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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Es kann nicht nur um Luther gehen: Eine Biographie revidiert das Bild Thomas Müntzers, und eine Reformationsgeschichte setzt europäische Akzente.
Das mit raschen Schritten heranrückende Reformationsjubiläum scheint zum Luther-Event, zur Dublette des Jubiläums von 1983 zu schrumpfen. Die Evangelische Kirche in Deutschland, als Gemeinschaft verschiedenkonfessioneller evangelischer Kirchen eigentlich zu einem weiteren Blick prädestiniert, arbeitet sich in Lobpreis und Distanzierung an dem Wittenberger Reformator ab, und der Buchmarkt quillt über von neuen, selten innovativen Lutherbüchern. Umso erfreulicher ist es, dass auch Werke erscheinen, die die Reformation als ein Geschehen präsentieren, für das Luther unleugbar entscheidende Bedeutung hatte, das aber vielstimmig war und das weit über Wittenberg, ja über Deutschland hinaus Kirche und Gesellschaft ergriff.
Siegfried Bräuers und Günter Voglers Monographie "Thomas Müntzer" ist ein Ereignis. Das Buch trägt nicht nur die Ergebnisse der Forschung über den "radikalen" Reformator Müntzer zusammen, die in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Autoren selbst erarbeitet wurden. Es spiegelt auch die konstruktive Auflösung einer jahrzehntelangen ideologischen und geschichtspolitischen Auseinandersetzung während der vorletzten Phase der deutschen Geschichte. Hatte doch die DDR einst in den Spuren Friedrich Engels' Müntzer zum revolutionären Vorläufer ihrer selbst stilisiert, dem Martin Luther als der konterrevolutionäre Fürstenknecht entgegengehalten wurde.
Dieser Sicht, die das überlieferte Bild beider radikal in Frage stellte, wurde von kirchenhistorischer Seite vehement widersprochen. Doch im Laufe der Zeit wich der literarische Krieg der Annäherung, ja der wechselseitigen Befruchtung. Auf der einen Seite nahm der zweite deutsche Staat, einer legitimierenden Verankerung in der deutschen Geschichte bedürftig, mit dem Paradigma der von Luther verkörperten "frühbürgerlichen Revolution" den Wittenberger bald als "einen der größten Deutschen" für sich in Anspruch. Die offizielle Geschichtsschreibung akzeptierte Frömmigkeit und Theologie als Elemente, die auf dieser Stufe der historischen Entwicklung legitim gewesen und auch für den nun zurücktretenden Müntzer in Anschlag zu bringen seien. Auf der anderen Seite rückte die Kirchengeschichtswissenschaft davon ab, in Luther das Maß aller reformatorischen Dinge zu sehen, und begann, Müntzer unbefangen zu betrachten.
Dabei wurden nicht nur die ethischen Motive hinter dessen Aufrufen zum gewaltsamen Umsturz gewürdigt, sondern der "radikale" Reformator kam auch als Theologe und Liturgiker in den Blick, der zwar von Luther gelernt hatte, doch dessen Anstöße mit anderen Einflüssen zu einem eigenständigen Entwurf christlichen Lebens entwickelte. Damit ist bereits das Programm des vorliegenden Buches skizziert. Denn die beiden Autoren, der eine einst ein führender Vertreter des Paradigmas der "frühbürgerlichen Revolution", der andere einer der gelehrtesten Reformationshistoriker der DDR, sind Exponenten dieser doppelten, aufeinander zuführenden Bewegung.
In ihrem Buch, dessen eher theologische Kapitel Bräuer, dessen stärker sozialgeschichtlich orientierte Kapitel Vogler verfasst hat, mündet diese Bewegung in die Präsentation einer theologisch-politischen "Alternative" zum Wittenberger Programm, die nicht ausgeblendet werden darf, wenn von der Reformation gesprochen wird. Man wünscht dem Buch eine baldige zweite Auflage. In ihr könnten dann manche Längen und vor allem der Mangel an sprachlicher Lektorierung behoben werden.
