Was, wenn in der Geschichte Europas zwei Dinge anders gelaufen wären? Erstens: Die Wikinger wären mit Pferden und eisernen Waffen bis nach Südamerika gesegelt. Zweitens: Kolumbus hätte Amerika nicht entdeckt. In diesem Fall erobern die Inkas Europa. Sie landen im 16. Jahrhundert in Portugal, besiegen Karl V. in Frankreich und die Anhänger der Inquisition in Spanien. In Deutschland helfen ihnen die Fugger, das viele Gold zu verteilen. Im Herzen von Paris wird eine Pyramide errichtet, in Wittenberg schlägt man nach Luthers Tod die "95 Thesen der Sonne" an. Federschmuck ziert die Häupter der Europäer, auf den Feldern wächst Chinoa, Schafe sind heilig... Wie ginge es uns heute, fragt Binet, wären wir statt der kapitalistischen Ideologie den Lehren des Inkahäuptlings Atahualpa gefolgt? Eine mit sprühendem Witz geschriebene Alternativweltgeschichte, ein fulminantes Vexierspiel, ein brillanter Abenteuerroman. Laurent Binets Bücher sind internationale Bestseller, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die "Eroberung" Europas durch die Inkas wird in zwanzig Sprachen übersetzt und als Serie verfilmt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dem Rezensenten Tilman Spreckelsen zufolge fabuliert Laurent Binet hier aus, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, wenn der spanische Abenteurer Francisco Pizarro das Inkareich nicht erobert hätte. Diese, wie der Kritiker findet, gut begründete Wendung mündet in einer Eroberung Europas durch die Inka und die Mexikaner, für deren Beschreibung der Autor kunstvoll die verschiedenen Stile historischen Erzählens imitiert, so Spreckelsen. Den Zweck dieses literarischen Experiments sieht der Kritiker in der Betonung, dass in einer globalisierten Welt nicht mehr zwischen eigener und fremder Bevölkerung unterschieden werden könne.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2020Der Sonnenkult des Martin Luther
In Laurent Binets Roman „Eroberung“ kolonisieren die Inka Europa. Eine Umkehrung der Weltgeschichte und des exotisierenden
Blicks. Ist das ein Beitrag zur Selbstrelativierung oder ein besonders verdrehter Ethnozentrismus?
VON JOSEPH HANIMANN
Der große Rummelplatz „Geschichte“ ist für Autoren wie Laurent Binet ein Bauklötzchenspiel. Man zieht ein Klötzchen weg, schiebt ein anderes dazwischen, und schon sieht die Welt anders aus. Bei der historischen Postfiktion vom Anschlag auf den Naziführer Heydrich 1942 im Roman „HHhH“, der diesen Schriftsteller vor zehn Jahren bekannt machte, wurde der Unterschied zwischen dokumentierter und erfundener Realität noch ausdrücklich mitreflektiert. In diesem neuen Roman ist das nicht mehr der Fall. Die Geschichte vom Anfang unserer Neuzeit verläuft hier diskussionslos einfach ganz anders, als wir sie kennen. Der Erzähler ist Herr seiner Sache.
Christoph Kolumbus, der am 27. November 1492 in seinem Tagebuch Ihrer Hoheit, dem spanischen Königshaus, noch stolz versichert, sie würde in den von ihm entdeckten neuen Gebieten Städte und Festungen bauen und die Leute zum richtigen Glauben bekehren, scheitert letztlich in seiner Mission. Seine Schiffe La Niña und La Pinta werden an den Ufern des vermeintlichen Cipango von den Ortsbewohnern gekapert, und ausgerechnet am Weihnachtstag muss er dann auch machtlos vom Ufer aus mit ansehen, wie das ihm ebenfalls entwendete Hauptschiff krachend auf ein Felsenriff läuft.
