„Ein zartes, gewaltiges Kunststück.“ (The New York Times) – Percival Everetts großer Roman über Verlust und Erlösung
Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet: Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah. Als diese ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, den er in einer Second-Hand-Jacke gefunden hatte. Ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig erzählt der Pulitzer-Preis-Finalist eine große Geschichte über Verlust und Erlösung.
Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet: Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah. Als diese ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, den er in einer Second-Hand-Jacke gefunden hatte. Ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig erzählt der Pulitzer-Preis-Finalist eine große Geschichte über Verlust und Erlösung.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Verena Lueken hält Percival Everett und seinen neuen Roman für eine echte Entdeckung. Dass der Autor schon 30 Romane geschrieben hat, bis er mit dem vorliegenden zu einem, wie Lueken findet, erstaunlichen Stück experimenteller Literatur gelangt ist, gibt die Rezensentin zu Bedenken, wenn sie uns einlädt, der ungewöhnlichen Geschichte eines Kontrollverlusts zu folgen, der einen Geologen ereilt, als seine Tochter schwer erkrankt. Eine Erschütterung, die sich laut Lueken gleichsam bis in den Text fortsetzt, bis zu dem Umstand, dass drei leicht verschiedene Versionen des Romans existieren. Eine komplexe Versuchsanordnung, die der Autor mit realistischen Passagen, einem "coolen" Ton und philsophischer Tiefe zu einer erstaunlichen Lektüre verarbeitet, wie Lueken erklärt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2022Wie obskur ist das?
Drei Versionen dieses Romans existieren parallel: Percival Everetts meisterhafte "Erschütterung"
Eine ungewöhnliche Unaufmerksamkeit der Tochter beim Schach auf Seite 14, ihre unvorsichtige Handhabe eines Küchenmessers auf Seite 17, und auf Seite 19 steht bereits, womit wir es schließlich zu tun bekommen werden. In derselben Art, in der Zach Wells, der Erzähler, ein Universitätsprofessor der Geologie und Paläobiologie, aus seiner Fachliteratur kurze Bemerkungen über die Blauflügelente etwa oder die verschiedenen Spezies aus seiner Lieblingshöhle als Infoblöcke einschiebt, steht da: "ergibt sich aus einer autosomalen Vererbung von Mutationen des Gens CLN 3" - ohne Satzzeichen, ohne Verbindung zu den Sätzen davor oder danach. Man könnte darüber hinweglesen (weil vermutlich nicht viele, ohne nachzuschlagen, wissen, was gemeint ist), und es der Erzählung überlassen, an den Punkt zu kommen, der es erklärt. Das allerdings geschieht erst viel später: Es handelt sich um die Diagnose, die Sarah, Zachs Tochter, treffen wird. Juvenile CLN3, Erblindung im Kindesalter, Demenz spätestens als Teenager, früher Tod. So ist die Lage, Heilung ausgeschlossen.
Percival Everett verzögert die Gewissheit, die er so früh bereits benennt, für seine Figuren, das Ehepaar Zach und Meg (wie für alle Leser, die nicht nachschlagen). Das zeigt, dass Zach hier nicht der einzige Erzähler ist. Der Verdacht von Zach und Meg, etwas könne mit der geliebten Tochter nicht stimmen, ist für Zach Ausgangspunkt einer Erkundung in unterschiedliche Richtungen. Einer Erkundung der Gefühle von Vaterschaft, von Hilflosigkeit, der Selbstwahrnehmung, der Weltwahrnehmung, der Alltäglichkeit, der Ehe. Vorherrschend in Zachs Leben bisher war die Langeweile. Kein unangenehmes Gefühl, dessen einziger Gegenpol eben die Liebe zu seiner Tochter ist. Der Rest ist Routine: an der Uni, mit leichten Irritationen, sei es ausgehend von einer Studentin, die ihm Avancen macht, oder einer Kollegin, die vermutlich nicht in eine Festanstellung übernommen wird; ein Ausflug mit seinen Studenten und Studentinnen in die Wüste, bei dem eine Klapperschlange kurz für Unruhe sorgt. Und dann: Arztbesuche, Erschütterung der bisher gleichförmig verlaufenen Ehe, der Verlust von Hoffnung und Kontrolle. Vor allem aber ist dies eine Erkundung der Frage, welche Entscheidungen zu welchen Konsequenzen führen, wer sie trifft (die Entscheidungen) und wen sie treffen (die Konsequenzen). Was wiederum die Frage aufwirft, wie Bedeutung entsteht und wessen Kontrolle sie unterliegt, zum Beispiel in der Literatur. Dem Autor? Der Leserin?
