde liegen."
Die Verhältnisse der eigenen Familie bestimmte jene soziale Formation, deren grundlegende, Formen prägende Bedeutung für die deutsche Literatur Albrecht Schöne in seiner Habilitationsschrift über die "Säkularisation als sprachbildende Kraft" in der "Dichtung deutscher Pfarrersöhne" darstellte. Er ist Enkel, Urenkel und Neffe von Pfarrern, und zwar der altlutherischen Freikirche, die sich der vom preußischen König befohlenen Zwangsunion mit den Reformierten verweigerte. Inwieweit auch Albrecht Schönes Schriftwerke die sprachbildende Kraft des vom Pfarrhaus freigesetzten Strebens nach Selbständigkeit illustrieren, werden spätere Literaturhistoriker erörtern. Der Autor der Memoiren nimmt keine sozialgeschichtliche Auslegung der Urkunden seiner Herkunftswelt vor. Knapp bleibt der Kommentar zum Brief des Vaters, weil dieser mit didaktischem Sinn abgefasst ist, in einer Deutlichkeit, die trotz allem Abstand der Zeit geeignet ist, Missverständnissen vorzubeugen.
Drei Bilder hingen über dem Kinderwagen, rechts außen ein Kupferstich nach van Dyck: "der König Karl I von England, hochmütig-müde und abenteuerlich-haltlos zugleich, gepflegt und brutal - so sollst Du nicht werden". Was lernen wir? Zum Mobiliar im bürgerlichen Bildungshaushalt gehören Figuren, zu denen man aufblickt, um sich an ihnen gerade kein Beispiel zu nehmen. Der hingerichtete König in der von van Dyck verewigten Gestalt erschien nicht etwa, was man sich unter Altlutheranern auch hätte vorstellen können, als Märtyrer des Gewissens und Patron eines romantischen Konservatismus denkwürdig. Vielleicht hatte Friedrich Schöne die "Geschichte der englischen Revolution" von Friedrich Christoph Dahlmann gelesen, wo man sowohl die abenteuerlichen als auch die brutalen Züge findet: Karl gefiel sich "auf gefährlichen Wegen" und war lange vor dem Abfall des Parlaments "von allen guten Geistern verlassen".
Dahlmann gehörte 1837 zu den Göttinger Professoren, die wegen ihres Protests gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreichs Hannover ihrer Ämter enthoben und des Landes verwiesen wurden. Albrecht Schöne hielt 1987 über diese Göttinger Sieben einen mehrfach gedruckten Vortrag; im vergangenen Jahr bestimmte die Universität, dass dieses "Lehrstück" allen nach Göttingen berufenen Professoren und allen Absolventen des Doktorexamens auszuhändigen ist.
Vielleicht hatte Schöne Dahlmann, Jacob Grimm und Kollegen auch im Sinn, als er am 5. Oktober 1990 in Peking am Ende eines Vortrags zum Streit der Aufklärer über die Physiognomik das Bild eines Verhafteten vom Platz des Himmlischen Friedens aus dem Staatsfernsehen zeigte. Der Tag war ein Freitag, und Kollegen hatten ihm vorausgesagt, dass die Behörden erst am Montag aktiv werden würden, nach seiner Abreise. "So habe ich nicht kennenlernen können, was ich erwartet, mir eigentlich auch gewünscht hatte: Wie man in Peking das politische Verhör eines Ausländers vornahm, wie sich dort eine Nacht in polizeilichem Gewahrsam abspielte und wie zu guter Letzt eine Zwangsabschiebung vor sich ging." Zu guter Letzt! Dieser Auskunft zufolge war Schöne eine Neigung zum Abenteuerlichen nicht fremd, und so wird man es nicht einfach nur ironisch lesen, wenn er zu dem vom Vater geerbten Porträt des Stuart-Königs mitteilt, es rufe ihm "bei Gelegenheit noch immer in Erinnerung, wie ich nicht werden sollte". Es gibt eine Treue der fortgesetzten Abweichung.