Thomas Kaufmanns "Erlöste und Verdammte" hat nicht eine einzelne Gestalt der Reformation zum Gegenstand, sondern das große Panorama. Nach seiner deutschen Reformationsgeschichte (2009, erweitert 2016), in dieser Zeitung zu Recht als "großer Wurf" bezeichnet, legt Deutschlands führender evangelischer Kirchenhistoriker der mittleren Generation hier eine Darstellung der Reformationsgeschichte Europas vor. Denn die Reformation war "von ihren ersten Anfängen an", nicht erst, wie oft behauptet, in ihrer calvinistischen Phase, ein europäisches, "internationales Ereignis". Und so werden, eingezeichnet in eine Skizze dessen, was Europa und die europäische Christenheit lateinischer Prägung politisch, kirchlich, kulturell um 1500 waren, das Aufkeimen, die Entwicklung und die Institutionalisierung oder Beseitigung der Reformation von Skandinavien und England bis Italien, von Spanien bis ins Baltikum und nach Siebenbürgen ins Auge gefasst. Angesichts dessen, dass Kaufmann diese tour d'horizon auf knappem Raum zu leisten hat, muss er im Wesentlichen verlässliches Konsenswissen bieten.
Grundlegend für seine Sicht der Reformation ist, dass er eine theologiegeschichtliche Engführung ablehnt. Das heißt, nicht schon die neuen theologischen Einsichten Luthers, Zwinglis, Calvins und anderer machen die Reformation aus. Sondern die Reformation ist erst deren Umsetzung in Aktion und kirchlich-gesellschaftliche Veränderung. Konkret bestimmt Kaufmann als europäische Reformation die mit Luthers Ablasskritik einsetzenden Umwälzungen, in deren Folge die römisch-katholische Kirche in unterschiedliche Konfessionen auseinanderbrach und von Rom unabhängige lokale, territoriale und nationale protestantische Kirchen entstanden. Das Ende dieser Umwälzungen und damit der Reformation sieht er dort, wo die neugebildeten Konfessionen institutionell gefestigt und rechtlich abgesichert waren. Aufs Ganze Europas gesehen, war dieser Prozess am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, mit dem Edikt von Nantes in Frankreich (1598), abgeschlossen. Kaufmann führt seine Präsentation des "reformatorischen Europas" denn auch bis 1600.
Mit dem Einsatz bei Luthers Ablasskritik, die für Kaufmann ebenso banal wie wahrscheinlich mit dem Anschlag der 95 Ablassthesen am Schwarzen Brett der Wittenberger Universität, der Schlosskirchentür, verbunden war, steht für seine Darstellung fest: So vielfältig und international die Reformation auch wurde - "am Anfang war Luther". Deshalb muss auch in einer Darstellung der europäischen Reformation, die weit über Luther hinaus und nicht selten auch von ihm wegführte, mit Nachdruck von diesem Ausgangspunkt die Rede sein. Entstand doch "keine der reformatorischen Bewegungen und Veränderungsprozesse in den einzelnen europäischen Ländern ... unabhängig von Luther und den Vorgängen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", die er auslöste.
Diese fundamentale Rolle Luthers war den historischen Konstellationen um 1520 in Deutschland geschuldet. Kaufmann macht verschiedene kirchliche, kulturelle und politische Faktoren aus, die zu Luthers Wirkung beitrugen, vor allem aber stellt er die durch die Erfindung des Buchdrucks gegebenen Möglichkeiten der Publizistik heraus. Luther hatte Erfolg, ja, er überlebte, weil der Druck den Raum einer potentiell unendlichen Öffentlichkeit schuf, die ihn schützte und die seine Gedanken unabhängig von allen Repressionen uneinholbar in der Welt hielt. So war Luther, im Unterschied zu dem vor Erfindung des Drucks wirkenden und auf dem Scheiterhaufen endenden Jan Hus, "der erste rechtskräftig verurteilte Ketzer, der sein Überleben dem Printmedium verdankte". Umgekehrt war er der Erste, der, im Dienst seiner enormen schriftstellerischen Begabung, die Möglichkeiten entdeckte und nutzte, die dieses neue Medium seinen Worten verlieh.