Gleich zu Beginn informiert Zach darüber, wer er ist: "Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Nought's Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich. Dies alles war und ist von geringer Bedeutung, oder vielleicht Transzendenz, außer dass es Sie über meine tiefe, gähnende Langweiligkeit ins Bild setzt." Und weiter: "Ein Freund von mir kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, als er zu dieser speziellen Höhle zu gelangen versuchte. Arschloch, das ich bin, habe ich die Höhle seither immer wieder aufgesucht und dabei jedes Mal nur kurz an ihn gedacht." Dieser Mann wird in seiner Welt am Ende nicht mehr derselbe sein, wie auch die Welt nicht dieselbe bleibt, und in gewisser Weise nicht einmal dieses Buch.
Denn Everett hat drei Varianten dieses Romans geschrieben. Es sind scheinbar nur kleine Verschiebungen, die alle mit dem Plot zu tun haben, allerdings in ganz entscheidendem Maße, weil Zach unterschiedliche Entscheidungen trifft und die Geschehnisse sich jeweils unterschiedlich entwickeln, was zu unterschiedlichen Schlüssen des Romans führt, je nachdem, welche Version man vor sich hat. Man muss das nicht wissen und auch nicht alle drei Romane mit demselben Titel lesen, was auch weder Autor noch Verlag intendiert. Es gibt in den Büchern nur einen ganz versteckten Hinweis auf die Existenz der drei Versionen (ein kleiner Punkt, oder zwei oder drei, im Impressum). Und wie bei der amerikanischen Originalausgabe weiß auch der deutsche Leser nicht, wie sich das Buch, das er in der Hand hält, von den anderen beiden unterscheidet. Aber trotz dieser Zurückhaltung, was die Aufklärung über die Existenz der drei Varianten wie die Absicht des Autors bei ihrem Verfassen angeht, ist es keineswegs unnütz, von ihnen zu wissen. Denn es unterstreicht, dass wir es hier nicht mit einer realistischen Erzählung zu tun haben, sondern mit einer Versuchsanordnung, die einem komplexen Konzept folgt - worauf im amerikanischen Original der Titel "Telephone" (Stille Post) eher hinweist als der deutsche, der seinerseits allerdings das Leseempfinden genau beschreibt.
"Erschütterung" ist nämlich auch die Geschichte einer Verschiebung. Denn Zach, der Sarah nicht helfen kann, selbst wenn er sein Leben gäbe, wozu er bereit wäre, geht einem anderen Hilferuf nach. In einer gebraucht gekauften Jacke findet er in der Tasche einen Zettel, auf dem "Ayúdame" (Hilfe) steht. Er geht dem nach, und der Zettel mit dem spanischen Hilferuf führt ihn nach New Mexico und ins Grenzgebiet von Texas und Mexiko zu einer Gruppe entführter Frauen in einem Lagerhaus, bewacht von einer Gruppe Neonazis.
Die realistisch anmutenden Szenarien in diesem Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es andererseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft, sind in ihrer Kombination eher ungewöhnlich - ein Paläontologe schickt sich an, auf eigene Faust eine Gruppe versklavter Frauen zu retten. Aber kommt es darauf an? Es ist eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem.
Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob man bei aller emotionalen Erschütterung bereit ist, hinzunehmen, was ganz am Anfang dieses Buchs steht, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt: "Wie Gedanken, die eine zusätzliche Dimension damit einhergehender Gedanken besitzen, so werden auch Handlungen von damit einhergehenden Handlungen mit unabsehbaren, willkürlichen Absichten und Folgen, guten wie schlechten, begleitet . . . Eine unbefriedigende Wahrheit? Wie Banquos Geist setzen sich solche Gedanken auf des Königs Platz - literarische Anspielungen sind schließlich schwer in Mode." Everett schreibt, trotz dieses Witzes, nicht nach der Mode. Er macht ein Experiment, und es gelingt.
Percival Everett hat übrigens bereits mehr als dreißig Romane geschrieben, darunter solche, die wie postmoderne Campus-Romane daherkommen, bis seine Strategien der Auflösung solcher Zuordnungen unübersehbar werden. "Erschütterung" hat Anklänge dieser Campus-Erzählungen. Es ist erst Everetts dritter Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das ist ebenso erstaunlich, wie es erfreulich ist, dass sein nächster, "Trees", demnächst ebenfalls bei Hanser erscheinen wird. VERENA LUEKEN
Percival Everett: "Erschütterung". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2022. 285 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Drei Versionen dieses Romans existieren parallel: Percival Everetts meisterhafte "Erschütterung"
Eine ungewöhnliche Unaufmerksamkeit der Tochter beim Schach auf Seite 14, ihre unvorsichtige Handhabe eines Küchenmessers auf Seite 17, und auf Seite 19 steht bereits, womit wir es schließlich zu tun bekommen werden. In derselben Art, in der Zach Wells, der Erzähler, ein Universitätsprofessor der Geologie und Paläobiologie, aus seiner Fachliteratur kurze Bemerkungen über die Blauflügelente etwa oder die verschiedenen Spezies aus seiner Lieblingshöhle als Infoblöcke einschiebt, steht da: "ergibt sich aus einer autosomalen Vererbung von Mutationen des Gens CLN 3" - ohne Satzzeichen, ohne Verbindung zu den Sätzen davor oder danach. Man könnte darüber hinweglesen (weil vermutlich nicht viele, ohne nachzuschlagen, wissen, was gemeint ist), und es der Erzählung überlassen, an den Punkt zu kommen, der es erklärt. Das allerdings geschieht erst viel später: Es handelt sich um die Diagnose, die Sarah, Zachs Tochter, treffen wird. Juvenile CLN3, Erblindung im Kindesalter, Demenz spätestens als Teenager, früher Tod. So ist die Lage, Heilung ausgeschlossen.