Im Rechenschaftsbericht über seine Berufsarbeit lässt sich Schöne mit größter Bestimmtheit ein. Es sticht ins Auge, dass er Widersacher stets beim Namen nennt, nicht nur in dem in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 15. November 2017) vorabgedruckten Lehrstück über 1968. Umschreibungen, die nur die Neugier reizen müssten, wären unter seiner Würde; fingierte Nachsicht ist keine. Man kann sich ausmalen, dass dieser selbstbewusste Herr der eigenen Worte auch als schroff erlebt werden konnte; vielleicht sah er sich deshalb von Zeit zu Zeit veranlasst, an das mahnende Exempel Karls I. zu denken.
Albrecht Schöne hat mit diesem Erinnerungsbuch zu Händen seiner Enkel einen Text von ähnlicher Bestimmung verfasst, wie ihn sein Geburtstagsbrief von der Hand seines Vaters hatte. Was möchte er den Adressaten sagen? Darüber müssen wir als Außenstehende nicht spekulieren, aber weil das Buch nicht als Privatdruck verbreitet wird, sei wenigstens eine Vermutung geäußert, im Namen derer, die als Leser Schönes so kühn sind, sich zu seinen Enkelschülern im Geiste zu gesellen. Der Herkunftszusammenhang einer geistigen Welt tritt uns in einer sprachlichen Gestalt vor Augen, für die das Klare und Deutliche konstitutiv sind. Markiert wird durch den Stil freilich auch, wie viel nicht artikuliert wird. Bürgerliche Bildung erweist sich als Mischungsverhältnis von direkter und indirekter Rede, Gesagtem und Ungesagtem.
Und das gilt auch für die außerliterarische Lebensthematik eines Deutschen vom Jahrgang 1925. Die erste Hälfte des durchgehend lehrreichen und stellenweise erschütternden Buches behandelt die Schicksale von Schönes Familie in der Hitlerzeit, die zweite seine akademische Laufbahn. Der Vater wurde strafversetzt, weil er die Hakenkreuzfahne nicht hisste, ein Onkel wäre beinahe vor den Volksgerichtshof gestellt worden, weil er nach der Schlacht von Stalingrad die Wahrheit ans Licht zu bringen versuchte, mit dem Mittel des Kettenbriefs. Albrecht Schöne erlebte das Kriegsende als Leutnant der Panzertruppe.
Die Mitte des Buches ist das Kapitel "Unter Holzfällern". Bei der Schwerstarbeit, die Schöne im Winter 1946/47, vor der Zulassung zum Studium, im Sauerland verrichtete, wurde fast gar nicht gesprochen. Unter den Männern waren Überlebende der Lager, Vertriebene, aber auch gestürzte Funktionäre des Regimes. Was der Abiturient über die jüngste Vergangenheit gehört oder gelesen hatte, "das stellten meine Arbeitsgenossen mir jetzt leibhaftig vor Augen". Fernab von der Familienwelt mit "Pfarrhaus" und "Schulbetrieb" kam "das Vergangene" über ihn "mit großer Gewalt". Ein Wort der Bibel wurde ihm "in gewisser Weise lebensbestimmend", in einer von der Erfahrung des Schweigens aufgedrängten Auslegung: der dreißigste Vers des siebten Kapitels des ersten Korintherbriefs, als Grundsatz einer Philosophie des Als-ob, des Lebens aus dem Konjunktiv. "Es fällt mir schwer, mich dabei verständlich zu machen." So viel glauben wir doch zu verstehen: Als befreiend erlebte Albrecht Schöne eine fortwirkende Hemmung. Das Emblem seines Lebens müsste ein Paradox zeigen: die durch Bindung gelöste Zunge.
PATRICK BAHNERS
Albrecht Schöne: "Erinnerungen".
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 334 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emblematik der Treue: Der Germanist Albrecht Schöne hat seine Erinnerungen geschrieben
Dem Germanisten Albrecht Schöne, der kürzlich seinen fünfundneunzigsten Geburtstag feierte, wurde Goethe, dem er mehrere Bücher gewidmet hat, zuletzt eines über den "Briefschreiber", nicht in die Wiege gelegt. Sondern neben die Wiege beziehungsweise genaugenommen neben den Kinderwagen gestellt. In den "Erinnerungen", die Schöne zunächst für seine Enkel niederschrieb und dann doch seinem Schüler Thedel von Wallmoden für den von diesem gegründeten Wallstein Verlag übergab, druckt er einen Brief ab, den sein Vater ihm schrieb, als er zehn Tage alt war. Der Adressat fand ihn nach dem Tod des Vaters unter dessen Papieren.