Im Kampf gegen die übermächtigen Indios kommen die Spanier nicht an. Nackt, wie die Primitiven zu seiner Verwunderung bei der Ankunft es waren, wird Kolumbus vor den König der Insel geführt, der Näheres über das Land seiner Herkunft erfahren will. In der Hofgesellschaft darf der Fremde zwar die eine oder andere Cohiba mitrauchen. Als schließlich letzter überlebender Gefangener muss er sich aber mit dem Gedanken abfinden, dass er Spanien nie mehr sehen würde und am Hof dort wohl schon lange vergessen sei. Im März 1493 hört die Datierung seiner Tagebucheintragungen auf. Was ist hier schiefgegangen?
Den Schlüssel zur Antwort liefert Binet im ersten Kapitel seines Romans. Ein paar Jahrhunderte zuvor hatte ein norwegischer Bauer wegen Streiterei mit dem Nachbarn sein Land verlassen müssen und war mit seinen Leuten über Island nach Grönland gekommen. Von dort ging die Wanderschaft der Wikinger dann der Küste entlang über Kuba, Mexiko, Panama weiter bis ins Land der Inka. Die Kontakte zu den jeweiligen Völkern waren bald kriegerisch, bald freundschaftlich gewesen.
Die Einwanderer fanden Geschmack an den außen knackigen, innen saftigen goldgelben Körnern, von denen die Einheimischen sich ernährten. In ihrem Tross brachten sie wiederum Pferde, Eisengeräte und für die Indios verhängnisvolle Viren mit. Manche Völker überstanden aber die Epidemien. Und genau solche Dinge wie Antikörper, Eisenverarbeitung für Pfeilspitzen, Pferde fürs schnelle Vorankommen waren es, die ihnen später halfen, sich gegen die Expedition aus Europa zu behaupten.
Binet erzählt das alles in groben Zügen und verrät sein Talent für unterschiedliche narrative Register. Trifft er im Eingangskapitel von den Abenteuern der Wikinger den harschen Ton mittelalterlicher Heldensagen, in denen das Schwert stets schneller ist als die Zunge, so wechselt er in den „Fragmenten aus dem Tagebuch des Christoph Kolumbus“ zum Stil gewundener Wortschleimerei aus Unterwürfigkeit und Gottesgefälligkeit. Doch ist das alles nur Vorgeschichte zum Hauptteil des Romans.
In den Weiten zwischen Urwald und dem Hochland von Quito nämlich, über die sich das stolze Inkareich der „Vier Weltteile“ erstreckt, ist es bei der Erbfolge zum Krieg zwischen zwei Halbbrüdern gekommen. Atahualpa wird von Huascar bis hinab an die Strände Kubas verfolgt und weiß dort nicht mehr weiter. „Die Antwort liegt vor euch“, sagt die kubanische Königstochter zu ihm und zeigt aufs Meer.
Am Strand liegen noch die Schiffe der Spanier, deren Kapitän die Kubanerin in jungen Jahren persönlich gekannt hat. Das Holz dieser Schiffe ist zwar angefault, doch sind sie bald repariert. Und selbst die Seekarten sind noch da. Mögen zwar Atahualpas Leute sie nicht recht zu deuten wissen, stechen sie doch mutig in See und kommen ein paar Wochen später heil in Lissabon an, wegen den Verwüstungen eines Erdbebens von den Einwohnern dort allerdings zunächst kaum bemerkt.
Was Binet in den „Atahualpa-Chroniken“ seines Romans nun vor uns entfaltet, ist ein Husarenritt durchs Europa von Inquisition, Religions- und Bauernkriegen, des sich ausbreitenden Geists der Renaissance, der Spannungen zwischen Kaiser und Papst, des vom Südosten hereindrängenden Osmanischen Reichs. Den Indios kommt da vieles absonderlich vor.
Binet setzt das seit Montesquieus „Persischen Briefen“ beliebte literarische Verfahren, durch Blickverkehrung das uns Vertraute fremdartig zu machen, jedoch behutsam ein. Allenfalls ein paar Essgewohnheiten, Bekleidungsformen oder die seltsame Art der Leute, mit der Hand Stirn, Brust und Schultern zu berühren vor einem an zwei gekreuzte Holzbalken genagelten Gott, verwundern die Ankömmlinge.