Percival Everett verzögert die Gewissheit, die er so früh bereits benennt, für seine Figuren, das Ehepaar Zach und Meg (wie für alle Leser, die nicht nachschlagen). Das zeigt, dass Zach hier nicht der einzige Erzähler ist. Der Verdacht von Zach und Meg, etwas könne mit der geliebten Tochter nicht stimmen, ist für Zach Ausgangspunkt einer Erkundung in unterschiedliche Richtungen. Einer Erkundung der Gefühle von Vaterschaft, von Hilflosigkeit, der Selbstwahrnehmung, der Weltwahrnehmung, der Alltäglichkeit, der Ehe. Vorherrschend in Zachs Leben bisher war die Langeweile. Kein unangenehmes Gefühl, dessen einziger Gegenpol eben die Liebe zu seiner Tochter ist. Der Rest ist Routine: an der Uni, mit leichten Irritationen, sei es ausgehend von einer Studentin, die ihm Avancen macht, oder einer Kollegin, die vermutlich nicht in eine Festanstellung übernommen wird; ein Ausflug mit seinen Studenten und Studentinnen in die Wüste, bei dem eine Klapperschlange kurz für Unruhe sorgt. Und dann: Arztbesuche, Erschütterung der bisher gleichförmig verlaufenen Ehe, der Verlust von Hoffnung und Kontrolle. Vor allem aber ist dies eine Erkundung der Frage, welche Entscheidungen zu welchen Konsequenzen führen, wer sie trifft (die Entscheidungen) und wen sie treffen (die Konsequenzen). Was wiederum die Frage aufwirft, wie Bedeutung entsteht und wessen Kontrolle sie unterliegt, zum Beispiel in der Literatur. Dem Autor? Der Leserin?
Gleich zu Beginn informiert Zach darüber, wer er ist: "Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Nought's Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich. Dies alles war und ist von geringer Bedeutung, oder vielleicht Transzendenz, außer dass es Sie über meine tiefe, gähnende Langweiligkeit ins Bild setzt." Und weiter: "Ein Freund von mir kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, als er zu dieser speziellen Höhle zu gelangen versuchte. Arschloch, das ich bin, habe ich die Höhle seither immer wieder aufgesucht und dabei jedes Mal nur kurz an ihn gedacht." Dieser Mann wird in seiner Welt am Ende nicht mehr derselbe sein, wie auch die Welt nicht dieselbe bleibt, und in gewisser Weise nicht einmal dieses Buch.
Denn Everett hat drei Varianten dieses Romans geschrieben. Es sind scheinbar nur kleine Verschiebungen, die alle mit dem Plot zu tun haben, allerdings in ganz entscheidendem Maße, weil Zach unterschiedliche Entscheidungen trifft und die Geschehnisse sich jeweils unterschiedlich entwickeln, was zu unterschiedlichen Schlüssen des Romans führt, je nachdem, welche Version man vor sich hat. Man muss das nicht wissen und auch nicht alle drei Romane mit demselben Titel lesen, was auch weder Autor noch Verlag intendiert. Es gibt in den Büchern nur einen ganz versteckten Hinweis auf die Existenz der drei Versionen (ein kleiner Punkt, oder zwei oder drei, im Impressum). Und wie bei der amerikanischen Originalausgabe weiß auch der deutsche Leser nicht, wie sich das Buch, das er in der Hand hält, von den anderen beiden unterscheidet. Aber trotz dieser Zurückhaltung, was die Aufklärung über die Existenz der drei Varianten wie die Absicht des Autors bei ihrem Verfassen angeht, ist es keineswegs unnütz, von ihnen zu wissen. Denn es unterstreicht, dass wir es hier nicht mit einer realistischen Erzählung zu tun haben, sondern mit einer Versuchsanordnung, die einem komplexen Konzept folgt - worauf im amerikanischen Original der Titel "Telephone" (Stille Post) eher hinweist als der deutsche, der seinerseits allerdings das Leseempfinden genau beschreibt.
"Erschütterung" ist nämlich auch die Geschichte einer Verschiebung. Denn Zach, der Sarah nicht helfen kann, selbst wenn er sein Leben gäbe, wozu er bereit wäre, geht einem anderen Hilferuf nach. In einer gebraucht gekauften Jacke findet er in der Tasche einen Zettel, auf dem "Ayúdame" (Hilfe) steht. Er geht dem nach, und der Zettel mit dem spanischen Hilferuf führt ihn nach New Mexico und ins Grenzgebiet von Texas und Mexiko zu einer Gruppe entführter Frauen in einem Lagerhaus, bewacht von einer Gruppe Neonazis.