Friedrich Schöne war Studienrat im Städtchen Barby an der Elbe und beschreibt seinem schlafenden Stammhalter dessen Umgebung: das väterliche Arbeitszimmer mit Schreibpult, Bücherregalen und Bildern an der Wand. Mit Fragen, die der Angesprochene noch nicht verstehen kann, greift er der Zeit vor. "Du kleiner Kerl, der Du jetzt aus sattem Kinderschlaf aufseufzest, wann wirst Du zum ersten Mal mit funkelnden Augen und heißen Wangen in die Schätze greifen, die da neben Deinem Wagen stehen? Den ersten Band Goethe und Shakespeare, Tolstoi und Hebbel aufschlagen?"
Albrecht Schöne behandelt seinen Vater nicht wie den "Briefschreiber Goethe", von dem er neun Briefe (darunter keinen an den Sohn August) auswählte, um sie Stück für Stück mit einem Vielfachen an Textmenge zu erläutern. Dabei eignete sich zweifellos auch Friedrich Schönes unveröffentlichtes, dem Empfänger nicht einmal ausgehändigtes Briefzeugnis als Stoff für die Germanistik, wie Albrecht Schöne ihn bestimmte, als er 1985 in Göttingen die Teilnehmer des ersten Weltkongresses seiner Disziplin auf deutschem Boden willkommen hieß: Es geht seinem Fach um "Schriftwerke", anhand derer sich eine "Fülle an historischer Erfahrung und Einsicht in die Möglichkeiten des Menschen" vermitteln lässt, "an Orientierungsmustern und Handlungsanleitungen, Trostgeschenken, Fluchthilfen, Lebens- und Sterbemitteln".
An den Topoi, die Studienrat Schöne bei der feierlichen Begrüßung seines Erstgeborenen verwendete, müsste sich bestätigen, was Professor Schöne im Resümee seiner komparatistischen Untersuchung der Figur "Auf Biegen und Brechen" notiert, mit dem er auch seine Studien zur Emblematik, ja, seine gesamte Arbeit zusammenfasst: "Allemal erweist sich das literarische Motiv so als Indikator der religiösen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse, die seinen unterschiedlichen Spielarten zugrunde liegen."
Die Verhältnisse der eigenen Familie bestimmte jene soziale Formation, deren grundlegende, Formen prägende Bedeutung für die deutsche Literatur Albrecht Schöne in seiner Habilitationsschrift über die "Säkularisation als sprachbildende Kraft" in der "Dichtung deutscher Pfarrersöhne" darstellte. Er ist Enkel, Urenkel und Neffe von Pfarrern, und zwar der altlutherischen Freikirche, die sich der vom preußischen König befohlenen Zwangsunion mit den Reformierten verweigerte. Inwieweit auch Albrecht Schönes Schriftwerke die sprachbildende Kraft des vom Pfarrhaus freigesetzten Strebens nach Selbständigkeit illustrieren, werden spätere Literaturhistoriker erörtern. Der Autor der Memoiren nimmt keine sozialgeschichtliche Auslegung der Urkunden seiner Herkunftswelt vor. Knapp bleibt der Kommentar zum Brief des Vaters, weil dieser mit didaktischem Sinn abgefasst ist, in einer Deutlichkeit, die trotz allem Abstand der Zeit geeignet ist, Missverständnissen vorzubeugen.
