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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ulrike Kolb hat eine Autobiographie verfasst
Sie hat immer damit gehadert, im Jahr der Wannseekonferenz, 1942, geboren zu sein. Die Schoa grundiert ihr Leben. "Mir war, als sei ich schmutzig, nicht verantwortlich, aber schmutzig", schreibt Ulrike Kolb in ihrer Autobiographie, und: "Ich bin keine richtige Deutsche, ich bin eine Sarroise." Eine Saarländerin, fast schon eine Französin. Aber das machte es auch nicht besser in den Augen ihres israelischen Freundes Yair Auron, dessen Vater vierzehn Geschwister in Auschwitz verlor. "Deine Familie hat die Nazis gewählt", musste sich Ulrike Kolb in Israel anhören. Erst 2007 fuhr sie nach Auschwitz/Birkenau, um sich allein dem Ort auszusetzen, an dem die Familien so vieler ihrer Freunde ermordet worden waren. "Wie kann ich begreifen, dass diese Verbrechen vor wenigen Jahren begangen wurden, zu der Zeit, als ich ein kleines Kind war? So nah", fragt sich die Schriftstellerin.
"Der Tod meiner Mutter hat mich in einen Erinnerungskanal gestoßen." Mit diesem Satz, der Tod und Geburt kurzschließt, beginnt das Buch. Eine Tochter aus gutem Hause, wuchs sie als Spross eines Süßwarenfabrikanten erst in Völklingen/Fenne, dann in Saarbrücken auf. Naturverbunden war sie nie, obwohl sie reiten lernte, um ihrem Vater, einem ehemaligen Mitglied der Reiter-SA, nachzueifern. Die erste Liebe zum Sohn der Reitlehrerin endet tragisch: Henki nimmt sich das Leben. Das Tagebuch, das sie in Form von Briefen an ihn verfasste, hat sie heute noch. "Bis heute" - diese Wortfügung wiederholt sich: Die Liebe zu Pferden, das Schwarzwald-Internat, lebenslange Treue zu Freunden - Ulrike Kolb vergisst nicht.
Am wenigsten die Schwachen, die Opfer. Denn die Autorin ist mit viel Empathie ausgestattet. Zuerst ist es nur Neugier, die sie nach den Frauen fragen lässt, "denen man die Achseln aufgeschnitten hatte, bevor man sie in kochend heißes Wasser gestoßen hat". Dann befreit sie sich von der Trauer um Henki ausgerechnet mit Eugen Kogons Buch "Der SS-Staat". Damit hat sie ihr Lebensthema gefunden. Zwischen dem ersten Kuss und dem Abitur entdeckt sie im Internat Chagall, mit ihm lernt sie das Judentum kennen, jenseits der Schoa. Das zweite Lebensthema: die unberechenbare Mutter, die von paranoiden Schüben heimgesucht wird, dem Luxus verfällt, Liebhaber sammelt und dem Vater das Leben schwermacht - wie den drei Kindern. Zuletzt aber ist die Autorin versöhnt mit ihr und zieht 2010 nach Berlin, um sich um sie zu kümmern: "Meine kleine Mami."
Der Reifeprüfung waren ruhelose Jahre gefolgt. In kurzen chronologischen Flashbacks, die ihr Buch leicht lesbar machen, erzählt Ulrike Kolb ohne jedwede Stilisierung von ihrer linken Sozialisation zwischen Frankfurt und Berlin. Nach einer existentialistischen Phase und der Kunstschule in Saarbrücken packen sie der revolutionäre Geist und Ungeist der Jugendbewegung von 1968. Sie studiert an der Pädagogischen Hochschule Berlin, heiratet, wird Mutter einer Tochter, lässt sich scheiden, wechselt die Wohngemeinschaften, gründet Kinderläden. Die RAF kommt ihr bedrohlich nahe, als Karl Dietrich (KD) Wolff, damals SDS-Vorsitzender, sie fragt, ob sie jemanden bei sich verstecken könne: "Aber mein Instinkt sagt nein." Der Antisemitismus ihrer linken Gefährten macht ihr zu schaffen. Immer wieder reist sie nach Israel, schließt Freundschaft mit dem Lyriker Tuvia Rübner und liest in Frankfurt die Bibel mit der Historikerin Cilly Kugelmann und dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik.
Wann hat sie angefangen zu schreiben? Keine Jahreszahl. Aber ihr erster Roman erscheint 1984: "Die Rabe" - ein autobiographisch gefärbtes Buch über eine Frau, der aus mangelndem Selbstvertrauen immer wieder die Sprache versagt. Für ihren "Roman ohne Held" (1997), in diesem Feuilleton vorabgedruckt, erhält sie beim Bachmann-Wettbewerb den Preis des Landes Kärnten. Ein Verriss durch das Literarische Quartett lähmt sie. Mit ihrem Roman "Yoram" über eine christlich-jüdische Mischehe findet sie 2009 endlich ihren Verlag: Wallstein. Doch je mehr sie sich der Gegenwart nähert, desto wortkarger wird sie. Erst in der letzten Miniatur erfährt man, dass sie seit 25 Jahren glücklich verheiratet ist. Psychoanalytisch versiert, weiß sie auch, dass Träume mindestens so wichtig sind wie Bücher. Deshalb endet ihr Buch mit einem Traum.
CLAUDIA SCHÜLKE
Ulrike Kolb:
"Erinnerungen so nah".
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 220 S., geb., 20,- [Euro].
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