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Haru Hamanaka widmet sich der Geschichte der Lichtenbergischen Figuren
Zufälle sorgten seit je für naturwissenschaftliche Entdeckungen. Archimedes' Auftriebserlebnis beim Sprung ins Bad, Thales' elektrostatische Erweckung beim Bernsteinreiben oder Newtons schwerkräftiger Apfelfall sind indes Legendenstoff. Als in Luigi Galvanis Labor aber ein Assistent gerade Funken an der Elektrisiermaschine schlug und ein anderer gleichzeitig ein Skalpell in einen Froschschenkel steckte, zeigte der synchron kontrahierende Muskel den ersten beobachteten Fall drahtloser elektrischer Fernwirkung an.
Auch Georg Christoph Lichtenberg, Experimentalphysiker und blitzdenkender Aphoristiker in Göttingen, hatte wiederholt solche Sternstunden. Eine der schönsten war im Frühjahr 1777. Bei der Arbeit am großen Elektrophor versank das Labor beim Abhobeln und Glätten eines Isolators aus Harz zum großen Ärger des Experimentators unter einer dicken Staubschicht. Doch der "Verdruß" verwandelte sich sogleich in "Vergnügen" und "Lust", als Lichtenberg auf einigen, offenbar statisch geladenen Teilen des Geräts "kleine Sterne, ganze Milchstraßen, und größere Sonnen", daneben "Strahlen", "kleine Ästchen", "kleine Wolken von mannigfaltiger Gestalt und Schattierung" und andere Staubformationen erblickte, die einerseits Eisblumen, andererseits aber der "erhabenen Arbeit" eines Künstlers glichen.
Was sich da als zufällige Beobachtung der bildenden Natur offenbarte, hielt der späteren experimentellen Wiederholung, Systematisierung und Variation stand. Haru Hamanaka hat dieser Entdeckung eine Studie gewidmet, die sich auf die frühe Rezeption des Phänomens, seine bildlichen Darstellungen und naturkundliche Entzauberung konzentriert.
Brisant war die Entdeckung aus mehreren Gründen. Sie vermochte die unsichtbare Elektrizität sichtbar zu machen, und die Versuche zeigten, dass positive Ladung sich in sternförmigen und negative sich in runden Gestalten niederschlug. Außerdem ergaben sich aus den zur Beschreibung herangezogenen Metaphern Analogien zur Astronomie, Meteorologie oder Farbentheorie und nicht zuletzt zu Befunden subjektiven Sehens, bei denen durch mechanischen Druck auf die Augen ähnliche Seheindrücke hervorgerufen werden. Versuche schließlich, Isolatoren linienförmig, etwa in Buchstabenform, mit elektrischer Ladung zu markieren, diese Spuren dann mit aufgestreutem Staub sichtbar zu machen und schließlich auf klebrigem Untergrund in fixierbare Bilder zu verwandeln, führten zu einer Geheimschreibekunst oder Steganographie. Dieses Prinzip liegt heute jedem Kopiergerät und Laserdrucker zugrunde.
Die Autorin versammelt Beschreibungsmodelle, diskutiert auch Eigenarten von Bildmedien wie Kupferstich, Mezzotinto und später der Fotografie. Entscheidend ist der Gedanke, dass bei diesen "Naturselbstdrucken" die Elektrizität und nicht der Mensch zeichnet, vergleichbar den frühen botanischen Fotogrammen, bei denen Pflanzen sich auf lichtempfindlichen Unterlagen abbilden. Lichtenberg spricht bei seinen Versuchen von einer Allianz von "Schönheit" und "Wichtigkeit". Wie bei den botanischen Abbildungsverfahren teilen Ästhetik und Naturforschung einen gemeinsamen Wissensraum.
Haru Hamanaka stellt das umfassend dar, kommt dabei freilich um eine gewisse Sprödigkeit nicht herum. Ihr Buch lädt auch zu prinzipiellen Fragen ein, beispielsweise nach der Tauglichkeit von Staubfiguren als Bindeglied zwischen C. P. Snows weit voneinander getrennten "Two Cultures" - zwischen Natur und Geist, Funktion und Zauber, Nützlichkeit und Schönheit.
ALEXANDER KOSENINA.
Haru Hamanaka: "Erkenntnis und Bild". Wissenschaftsgeschichte der Lichtenbergischen Figuren um 1800.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 224 S., geb., 34,90 [Euro].
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