Die realistisch anmutenden Szenarien in diesem Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es andererseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft, sind in ihrer Kombination eher ungewöhnlich - ein Paläontologe schickt sich an, auf eigene Faust eine Gruppe versklavter Frauen zu retten. Aber kommt es darauf an? Es ist eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem.
Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob man bei aller emotionalen Erschütterung bereit ist, hinzunehmen, was ganz am Anfang dieses Buchs steht, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt: "Wie Gedanken, die eine zusätzliche Dimension damit einhergehender Gedanken besitzen, so werden auch Handlungen von damit einhergehenden Handlungen mit unabsehbaren, willkürlichen Absichten und Folgen, guten wie schlechten, begleitet . . . Eine unbefriedigende Wahrheit? Wie Banquos Geist setzen sich solche Gedanken auf des Königs Platz - literarische Anspielungen sind schließlich schwer in Mode." Everett schreibt, trotz dieses Witzes, nicht nach der Mode. Er macht ein Experiment, und es gelingt.
Percival Everett hat übrigens bereits mehr als dreißig Romane geschrieben, darunter solche, die wie postmoderne Campus-Romane daherkommen, bis seine Strategien der Auflösung solcher Zuordnungen unübersehbar werden. "Erschütterung" hat Anklänge dieser Campus-Erzählungen. Es ist erst Everetts dritter Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das ist ebenso erstaunlich, wie es erfreulich ist, dass sein nächster, "Trees", demnächst ebenfalls bei Hanser erscheinen wird. VERENA LUEKEN
Percival Everett: "Erschütterung". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2022. 285 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Buch handelt vom Entscheiden. Genauer: von den unzähligen Möglichkeiten, die sich vor jeder Entscheidung eröffnen, und von der Unmöglichkeit, die Folgen danach zu kontrollieren. ... Ein berührendes Vater-Tochter-Porträt, ein komisches Antiheldenstück und Diesel fürs Hirn." Sacha Verna, NZZ am Sonntag, 26.06.22
"Ein in mehrfacher Hinsicht besonderer Roman... Percival Everett hat einen ausgesprochenen Sinn für Rhythmus und Szenenwechsel ... Es ist ein großes ästhetisches Vergnügen dieses Buch zu lesen." Nicola Steiner, SRF Literaturstammtisch, 10.05.22
"Meisterhaft. ... Ein Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es anderseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft. ... Eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.22
"Zach ist ein akademischer Nerd. ... Wollen wir 280 Seiten im Kopf eines solchen Icherzählers verbringen? Ja, unbedingt, weil erstens der böse Blick dieses Misanthropen auf die Welt und sich selbst ausgesprochen witzige und scharfsinnige Beobachtungen zutage fördert. Und weil zweitens diesem Zach etwas widerfährt, was ihn aus seinem bequemen Beiseitestehen heraus wirft und ihm und uns zeigt, dass er auch ein ganz anderer ist. Und drittens, weil sein Erfinder ebenso groß als Sprachkünstler wie als Menschenkenner ist." Martin Ebel, Tagesanzeiger, 27.04.22
"Percival Everett - und das ist eine wesentliche Leistung dieses Buches - kommt in seinem Erzählen ganz ohne Pathos aus. Seinen Ich-Erzähler Zach hat er als selbstironischen Zyniker gezeichnet, der sich gerne hinter der eigenen unbeholfenen Schroffheit verschanzt und tragischen Situationen mitunter absurd Komisches abgewinnen kann. Und so hat 'Erschütterung' etwas unverhofft Satirisches." Tilman Urbach, Bayern 2 Diwan, 03.04.22
"Wie es Everett gelingt, diese Intensivierung des Daseins, diese plötzliche Bedeutsamkeit jedes früher gewöhnlichen Alltagsdetails darzustellen, ist nicht nur berührend, es reißt einen als Leser aus der Prosa der Verhältnisse, den Routinen, den kleinen Lügen, in die wir uns tagtäglich flüchten ... Ein großartiges Werk." Adam Soboczynski, Die Zeit, 17.03.22
"Ein erbarmungsloser Roman über Schmerz, Angst, Leere und Verlust. In blendend knappen Szenen, mit Dialogen voller Leerstellen und doch so direkt im Zugriff, dass die Figuren klar umrissen vor unseren Augen stehen, erzählt Percival Everett eine Tragödie von shakespearescher Wucht. ... Was für ein grandioser Autor - und welch ein Glück, dass sich der Hanser Verlag seines Werks angenommen hat." Meike Feßmann, Tagesspiegel, 22.02.22
"Ein meisterlicher Roman von seltener menschlicher Tiefe, literarischer Intelligenz und außerordentlicher Sprachkraft." Ursula März, Deutschlandfunk Kultur, 03.02.22
"Diesen Schriftsteller muss man im Auge behalten." Peter Pisa, Kurier, 22.01.22