Atahualpa ist indessen ein praktisch denkender Mensch. Er lernt schnell und findet in den Schriften eines Italieners namens Machiavelli nützliche Lehren für seine Ziele. Den an zu vielen Fronten beschäftigten Habsburger Karl V. hat er bald ausgeschaltet und in der Alhambra eingesperrt. Den deutschen Unruhestifter Luther hingegen will er dazu einsetzen, in Europa ein neues Reich des „Fünften Weltteils“ zu errichten. Denn ist Luthers gegen Rom gerichtete Verinnerlichung der Religion nicht als Variante des Sonnenkults der Inkas umzudeuten, den der neue Herrscher in Europa einführen will? Jeder glaube, was ihm beliebt, solang er jährlich das imperiale Sonnenfest respektiert.
Bestürzt schreibt Thomas Morus an Erasmus in Freiburg, dass König Henry sich zum neuen Sonnenkult bekehren wolle, weil er die Polygamie erlaube und eine Lösung für seinen Konflikt mit Rom bringe. Feierlich wird Atahualpa in Aachen zum Kaiser gekrönt. Lorenzino de Medici bringt ihm Michelangelo mit, der Statuen des Sonnengotts entwirft und für den dem mexikanischen Reich hörigen französischen König Franz I. im Pariser Louvre eine Monumentalpyramide baut.
Die Fantasie galoppiert dem Autor manchmal davon, das Erzählstakkato läuft heiß. Figuren wie Melanchton oder Karl V. wirken nicht ganz glaubwürdig. Manche Kritiker wandten ein, dass das Buch gesteigerter Eurozentrismus sei. Selbst die Waffen gegen die europäischen Eroberer würden den Fremden hier von Europa geliefert und die Inkakultur bleibe bloße Kulisse. Doch so will es nun einmal das Genre der Eigenspiegelung im Fremden. Korrekte Ausgewogenheit und Rehabilitierung des „Anderen“ ist nicht die Absicht dieses Romans, dessen Originaltitel in Anspielung auf eine berühmte Computerspielserie von Sid Meier „Civilizations“ heißt. Binets Roman ist ein großer Spaß in jeder Hinsicht, vom Übersetzer kundig und elegant durchs Labyrinth enormer Gelehrsamkeit gesteuert.
Laurent Binet: Eroberung. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 383 Seiten, 24 Euro.
Antikörper und Pfeilspitzen
halfen ihnen, sich gegen die
Europäer zu behaupten
Atahualpa in Aachen zum Kaiser
gekrönt, Michelangelo baut eine
Pyramide im Pariser Louvre
Fast wäre alles anders gekommen: John Everett Millais’ Gemälde „Eroberung der Inka von Peru“, 1846.
Abb.: Imago / United Archives International
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Laurent Binets Roman „Eroberung“ kolonisieren die Inka Europa. Eine Umkehrung der Weltgeschichte und des exotisierenden
Blicks. Ist das ein Beitrag zur Selbstrelativierung oder ein besonders verdrehter Ethnozentrismus?
VON JOSEPH HANIMANN
Der große Rummelplatz „Geschichte“ ist für Autoren wie Laurent Binet ein Bauklötzchenspiel. Man zieht ein Klötzchen weg, schiebt ein anderes dazwischen, und schon sieht die Welt anders aus. Bei der historischen Postfiktion vom Anschlag auf den Naziführer Heydrich 1942 im Roman „HHhH“, der diesen Schriftsteller vor zehn Jahren bekannt machte, wurde der Unterschied zwischen dokumentierter und erfundener Realität noch ausdrücklich mitreflektiert. In diesem neuen Roman ist das nicht mehr der Fall. Die Geschichte vom Anfang unserer Neuzeit verläuft hier diskussionslos einfach ganz anders, als wir sie kennen. Der Erzähler ist Herr seiner Sache.