Kaufmann führt den ungeheuren Erfolg, den Luthers Schriften durch den Druck hatten, nicht allein für Deutschland vor. Sondern er zeigt auch quer durch die lateineuropäischen Länder und Regionen, wie dort schon sehr früh Lutherdrucke vertrieben wurden, ihre Leser fanden und eigene reformatorische Impulse auslösten. In diesen präzise belegten Befunden sieht er die Wurzel der "Europäizität der Reformation" - das macht die spezifische Sicht seiner Reformationsgeschichte aus. Mit dem publizistischen Erfolg war die Verbreitung bestimmter Kernanliegen des gerade zum Reformator werdenden Wittenbergers gegeben. Es waren Anliegen von einer noch vorkonfessionellen, "vorlutherischen" evangelischen Offenheit, wie sie die ersten Jahre der Reformation kennzeichneten: die Berufung auf die Bibel allein, die zentrale Stellung des Glaubens, der geistliche Rang der Laien, die Ablehnung der diesen Anliegen widersprechenden römischen Kirche.
In den folgenden Jahren gerannen sie zu Konzeptionen, in denen sie, präzisiert, fortgeschrieben und mit den Einsichten unterschiedlicher Bewegungen und Reformatoren verschmolzen, nun als lutherische, reformierte, "radikale" und andere in Gegensatz zueinander traten. Und in den meisten Fällen verbanden sie sich, der politischen Unterstützung der Gegenreformation Paroli bietend, mit der Obrigkeit und wurden, den frühreformatorischen Impulsen widersprechend, zu "verstaatlichter Religion". Für den neuzeitlichen Protestantismus bildet die Reformation den identitätsstiftenden Referenzpunkt wegen des "Zaubers", der von jenem offenen vorkonfessionellen und vorstaatlichen Anfang ausgeht. Ein Zauber, den der Autor am Schluss selbst noch einmal beschwört.
DOROTHEA WENDEBOURG.
Thomas Kaufmann: "Erlöste und Verdammte". Eine Geschichte der Reformation.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 508 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Siegfried Bräuer und Günter Vogler: "Thomas Müntzer". Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie.
Gütersloher Verlagshaus, München 2016. 542 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Anfang war die Druckerpresse
Protestsongs, Flugblätter und theologische Schaukämpfe: Thomas Kaufmann erzählt in seinem neuen Buch
„Erlöste und Verdammte“ die Geschichte der Reformation als Kommunikationsgeschichte
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Erinnerung an die Reformation im kommenden Jahr wird für lange Zeit die bedeutendste Gedenkfeier in Deutschland sein. Auch wem der Luther-Rummel schon jetzt an den Nerven zehrt, kann nicht leugnen, dass es so bald kein vergleichbares kulturelles Großereignis geben wird. Das hat sein tieferes Recht. Denn – was nur wenige wissen – unsere heutige Erinnerungskultur verdankt sich der Reformation. Was wir als öffentlich begangenes Geschichtsgedenken kennen, ist eine Spätfolge des frühen Protestantismus. Die erste Jahrhundertfeier des sogenannten Thesenanschlags im Jahr 1617 setzte ganz bewusst die historische Memoria an die Stelle der Jubeljahre, welche die Papstkirche für ihre Ablässe inszenierte. Nicht ein frommer Handel, sondern die Erinnerung an ein beglückendes Ereignis sollte gefeiert werden. Die heutigen Gedenkfeiern für Kriegsanfänge und Friedensschlüsse, epochale Menschheitsverbrechen und humane Neuaufbrüche, verdanken sich den ersten protestantischen Reformationsjubiläen.
Nur würde man gern wissen, was im kommenden Jahr genau gefeiert werden soll. Zwar ist kaum eine Epoche so gründlich erforscht wie das 16. Jahrhundert, doch in der Bevölkerung ist – abgesehen von einigen Klischees, die im 19. Jahrhundert entstanden sind – davon wenig bekannt. Und die Fachleute bieten, wie sollte es anders sein, eine Vielfalt widersprüchlicher Deutungen an. Zum Glück hat nun Thomas Kaufmann eine Reformationsgeschichte veröffentlicht. Der Göttinger Kirchenhistoriker, einer der besten Kenner dieser Zeit, hat mit seinen Interventionen schon wichtige Debatten ausgelöst. Kirchliche Versuche, auf 2017 einzustimmen, hat er zum Teil scharf kritisiert. Von ihm möchte man gern wissen, was er unter einem angemessenen Gedenken versteht.