"Es ist sehr berührend zu beobachten, wohin ein Mensch sich verirrt, wenn er eigentlich nichts tun kann als stillzuhalten, wie sich sein Blick und seine Stimme verändert, wenn er nur aushalten kann, was sich nicht ändern lässt." Marie Schoeß, NDR Kultur, 24.01.22
"Vom zerreißenden Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen hat die Literatur schon oft erzählt, aber selten so intelligent, so ungewöhnlich und sogar tröstlich wie in "Erschütterung" von Percival Everett". Ursula März
"Ein in mehrfacher Hinsicht besonderer Roman... Percival Everett hat einen ausgesprochenen Sinn für Rhythmus und Szenenwechsel ... Es ist ein großes ästhetisches Vergnügen dieses Buch zu lesen." Nicola Steiner, SRF Literaturstammtisch, 10.05.22
"Meisterhaft. ... Ein Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es anderseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft. ... Eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.22
"Zach ist ein akademischer Nerd. ... Wollen wir 280 Seiten im Kopf eines solchen Icherzählers verbringen? Ja, unbedingt, weil erstens der böse Blick dieses Misanthropen auf die Welt und sich selbst ausgesprochen witzige und scharfsinnige Beobachtungen zutage fördert. Und weil zweitens diesem Zach etwas widerfährt, was ihn aus seinem bequemen Beiseitestehen heraus wirft und ihm und uns zeigt, dass er auch ein ganz anderer ist. Und drittens, weil sein Erfinder ebenso groß als Sprachkünstler wie als Menschenkenner ist." Martin Ebel, Tagesanzeiger, 27.04.22
"Percival Everett - und das ist eine wesentliche Leistung dieses Buches - kommt in seinem Erzählen ganz ohne Pathos aus. Seinen Ich-Erzähler Zach hat er als selbstironischen Zyniker gezeichnet, der sich gerne hinter der eigenen unbeholfenen Schroffheit verschanzt und tragischen Situationen mitunter absurd Komisches abgewinnen kann. Und so hat 'Erschütterung' etwas unverhofft Satirisches." Tilman Urbach, Bayern 2 Diwan, 03.04.22
"Wie es Everett gelingt, diese Intensivierung des Daseins, diese plötzliche Bedeutsamkeit jedes früher gewöhnlichen Alltagsdetails darzustellen, ist nicht nur berührend, es reißt einen als Leser aus der Prosa der Verhältnisse, den Routinen, den kleinen Lügen, in die wir uns tagtäglich flüchten ... Ein großartiges Werk." Adam Soboczynski, Die Zeit, 17.03.22
"Ein erbarmungsloser Roman über Schmerz, Angst, Leere und Verlust. In blendend knappen Szenen, mit Dialogen voller Leerstellen und doch so direkt im Zugriff, dass die Figuren klar umrissen vor unseren Augen stehen, erzählt Percival Everett eine Tragödie von shakespearescher Wucht. ... Was für ein grandioser Autor - und welch ein Glück, dass sich der Hanser Verlag seines Werks angenommen hat." Meike Feßmann, Tagesspiegel, 22.02.22
"Ein meisterlicher Roman von seltener menschlicher Tiefe, literarischer Intelligenz und außerordentlicher Sprachkraft." Ursula März, Deutschlandfunk Kultur, 03.02.22
"Diesen Schriftsteller muss man im Auge behalten." Peter Pisa, Kurier, 22.01.22
"Es ist sehr berührend zu beobachten, wohin ein Mensch sich verirrt, wenn er eigentlich nichts tun kann als stillzuhalten, wie sich sein Blick und seine Stimme verändert, wenn er nur aushalten kann, was sich nicht ändern lässt." Marie Schoeß, NDR Kultur, 24.01.22
"Vom zerreißenden Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen hat die Literatur schon oft erzählt, aber selten so intelligent, so ungewöhnlich und sogar tröstlich wie in "Erschütterung" von Percival Everett". Ursula März
Wie obskur ist das?
Drei Versionen dieses Romans existieren parallel: Percival Everetts meisterhafte "Erschütterung"
Eine ungewöhnliche Unaufmerksamkeit der Tochter beim Schach auf Seite 14, ihre unvorsichtige Handhabe eines Küchenmessers auf Seite 17, und auf Seite 19 steht bereits, womit wir es schließlich zu tun bekommen werden. In derselben Art, in der Zach Wells, der Erzähler, ein Universitätsprofessor der Geologie und Paläobiologie, aus seiner Fachliteratur kurze Bemerkungen über die Blauflügelente etwa oder die verschiedenen Spezies aus seiner Lieblingshöhle als Infoblöcke einschiebt, steht da: "ergibt sich aus einer autosomalen Vererbung von Mutationen des Gens CLN 3" - ohne Satzzeichen, ohne Verbindung zu den Sätzen davor oder danach. Man könnte darüber hinweglesen (weil vermutlich nicht viele, ohne nachzuschlagen, wissen, was gemeint ist), und es der Erzählung überlassen, an den Punkt zu kommen, der es erklärt. Das allerdings geschieht erst viel später: Es handelt sich um die Diagnose, die Sarah, Zachs Tochter, treffen wird. Juvenile CLN3, Erblindung im Kindesalter, Demenz spätestens als Teenager, früher Tod. So ist die Lage, Heilung ausgeschlossen.