Drei Bilder hingen über dem Kinderwagen, rechts außen ein Kupferstich nach van Dyck: "der König Karl I von England, hochmütig-müde und abenteuerlich-haltlos zugleich, gepflegt und brutal - so sollst Du nicht werden". Was lernen wir? Zum Mobiliar im bürgerlichen Bildungshaushalt gehören Figuren, zu denen man aufblickt, um sich an ihnen gerade kein Beispiel zu nehmen. Der hingerichtete König in der von van Dyck verewigten Gestalt erschien nicht etwa, was man sich unter Altlutheranern auch hätte vorstellen können, als Märtyrer des Gewissens und Patron eines romantischen Konservatismus denkwürdig. Vielleicht hatte Friedrich Schöne die "Geschichte der englischen Revolution" von Friedrich Christoph Dahlmann gelesen, wo man sowohl die abenteuerlichen als auch die brutalen Züge findet: Karl gefiel sich "auf gefährlichen Wegen" und war lange vor dem Abfall des Parlaments "von allen guten Geistern verlassen".
Dahlmann gehörte 1837 zu den Göttinger Professoren, die wegen ihres Protests gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreichs Hannover ihrer Ämter enthoben und des Landes verwiesen wurden. Albrecht Schöne hielt 1987 über diese Göttinger Sieben einen mehrfach gedruckten Vortrag; im vergangenen Jahr bestimmte die Universität, dass dieses "Lehrstück" allen nach Göttingen berufenen Professoren und allen Absolventen des Doktorexamens auszuhändigen ist.
Vielleicht hatte Schöne Dahlmann, Jacob Grimm und Kollegen auch im Sinn, als er am 5. Oktober 1990 in Peking am Ende eines Vortrags zum Streit der Aufklärer über die Physiognomik das Bild eines Verhafteten vom Platz des Himmlischen Friedens aus dem Staatsfernsehen zeigte. Der Tag war ein Freitag, und Kollegen hatten ihm vorausgesagt, dass die Behörden erst am Montag aktiv werden würden, nach seiner Abreise. "So habe ich nicht kennenlernen können, was ich erwartet, mir eigentlich auch gewünscht hatte: Wie man in Peking das politische Verhör eines Ausländers vornahm, wie sich dort eine Nacht in polizeilichem Gewahrsam abspielte und wie zu guter Letzt eine Zwangsabschiebung vor sich ging." Zu guter Letzt! Dieser Auskunft zufolge war Schöne eine Neigung zum Abenteuerlichen nicht fremd, und so wird man es nicht einfach nur ironisch lesen, wenn er zu dem vom Vater geerbten Porträt des Stuart-Königs mitteilt, es rufe ihm "bei Gelegenheit noch immer in Erinnerung, wie ich nicht werden sollte". Es gibt eine Treue der fortgesetzten Abweichung.
Im Rechenschaftsbericht über seine Berufsarbeit lässt sich Schöne mit größter Bestimmtheit ein. Es sticht ins Auge, dass er Widersacher stets beim Namen nennt, nicht nur in dem in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 15. November 2017) vorabgedruckten Lehrstück über 1968. Umschreibungen, die nur die Neugier reizen müssten, wären unter seiner Würde; fingierte Nachsicht ist keine. Man kann sich ausmalen, dass dieser selbstbewusste Herr der eigenen Worte auch als schroff erlebt werden konnte; vielleicht sah er sich deshalb von Zeit zu Zeit veranlasst, an das mahnende Exempel Karls I. zu denken.
Albrecht Schöne hat mit diesem Erinnerungsbuch zu Händen seiner Enkel einen Text von ähnlicher Bestimmung verfasst, wie ihn sein Geburtstagsbrief von der Hand seines Vaters hatte. Was möchte er den Adressaten sagen? Darüber müssen wir als Außenstehende nicht spekulieren, aber weil das Buch nicht als Privatdruck verbreitet wird, sei wenigstens eine Vermutung geäußert, im Namen derer, die als Leser Schönes so kühn sind, sich zu seinen Enkelschülern im Geiste zu gesellen. Der Herkunftszusammenhang einer geistigen Welt tritt uns in einer sprachlichen Gestalt vor Augen, für die das Klare und Deutliche konstitutiv sind. Markiert wird durch den Stil freilich auch, wie viel nicht artikuliert wird. Bürgerliche Bildung erweist sich als Mischungsverhältnis von direkter und indirekter Rede, Gesagtem und Ungesagtem.