Christoph Kolumbus, der am 27. November 1492 in seinem Tagebuch Ihrer Hoheit, dem spanischen Königshaus, noch stolz versichert, sie würde in den von ihm entdeckten neuen Gebieten Städte und Festungen bauen und die Leute zum richtigen Glauben bekehren, scheitert letztlich in seiner Mission. Seine Schiffe La Niña und La Pinta werden an den Ufern des vermeintlichen Cipango von den Ortsbewohnern gekapert, und ausgerechnet am Weihnachtstag muss er dann auch machtlos vom Ufer aus mit ansehen, wie das ihm ebenfalls entwendete Hauptschiff krachend auf ein Felsenriff läuft.
Im Kampf gegen die übermächtigen Indios kommen die Spanier nicht an. Nackt, wie die Primitiven zu seiner Verwunderung bei der Ankunft es waren, wird Kolumbus vor den König der Insel geführt, der Näheres über das Land seiner Herkunft erfahren will. In der Hofgesellschaft darf der Fremde zwar die eine oder andere Cohiba mitrauchen. Als schließlich letzter überlebender Gefangener muss er sich aber mit dem Gedanken abfinden, dass er Spanien nie mehr sehen würde und am Hof dort wohl schon lange vergessen sei. Im März 1493 hört die Datierung seiner Tagebucheintragungen auf. Was ist hier schiefgegangen?
Den Schlüssel zur Antwort liefert Binet im ersten Kapitel seines Romans. Ein paar Jahrhunderte zuvor hatte ein norwegischer Bauer wegen Streiterei mit dem Nachbarn sein Land verlassen müssen und war mit seinen Leuten über Island nach Grönland gekommen. Von dort ging die Wanderschaft der Wikinger dann der Küste entlang über Kuba, Mexiko, Panama weiter bis ins Land der Inka. Die Kontakte zu den jeweiligen Völkern waren bald kriegerisch, bald freundschaftlich gewesen.
Die Einwanderer fanden Geschmack an den außen knackigen, innen saftigen goldgelben Körnern, von denen die Einheimischen sich ernährten. In ihrem Tross brachten sie wiederum Pferde, Eisengeräte und für die Indios verhängnisvolle Viren mit. Manche Völker überstanden aber die Epidemien. Und genau solche Dinge wie Antikörper, Eisenverarbeitung für Pfeilspitzen, Pferde fürs schnelle Vorankommen waren es, die ihnen später halfen, sich gegen die Expedition aus Europa zu behaupten.
Binet erzählt das alles in groben Zügen und verrät sein Talent für unterschiedliche narrative Register. Trifft er im Eingangskapitel von den Abenteuern der Wikinger den harschen Ton mittelalterlicher Heldensagen, in denen das Schwert stets schneller ist als die Zunge, so wechselt er in den „Fragmenten aus dem Tagebuch des Christoph Kolumbus“ zum Stil gewundener Wortschleimerei aus Unterwürfigkeit und Gottesgefälligkeit. Doch ist das alles nur Vorgeschichte zum Hauptteil des Romans.
In den Weiten zwischen Urwald und dem Hochland von Quito nämlich, über die sich das stolze Inkareich der „Vier Weltteile“ erstreckt, ist es bei der Erbfolge zum Krieg zwischen zwei Halbbrüdern gekommen. Atahualpa wird von Huascar bis hinab an die Strände Kubas verfolgt und weiß dort nicht mehr weiter. „Die Antwort liegt vor euch“, sagt die kubanische Königstochter zu ihm und zeigt aufs Meer.
Am Strand liegen noch die Schiffe der Spanier, deren Kapitän die Kubanerin in jungen Jahren persönlich gekannt hat. Das Holz dieser Schiffe ist zwar angefault, doch sind sie bald repariert. Und selbst die Seekarten sind noch da. Mögen zwar Atahualpas Leute sie nicht recht zu deuten wissen, stechen sie doch mutig in See und kommen ein paar Wochen später heil in Lissabon an, wegen den Verwüstungen eines Erdbebens von den Einwohnern dort allerdings zunächst kaum bemerkt.