Percival Everett verzögert die Gewissheit, die er so früh bereits benennt, für seine Figuren, das Ehepaar Zach und Meg (wie für alle Leser, die nicht nachschlagen). Das zeigt, dass Zach hier nicht der einzige Erzähler ist. Der Verdacht von Zach und Meg, etwas könne mit der geliebten Tochter nicht stimmen, ist für Zach Ausgangspunkt einer Erkundung in unterschiedliche Richtungen. Einer Erkundung der Gefühle von Vaterschaft, von Hilflosigkeit, der Selbstwahrnehmung, der Weltwahrnehmung, der Alltäglichkeit, der Ehe. Vorherrschend in Zachs Leben bisher war die Langeweile. Kein unangenehmes Gefühl, dessen einziger Gegenpol eben die Liebe zu seiner Tochter ist. Der Rest ist Routine: an der Uni, mit leichten Irritationen, sei es ausgehend von einer Studentin, die ihm Avancen macht, oder einer Kollegin, die vermutlich nicht in eine Festanstellung übernommen wird; ein Ausflug mit seinen Studenten und Studentinnen in die Wüste, bei dem eine Klapperschlange kurz für Unruhe sorgt. Und dann: Arztbesuche, Erschütterung der bisher gleichförmig verlaufenen Ehe, der Verlust von Hoffnung und Kontrolle. Vor allem aber ist dies eine Erkundung der Frage, welche Entscheidungen zu welchen Konsequenzen führen, wer sie trifft (die Entscheidungen) und wen sie treffen (die Konsequenzen). Was wiederum die Frage aufwirft, wie Bedeutung entsteht und wessen Kontrolle sie unterliegt, zum Beispiel in der Literatur. Dem Autor? Der Leserin?
Gleich zu Beginn informiert Zach darüber, wer er ist: "Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Nought's Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich. Dies alles war und ist von geringer Bedeutung, oder vielleicht Transzendenz, außer dass es Sie über meine tiefe, gähnende Langweiligkeit ins Bild setzt." Und weiter: "Ein Freund von mir kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, als er zu dieser speziellen Höhle zu gelangen versuchte. Arschloch, das ich bin, habe ich die Höhle seither immer wieder aufgesucht und dabei jedes Mal nur kurz an ihn gedacht." Dieser Mann wird in seiner Welt am Ende nicht mehr derselbe sein, wie auch die Welt nicht dieselbe bleibt, und in gewisser Weise nicht einmal dieses Buch.
Denn Everett hat drei Varianten dieses Romans geschrieben. Es sind scheinbar nur kleine Verschiebungen, die alle mit dem Plot zu tun haben, allerdings in ganz entscheidendem Maße, weil Zach unterschiedliche Entscheidungen trifft und die Geschehnisse sich jeweils unterschiedlich entwickeln, was zu unterschiedlichen Schlüssen des Romans führt, je nachdem, welche Version man vor sich hat. Man muss das nicht wissen und auch nicht alle drei Romane mit demselben Titel lesen, was auch weder Autor noch Verlag intendiert. Es gibt in den Büchern nur einen ganz versteckten Hinweis auf die Existenz der drei Versionen (ein kleiner Punkt, oder zwei oder drei, im Impressum). Und wie bei der amerikanischen Originalausgabe weiß auch der deutsche Leser nicht, wie sich das Buch, das er in der Hand hält, von den anderen beiden unterscheidet. Aber trotz dieser Zurückhaltung, was die Aufklärung über die Existenz der drei Varianten wie die Absicht des Autors bei ihrem Verfassen angeht, ist es keineswegs unnütz, von ihnen zu wissen. Denn es unterstreicht, dass wir es hier nicht mit einer realistischen Erzählung zu tun haben, sondern mit einer Versuchsanordnung, die einem komplexen Konzept folgt - worauf im amerikanischen Original der Titel "Telephone" (Stille Post) eher hinweist als der deutsche, der seinerseits allerdings das Leseempfinden genau beschreibt.