Kaufmann trifft zwei glückliche Grundentscheidungen. Erstens verordnet er sich, obwohl er nicht nur Historiker, sondern auch evangelischer Theologe ist, eine strikte Historisierung. Kühl erzählt er, wie es damals wirklich gewesen ist – ohne flinke Aktualisierung und ideenpolitische Vereinnahmung. Konsequent führt er seine Leser aus dem langen Schatten des 19. Jahrhunderts heraus und befreit sie von den immer noch wirkmächtigen Geschichtsfälschungen des deutschnationalen Lutherismus. Fast vollständig verzichtet er auf all die epochalen Pathosfloskeln, mit denen üblicherweise der Nutzen dieser Geschichte für die Gegenwart beschworen wurde. So verschafft sein Buch dem Leser erst einmal eine befreiende ideologiekritische Ausnüchterung. So gewinnt man einen unbefangenen Eindruck von der erregenden Dynamik der damaligen Ereignisse.
Dies liegt auch an Kaufmanns zweiter Grundentscheidung. Er erzählt die Reformationsgeschichte als Kommunikationsgeschichte. Die Reformation ist für ihn nur zu verstehen, wenn man sie als eine neuartige Gestalt von Publizität betrachtet. Luther und seine Mitstreiter profitierten ungeheuer von einer bis dahin unbekannten Form der Öffentlichkeit, die sie selbst herstellten. Die Reformation ist für Kaufmann ein höchst bewegter öffentlicher Raum aus Reden, Predigten, Debatten, Büchern, Flugschriften, Bildern und Zeichenhandlungen. Die Geschichte der reformatorischen Theologie ist nicht zu denken ohne die Geschichte der Medienrevolutionen ihrer Zeit – und umgekehrt.
Buchdruck, Bibelübersetzung und frühe Kampfpresse, Choräle als Protestsongs, Disputationen und theologische Schaukämpfe, Cranach’sche Bildpropaganda – hier ist alles Kommunikation. Indem Kaufmann die Reformations- als Kommunikationsgeschichte erzählt, unterläuft er viele falsche Alternativen, wie die zwischen Theologie- und Kulturgeschichte, Ideen- und Ereignisgeschichte, Geschichte großer Männer und kleiner Leute, Zuordnung zur Moderne oder zum Mittelalter. „In vier Wochen“, so hat ein erstaunter Zeitgenosse berichtet, hätten Luthers 95 Thesen gegen den Ablass „schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer“.
Mit einer „Beherztheit, Experimentierfreudigkeit und wachsenden Virtuosität“, die Kaufmann dann doch als epochal kennzeichnen muss, haben die Reformatoren den Buchdruck und die Öffentlichkeit für sich genutzt. Eine herausgehobene Rolle spielte dabei Luther selbst. Er war nicht nur ein außerordentlich begabter, vielseitiger und immens erfolgreicher Autor, für ihn war das Schreiben in extremer Weise sein Leben selbst. Denn, so Kaufmann: „Luther schrieb um sein Leben, er rettete sich durch seine Schriften, durch sein Schreiben.“ Der Buchdruck war für ihn nicht ein Medium unter anderen, er war sein Lebenselixier. Nur die Öffentlichkeit, die er sich selbst erschrieben hatte, ließ ihn über das kirchliche Ancien Régime siegen, sicherte sein persönliches Überleben und das seiner Gedanken.
Es war für die Papstkirche eine bittere und späte Erkenntnis, dass sie – außer in Italien und Spanien – mit ihren Unterdrückungsinstrumenten gegen die reformatorische Öffentlichkeit nicht ankam. Plötzlich konnte sie religiöse Abweichung nicht mehr physisch ausrotten und die Erinnerung an einen grundsätzlichen Dissens nicht mehr gewaltsam löschen. Damit steht die Reformation – ihren eigenen Gewaltpotenzialen und Luthers Verbalexzessen zum Trotz – für die immer noch aufregende Erfahrung, dass manchmal ein freies Wort der Gewalt doch standhalten kann.