Was Binet in den „Atahualpa-Chroniken“ seines Romans nun vor uns entfaltet, ist ein Husarenritt durchs Europa von Inquisition, Religions- und Bauernkriegen, des sich ausbreitenden Geists der Renaissance, der Spannungen zwischen Kaiser und Papst, des vom Südosten hereindrängenden Osmanischen Reichs. Den Indios kommt da vieles absonderlich vor.
Binet setzt das seit Montesquieus „Persischen Briefen“ beliebte literarische Verfahren, durch Blickverkehrung das uns Vertraute fremdartig zu machen, jedoch behutsam ein. Allenfalls ein paar Essgewohnheiten, Bekleidungsformen oder die seltsame Art der Leute, mit der Hand Stirn, Brust und Schultern zu berühren vor einem an zwei gekreuzte Holzbalken genagelten Gott, verwundern die Ankömmlinge.
Atahualpa ist indessen ein praktisch denkender Mensch. Er lernt schnell und findet in den Schriften eines Italieners namens Machiavelli nützliche Lehren für seine Ziele. Den an zu vielen Fronten beschäftigten Habsburger Karl V. hat er bald ausgeschaltet und in der Alhambra eingesperrt. Den deutschen Unruhestifter Luther hingegen will er dazu einsetzen, in Europa ein neues Reich des „Fünften Weltteils“ zu errichten. Denn ist Luthers gegen Rom gerichtete Verinnerlichung der Religion nicht als Variante des Sonnenkults der Inkas umzudeuten, den der neue Herrscher in Europa einführen will? Jeder glaube, was ihm beliebt, solang er jährlich das imperiale Sonnenfest respektiert.
Bestürzt schreibt Thomas Morus an Erasmus in Freiburg, dass König Henry sich zum neuen Sonnenkult bekehren wolle, weil er die Polygamie erlaube und eine Lösung für seinen Konflikt mit Rom bringe. Feierlich wird Atahualpa in Aachen zum Kaiser gekrönt. Lorenzino de Medici bringt ihm Michelangelo mit, der Statuen des Sonnengotts entwirft und für den dem mexikanischen Reich hörigen französischen König Franz I. im Pariser Louvre eine Monumentalpyramide baut.
Die Fantasie galoppiert dem Autor manchmal davon, das Erzählstakkato läuft heiß. Figuren wie Melanchton oder Karl V. wirken nicht ganz glaubwürdig. Manche Kritiker wandten ein, dass das Buch gesteigerter Eurozentrismus sei. Selbst die Waffen gegen die europäischen Eroberer würden den Fremden hier von Europa geliefert und die Inkakultur bleibe bloße Kulisse. Doch so will es nun einmal das Genre der Eigenspiegelung im Fremden. Korrekte Ausgewogenheit und Rehabilitierung des „Anderen“ ist nicht die Absicht dieses Romans, dessen Originaltitel in Anspielung auf eine berühmte Computerspielserie von Sid Meier „Civilizations“ heißt. Binets Roman ist ein großer Spaß in jeder Hinsicht, vom Übersetzer kundig und elegant durchs Labyrinth enormer Gelehrsamkeit gesteuert.
Laurent Binet: Eroberung. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 383 Seiten, 24 Euro.
Antikörper und Pfeilspitzen
halfen ihnen, sich gegen die
Europäer zu behaupten
Atahualpa in Aachen zum Kaiser
gekrönt, Michelangelo baut eine
Pyramide im Pariser Louvre
Fast wäre alles anders gekommen: John Everett Millais’ Gemälde „Eroberung der Inka von Peru“, 1846.