"Erschütterung" ist nämlich auch die Geschichte einer Verschiebung. Denn Zach, der Sarah nicht helfen kann, selbst wenn er sein Leben gäbe, wozu er bereit wäre, geht einem anderen Hilferuf nach. In einer gebraucht gekauften Jacke findet er in der Tasche einen Zettel, auf dem "Ayúdame" (Hilfe) steht. Er geht dem nach, und der Zettel mit dem spanischen Hilferuf führt ihn nach New Mexico und ins Grenzgebiet von Texas und Mexiko zu einer Gruppe entführter Frauen in einem Lagerhaus, bewacht von einer Gruppe Neonazis.
Die realistisch anmutenden Szenarien in diesem Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es andererseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft, sind in ihrer Kombination eher ungewöhnlich - ein Paläontologe schickt sich an, auf eigene Faust eine Gruppe versklavter Frauen zu retten. Aber kommt es darauf an? Es ist eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem.
Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob man bei aller emotionalen Erschütterung bereit ist, hinzunehmen, was ganz am Anfang dieses Buchs steht, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt: "Wie Gedanken, die eine zusätzliche Dimension damit einhergehender Gedanken besitzen, so werden auch Handlungen von damit einhergehenden Handlungen mit unabsehbaren, willkürlichen Absichten und Folgen, guten wie schlechten, begleitet . . . Eine unbefriedigende Wahrheit? Wie Banquos Geist setzen sich solche Gedanken auf des Königs Platz - literarische Anspielungen sind schließlich schwer in Mode." Everett schreibt, trotz dieses Witzes, nicht nach der Mode. Er macht ein Experiment, und es gelingt.
Percival Everett hat übrigens bereits mehr als dreißig Romane geschrieben, darunter solche, die wie postmoderne Campus-Romane daherkommen, bis seine Strategien der Auflösung solcher Zuordnungen unübersehbar werden. "Erschütterung" hat Anklänge dieser Campus-Erzählungen. Es ist erst Everetts dritter Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das ist ebenso erstaunlich, wie es erfreulich ist, dass sein nächster, "Trees", demnächst ebenfalls bei Hanser erscheinen wird. VERENA LUEKEN
Percival Everett: "Erschütterung". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2022. 285 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Drei Versionen dieses Romans existieren parallel: Percival Everetts meisterhafte "Erschütterung"
Eine ungewöhnliche Unaufmerksamkeit der Tochter beim Schach auf Seite 14, ihre unvorsichtige Handhabe eines Küchenmessers auf Seite 17, und auf Seite 19 steht bereits, womit wir es schließlich zu tun bekommen werden. In derselben Art, in der Zach Wells, der Erzähler, ein Universitätsprofessor der Geologie und Paläobiologie, aus seiner Fachliteratur kurze Bemerkungen über die Blauflügelente etwa oder die verschiedenen Spezies aus seiner Lieblingshöhle als Infoblöcke einschiebt, steht da: "ergibt sich aus einer autosomalen Vererbung von Mutationen des Gens CLN 3" - ohne Satzzeichen, ohne Verbindung zu den Sätzen davor oder danach. Man könnte darüber hinweglesen (weil vermutlich nicht viele, ohne nachzuschlagen, wissen, was gemeint ist), und es der Erzählung überlassen, an den Punkt zu kommen, der es erklärt. Das allerdings geschieht erst viel später: Es handelt sich um die Diagnose, die Sarah, Zachs Tochter, treffen wird. Juvenile CLN3, Erblindung im Kindesalter, Demenz spätestens als Teenager, früher Tod. So ist die Lage, Heilung ausgeschlossen.
Percival Everett verzögert die Gewissheit, die er so früh bereits benennt, für seine Figuren, das Ehepaar Zach und Meg (wie für alle Leser, die nicht nachschlagen). Das zeigt, dass Zach hier nicht der einzige Erzähler ist. Der Verdacht von Zach und Meg, etwas könne mit der geliebten Tochter nicht stimmen, ist für Zach Ausgangspunkt einer Erkundung in unterschiedliche Richtungen. Einer Erkundung der Gefühle von Vaterschaft, von Hilflosigkeit, der Selbstwahrnehmung, der Weltwahrnehmung, der Alltäglichkeit, der Ehe. Vorherrschend in Zachs Leben bisher war die Langeweile. Kein unangenehmes Gefühl, dessen einziger Gegenpol eben die Liebe zu seiner Tochter ist. Der Rest ist Routine: an der Uni, mit leichten Irritationen, sei es ausgehend von einer Studentin, die ihm Avancen macht, oder einer Kollegin, die vermutlich nicht in eine Festanstellung übernommen wird; ein Ausflug mit seinen Studenten und Studentinnen in die Wüste, bei dem eine Klapperschlange kurz für Unruhe sorgt. Und dann: Arztbesuche, Erschütterung der bisher gleichförmig verlaufenen Ehe, der Verlust von Hoffnung und Kontrolle. Vor allem aber ist dies eine Erkundung der Frage, welche Entscheidungen zu welchen Konsequenzen führen, wer sie trifft (die Entscheidungen) und wen sie treffen (die Konsequenzen). Was wiederum die Frage aufwirft, wie Bedeutung entsteht und wessen Kontrolle sie unterliegt, zum Beispiel in der Literatur. Dem Autor? Der Leserin?