Und das gilt auch für die außerliterarische Lebensthematik eines Deutschen vom Jahrgang 1925. Die erste Hälfte des durchgehend lehrreichen und stellenweise erschütternden Buches behandelt die Schicksale von Schönes Familie in der Hitlerzeit, die zweite seine akademische Laufbahn. Der Vater wurde strafversetzt, weil er die Hakenkreuzfahne nicht hisste, ein Onkel wäre beinahe vor den Volksgerichtshof gestellt worden, weil er nach der Schlacht von Stalingrad die Wahrheit ans Licht zu bringen versuchte, mit dem Mittel des Kettenbriefs. Albrecht Schöne erlebte das Kriegsende als Leutnant der Panzertruppe.
Die Mitte des Buches ist das Kapitel "Unter Holzfällern". Bei der Schwerstarbeit, die Schöne im Winter 1946/47, vor der Zulassung zum Studium, im Sauerland verrichtete, wurde fast gar nicht gesprochen. Unter den Männern waren Überlebende der Lager, Vertriebene, aber auch gestürzte Funktionäre des Regimes. Was der Abiturient über die jüngste Vergangenheit gehört oder gelesen hatte, "das stellten meine Arbeitsgenossen mir jetzt leibhaftig vor Augen". Fernab von der Familienwelt mit "Pfarrhaus" und "Schulbetrieb" kam "das Vergangene" über ihn "mit großer Gewalt". Ein Wort der Bibel wurde ihm "in gewisser Weise lebensbestimmend", in einer von der Erfahrung des Schweigens aufgedrängten Auslegung: der dreißigste Vers des siebten Kapitels des ersten Korintherbriefs, als Grundsatz einer Philosophie des Als-ob, des Lebens aus dem Konjunktiv. "Es fällt mir schwer, mich dabei verständlich zu machen." So viel glauben wir doch zu verstehen: Als befreiend erlebte Albrecht Schöne eine fortwirkende Hemmung. Das Emblem seines Lebens müsste ein Paradox zeigen: die durch Bindung gelöste Zunge.
PATRICK BAHNERS
Albrecht Schöne: "Erinnerungen".
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 334 S., geb., 28,- [Euro].
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»Seinem bedeutenden _uvre hat (Schöne) nun einen faszinierenden Lebensbericht hinzugefügt, mit dem er sich selbst das schönste Geschenk zum 95. Geburtstag macht.« (Peter-André Alt, Die ZEIT, 16.07.2020) »Ein Gelehrten- und Weltbuch, abenteuer- und figurenreich, lutherisch, freisinnig, altdeutsch, wie man es kaum noch einmal lesen wird.« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 06.07.2020) »Die Erinnerungen Albrecht Schönes bieten mehr als eine respektable Gelehrtenvita, sie versammeln sich zu einem kleinen Kaleidoskop der (Bildungs-)Geschichte des 20. Jahrhunderts.« (Harro Zimmermann, Frankfurter Rundschau, 17.07.2020) »Bestimmt waren (die 'Erinnerungen') ursprünglich nur für seine Enkel. Dass sie nun einem größeren Publikum zuteilwerden, ist ein Glücksfall.« (Maximilian Mengeringhaus, Der Tagesspiegel, 08.07.2020) »ein Buch über das 20. Jahrhundert, die Germanistik und das Leben eines Gelehrten (...). Nicht nur Germanisten oder Göttinger können es mit Gewinn lesen.« (Ronald Meyer-Arlt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.06.2020) »Eine ganz eigene wechselvolle deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und ein Werk aus dem man vieles lernt.« (Knut Cordsen, Bayern 2 Diwan, 12.07.2020) »Aus diesen Erinnerungen, der Auseinandersetzung mit Schönes Gedanken und Positionen werden viele Leser Anregung, Erkenntnis und Gewinn ziehen.« (Andreas Müller, Allgemeine Zeitung, 17.07.2020) »Albrecht Schönes 'Erinnerungen' erzählen auf faszinierende Weise von der Kunst des Lebens mit der Literatur.« (Michael Braun, Kölner Stadt-Anzeiger, 29.09.2020) »Albrecht Schönes Buch ist welt- und lebensklug, feinsinnig und kunstvoll erzählt - dem eigenen Anspruch entsprechend, so lesbar wie lesenswert.« (Thorsten Paprotny, literaturkritik.de, 01.10.2020)