Abb.: Imago / United Archives International
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2021Sieg des Inka
Neue Welt: Laurent Binet schreibt die Geschichte um
Historiker früherer Generationen, vor allem solche mit Talent dazu, die Ereignisse nach den Quellen neu und für ein großes Publikum spannend zu erzählen, nahmen gern die sogenannten Sternstunden in den Blick, die sie als Dreh- und Angelpunkt für alles, was danach kam, betrachteten: Was, wenn die Perser die Athener und ihre Verbündeten besiegt hätten? Wenn Napoleon seinen fatalen Russland-Zug gar nicht erst begonnen hätte? Wenn Alexander der Große nicht so jung gestorben wäre? Und wenn der spanische Abenteurer Francisco Pizarro mit seiner lächerlich kleinen Gefolgschaft von 160 Mann das gewaltige, allerdings von einem Bürgerkrieg geschwächte Inkareich nicht erobert hätte?
Diese letzte Frage spielt der französische Schriftsteller Laurent Binet durch, mit großer Lust am Ausmalen einer alternativen Weltgeschichte und listigem Rückgriff auf Elemente der tatsächlichen Historie. Denn "Eroberung", in Frankreich im vergangenen Jahr erschienen und soeben in deutscher Übersetzung bei Rowohlt, behauptet diese Wendung um 180 Grad nicht einfach, sondern bereitet sie sorgfältig vor. Dafür setzt Binet fünfhundert Jahre früher an, zur Zeit der Wikingerfahrten über den Atlantik, als eine gewisse Freydis, Tochter Eriks des Roten und Halbschwester des Vinland-Entdeckers Leif Eriksson, während einer solchen Fahrt das Kommando an sich reißt und an der amerikanischen Küste entlang Richtung Süden reist. Sie hinterlässt dort bei der einheimischen Bevölkerung die Kenntnis der Eisenverarbeitung, das Rad und eine trächtige Stute - all dies führt Jahrhunderte später dazu, dass Columbus auf seiner Entdeckungsfahrt mächtigen Widerstand erfährt. Keiner seiner Männer kehrt nach Spanien zurück, er selbst wird unter den Mittelamerikanern geduldet und erzählt einer jungen Prinzessin namens Higuenamota Geschichten aus seiner Heimat. Und Spanisch lernt sie auch von ihm. Was einige Jahrzehnte später dem Inka Atahualpa zugutekommt, als er den Bürgerkrieg - anders als in der realen Geschichte - verliert, auf der Flucht bei Higuenamota Station macht und nun auf nachgebauten Columbus-Schiffen Richtung Osten zieht: Ein Abenteurer, der Europa erobern muss, weil ihm der Rückweg versperrt ist. Und dem das gelingt.
Binet geht von der tatsächlichen Situation im alten Europa aus, das hier aus der Perspektive der Sieger zur "Neuen Welt" wird. Geschickt flicht er die wirkliche Ereignisgeschichte ein, um sie umzuschreiben. Karl V. und Luther, Cervantes und Heinrich VIII. von England, dazu weniger bekannte Gestalten aus dem Umfeld des Atahualpa treten auf, 95 gänzlich andere Thesen werden in Wittenberg publiziert, die Mexikaner folgen den Inka als Eroberer über den Ozean, und bei Lepanto findet eine große Seeschlacht zwischen Ost und West statt. Dabei imitiert Binet verschiedene Stile historischen Erzählens, von der Wikingersaga über das Bordtagebuch bis zur Chronik. Warum er all das erzählt, deutet der Autor erst im letzten Teil an, als Cervantes und El Greco Zuflucht auf dem Landsitz des Michel de Montaigne finden und mit dem Hausherrn den Gang der Welt diskutieren. Ob er denn nicht seinen Glauben und seinen Herrn verrate, wenn er den fremden Mexikanern diene, muss sich Montaigne fragen lassen. Und der fragt zurück, wie denn in einer globalisierten Welt die Grenze zwischen heimischer und fremder Bevölkerung zu ziehen sei.