Gleich zu Beginn informiert Zach darüber, wer er ist: "Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Nought's Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich. Dies alles war und ist von geringer Bedeutung, oder vielleicht Transzendenz, außer dass es Sie über meine tiefe, gähnende Langweiligkeit ins Bild setzt." Und weiter: "Ein Freund von mir kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben, als er zu dieser speziellen Höhle zu gelangen versuchte. Arschloch, das ich bin, habe ich die Höhle seither immer wieder aufgesucht und dabei jedes Mal nur kurz an ihn gedacht." Dieser Mann wird in seiner Welt am Ende nicht mehr derselbe sein, wie auch die Welt nicht dieselbe bleibt, und in gewisser Weise nicht einmal dieses Buch.
Denn Everett hat drei Varianten dieses Romans geschrieben. Es sind scheinbar nur kleine Verschiebungen, die alle mit dem Plot zu tun haben, allerdings in ganz entscheidendem Maße, weil Zach unterschiedliche Entscheidungen trifft und die Geschehnisse sich jeweils unterschiedlich entwickeln, was zu unterschiedlichen Schlüssen des Romans führt, je nachdem, welche Version man vor sich hat. Man muss das nicht wissen und auch nicht alle drei Romane mit demselben Titel lesen, was auch weder Autor noch Verlag intendiert. Es gibt in den Büchern nur einen ganz versteckten Hinweis auf die Existenz der drei Versionen (ein kleiner Punkt, oder zwei oder drei, im Impressum). Und wie bei der amerikanischen Originalausgabe weiß auch der deutsche Leser nicht, wie sich das Buch, das er in der Hand hält, von den anderen beiden unterscheidet. Aber trotz dieser Zurückhaltung, was die Aufklärung über die Existenz der drei Varianten wie die Absicht des Autors bei ihrem Verfassen angeht, ist es keineswegs unnütz, von ihnen zu wissen. Denn es unterstreicht, dass wir es hier nicht mit einer realistischen Erzählung zu tun haben, sondern mit einer Versuchsanordnung, die einem komplexen Konzept folgt - worauf im amerikanischen Original der Titel "Telephone" (Stille Post) eher hinweist als der deutsche, der seinerseits allerdings das Leseempfinden genau beschreibt.
"Erschütterung" ist nämlich auch die Geschichte einer Verschiebung. Denn Zach, der Sarah nicht helfen kann, selbst wenn er sein Leben gäbe, wozu er bereit wäre, geht einem anderen Hilferuf nach. In einer gebraucht gekauften Jacke findet er in der Tasche einen Zettel, auf dem "Ayúdame" (Hilfe) steht. Er geht dem nach, und der Zettel mit dem spanischen Hilferuf führt ihn nach New Mexico und ins Grenzgebiet von Texas und Mexiko zu einer Gruppe entführter Frauen in einem Lagerhaus, bewacht von einer Gruppe Neonazis.
Die realistisch anmutenden Szenarien in diesem Buch, das einerseits so cool und selbstironisch erzählt ist wie es andererseits aus voller philosophischer Tiefe schöpft, sind in ihrer Kombination eher ungewöhnlich - ein Paläontologe schickt sich an, auf eigene Faust eine Gruppe versklavter Frauen zu retten. Aber kommt es darauf an? Es ist eine vielschichtige Geschichte, die zu ergründen sucht, ob der freie Wille dem Schicksal etwas entgegensetzen kann, und wenn ja, ob es etwas hilft und wem.
Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob man bei aller emotionalen Erschütterung bereit ist, hinzunehmen, was ganz am Anfang dieses Buchs steht, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt: "Wie Gedanken, die eine zusätzliche Dimension damit einhergehender Gedanken besitzen, so werden auch Handlungen von damit einhergehenden Handlungen mit unabsehbaren, willkürlichen Absichten und Folgen, guten wie schlechten, begleitet . . . Eine unbefriedigende Wahrheit? Wie Banquos Geist setzen sich solche Gedanken auf des Königs Platz - literarische Anspielungen sind schließlich schwer in Mode." Everett schreibt, trotz dieses Witzes, nicht nach der Mode. Er macht ein Experiment, und es gelingt.
Percival Everett hat übrigens bereits mehr als dreißig Romane geschrieben, darunter solche, die wie postmoderne Campus-Romane daherkommen, bis seine Strategien der Auflösung solcher Zuordnungen unübersehbar werden. "Erschütterung" hat Anklänge dieser Campus-Erzählungen. Es ist erst Everetts dritter Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Das ist ebenso erstaunlich, wie es erfreulich ist, dass sein nächster, "Trees", demnächst ebenfalls bei Hanser erscheinen wird. VERENA LUEKEN
Percival Everett: "Erschütterung". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2022. 285 S., geb., 23,- Euro.
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