Wie Kaufmann diese Geschichte erzählt, ist ein Lesegenuss. Als Laie wird man sicher, aber nie schulmeisterlich über verschlungene Wege geführt und hat am Ende einen weiten, klaren Überblick. Aber auch als Kenner kann man hier viel lernen – manches Detail, vor allem aber, wie man einen komplexen Stoff in einem immer noch erregten Forschungsfeld souverän disponiert, um schließlich überzeugende Urteile zu bilden.
Dies gelingt Kaufmann in einer ebenso eleganten wie verständlichen Sprache. Ein Beispiel unter vielen ist der Satz, mit dem er Luthers persönliche Veränderung nach dem Bauernkrieg auf den Punkt bringt: „Dieser Luther war nicht mehr der einzigartige Held von Worms, der bewunderte Prediger, der maßlos erfolgreiche literarische Tröster – er war ein aufgewühlter, von Konflikten heimgesuchter, überforderter Theologe, der der Geister, die er ge- und hervorgerufen hatte, nicht Herr zu werden vermochte und dessen Wirkungsradius sich zu verkleinern begann.“
Kaufmanns großer Wurf hat einen Vorgänger. Vor sieben Jahren veröffentlichte er im „Verlag der Weltreligionen“ eine Reformationsgeschichte, die schon sein Programm enthielt. Aber sie war eher ein anstrengendes Arbeitsbuch für Experten als eine Orientierungshilfe für ein breiteres Publikum. Zudem war sie noch auf den deutschen Raum beschränkt. Kaufmanns neue Reformationsgeschichte dagegen weitet den Blick ins Europäische, ja ins Globale, und würdigt auch die anderen Spielarten des Protestantismus mit großer historischer Fairness. Das ist für ein deutsches Lesepublikum, das nur seinen Luther, aber nicht Calvin oder die Täufer kennen will, immer noch sehr notwendig.
Hat man dieses Buch durchgelesen, stellen sich fast zwangsläufig Assoziationen zwischen den europäischen Konflikten von damals und den heutigen ein: zum Beispiel der Brexit und die Loslösung Englands von der Weltkirche, die EU-Freundlichkeit der Schotten und die Internationalität der Reformierten unter John Knox oder die Fluchterfahrungen der Calvinisten. Auch ein deutsches Erbe aus dieser Zeit erscheint in einem neuen Licht. Der Augsburger Religionsfrieden steht für einen guten deutschen Sonderweg. Da man hier die Erfahrung machte, dass keine Seite siegen konnte, musste man sich an das Faktum der Pluralität gewöhnen, konfessionelle Vielfalt ertragen, ihr einen rechtlichen Rahmen geben und Kompromisse einüben. Qualvoll und unter großen Opfern wurde dies eingesehen und sollte das deutsche Religionsrecht bis heute prägen.
Eine kurze Frage zum Schluss: Wenn die Reformation ihre Wirkung dem Wechselspiel mit der Weltneuerfindung des Buchdrucks verdankte, wie hält es dann der heutige Protestantismus mit dessen Wiedergänger, dem Internet? Wenn nicht alles täuscht, gibt es hier keine dynamische Wahlverwandtschaft. Sollte man sich darüber Sorgen machen oder sich lieber darüber freuen, dass die evangelische Theologie immerhin noch dann und wann so gute Bücher hervorbringt wie dieses?
Bereit zum Jubiläumsjahr 2017: Martin-Luther-Magneten.
Foto: dpa
Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation. C. H. Beck Verlag, München 2016. 508 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Klaus Unterburger, sehepunkte, 15. Oktober 2017
"Ein kulturgeschichtlicher Thriller."
Michael Kluger, Frankfurter Neue Presse, 1. Juli 2017
"This illuminating and wide-ranging history brings together an extraordinary wealth of knowledge of the Reformation and its history."
Charlotte Methuen, The Times, Mai 2017
"Brillante, tiefgehende Reformationsgeschichte."
Cord Aschenbrenner, Neue Zürcher Zeitung, 1. April 2017
"Ausgezeichnet gelungen."
Gießener Allgemeine, 4. Februar 2017
"Das beste Buch zum Jubiläum."
Johann Hinrich Claussen, Die Zeit, 29. Dezember 2016
"Eine äußerst faktenreiche Geschichte dieser Bewegung (...), die Europa in Aufruhr versetzte."
Der SPIEGEL, 29. Oktober 2016