TILMAN SPRECKELSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neue Welt: Laurent Binet schreibt die Geschichte um
Historiker früherer Generationen, vor allem solche mit Talent dazu, die Ereignisse nach den Quellen neu und für ein großes Publikum spannend zu erzählen, nahmen gern die sogenannten Sternstunden in den Blick, die sie als Dreh- und Angelpunkt für alles, was danach kam, betrachteten: Was, wenn die Perser die Athener und ihre Verbündeten besiegt hätten? Wenn Napoleon seinen fatalen Russland-Zug gar nicht erst begonnen hätte? Wenn Alexander der Große nicht so jung gestorben wäre? Und wenn der spanische Abenteurer Francisco Pizarro mit seiner lächerlich kleinen Gefolgschaft von 160 Mann das gewaltige, allerdings von einem Bürgerkrieg geschwächte Inkareich nicht erobert hätte?
Diese letzte Frage spielt der französische Schriftsteller Laurent Binet durch, mit großer Lust am Ausmalen einer alternativen Weltgeschichte und listigem Rückgriff auf Elemente der tatsächlichen Historie. Denn "Eroberung", in Frankreich im vergangenen Jahr erschienen und soeben in deutscher Übersetzung bei Rowohlt, behauptet diese Wendung um 180 Grad nicht einfach, sondern bereitet sie sorgfältig vor. Dafür setzt Binet fünfhundert Jahre früher an, zur Zeit der Wikingerfahrten über den Atlantik, als eine gewisse Freydis, Tochter Eriks des Roten und Halbschwester des Vinland-Entdeckers Leif Eriksson, während einer solchen Fahrt das Kommando an sich reißt und an der amerikanischen Küste entlang Richtung Süden reist. Sie hinterlässt dort bei der einheimischen Bevölkerung die Kenntnis der Eisenverarbeitung, das Rad und eine trächtige Stute - all dies führt Jahrhunderte später dazu, dass Columbus auf seiner Entdeckungsfahrt mächtigen Widerstand erfährt. Keiner seiner Männer kehrt nach Spanien zurück, er selbst wird unter den Mittelamerikanern geduldet und erzählt einer jungen Prinzessin namens Higuenamota Geschichten aus seiner Heimat. Und Spanisch lernt sie auch von ihm. Was einige Jahrzehnte später dem Inka Atahualpa zugutekommt, als er den Bürgerkrieg - anders als in der realen Geschichte - verliert, auf der Flucht bei Higuenamota Station macht und nun auf nachgebauten Columbus-Schiffen Richtung Osten zieht: Ein Abenteurer, der Europa erobern muss, weil ihm der Rückweg versperrt ist. Und dem das gelingt.
Binet geht von der tatsächlichen Situation im alten Europa aus, das hier aus der Perspektive der Sieger zur "Neuen Welt" wird. Geschickt flicht er die wirkliche Ereignisgeschichte ein, um sie umzuschreiben. Karl V. und Luther, Cervantes und Heinrich VIII. von England, dazu weniger bekannte Gestalten aus dem Umfeld des Atahualpa treten auf, 95 gänzlich andere Thesen werden in Wittenberg publiziert, die Mexikaner folgen den Inka als Eroberer über den Ozean, und bei Lepanto findet eine große Seeschlacht zwischen Ost und West statt. Dabei imitiert Binet verschiedene Stile historischen Erzählens, von der Wikingersaga über das Bordtagebuch bis zur Chronik. Warum er all das erzählt, deutet der Autor erst im letzten Teil an, als Cervantes und El Greco Zuflucht auf dem Landsitz des Michel de Montaigne finden und mit dem Hausherrn den Gang der Welt diskutieren. Ob er denn nicht seinen Glauben und seinen Herrn verrate, wenn er den fremden Mexikanern diene, muss sich Montaigne fragen lassen. Und der fragt zurück, wie denn in einer globalisierten Welt die Grenze zwischen heimischer und fremder Bevölkerung zu ziehen sei.
TILMAN SPRECKELSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch ist eine hochironische, mitunter schrille Mischung aus Abenteuerroman à la Karl May, Schelmenroman à la "Don Quichote" und Parodie à la Monty Python. Dirk Fuhrig Deutschlandfunk Kultur "Lesart" 20201207