Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, SLO, SK ausgeliefert werden.
Verrückt wird man am besten vor größtmöglichem Publikum: In ihrem ersten Roman läßt Mariana Leky Meerschweinchen fiepen und Hunde sprechen
Der Irrsinn ist ein tückischer Feind. Ganz sacht schleicht er sich an, lauert auf Hinterkopfhöhe und sucht sich für den Überfall einen Moment aus, der ihm die größte Wirkung sichert, indem der Überfallene vor den Augen und Ohren einer ganzen Menschenmenge Symptome der plötzlichen Erkrankung zeigt.
Da ist es nur ein Glück, daß Matilda die Gefahr rechtzeitig spürt und auf der Hut ist: "Matilda dachte, sie könne nicht über die Straße gehen, weil vielleicht mitten auf der Straße ein Verrücktsein ausbricht, das wahllos hinter ihr her ist." Sie malt sich aus, wie sie in aller Öffentlichkeit schreien, auf den Boden oder gegen den Kopf trommeln wird, "und wenn man auf der Fahrbahn richtig loslegt mit Verrücktsein, dachte Matilda, die vorher nicht viel und plötzlich alles über das Verrücktsein wußte, weil ein Verrücktsein, wenn es hinter einem her ist, alle notwendigen Hintergrundinformationen und Verhaltensregeln vorausschickt, wenn man also damit loslegt, dachte Matilda, dann sind davon nicht nur die Fußgänger, sondern auch die Autofahrer betroffen, es würden viele Leute zuschauen, und ein Verrücktsein, dachte Matilda, bricht in der Regel vor einem größtmöglichen Publikum aus, damit Größe und Schwere des Verücktseins zur bestmöglichen Geltung kommen."
Viel später wird eine Therapeutin bei Matilda eine "soziale Phobie" diagnostizieren, die junge Frau wird eine Reihe angsteinflößender Situationen überstehen und von ihrer Grundnervosität loskommen. Viel später auch wird man sich fragen, ob in dem engbefreundeten Trio wirklich sie es ist, die am meisten der Behandlung bedarf. Denn die beiden anderen, der Charmeur Sylvester und seine Mitbewohnerin, die Matildas Geschichte erzählt, stehen der Welt im Grunde ähnlich ängstlich gegenüber, auch wenn ihre Reaktionen weniger offensichtlich von Panik gezeichnet sind: Sylvester ist heftig damit beschäftigt, sich auf nichts und niemanden festzulegen, und die Erzählerin weigert sich diskret, aber effektiv, im Privaten wie im Beruflichen Initiative zu entwickeln: Sie arbeitet halbtags in einer Kleintierhandlung, statt ihr Studium abzuschließen, sie trauert einem früheren Liebhaber hinterher, statt seine Anrufe entgegenzunehmen, und sie redet sich tapfer ein, daß die kurze Affäre, die sie einmal mit Sylvester hatte, ganz und gar ohne Folgen blieb, daß zwischen ihnen nichts als Freundschaft sei, auch wenn sie mittlerweile fast symbiotisch in der gemeinsamen Wohnung miteinander leben.
Mariana Leky, Jahrgang 1973, hat nach dem Erzählungsband "Liebesperlen" jetzt ihren ersten Roman vorgelegt, dessen leichtfüßiger, souverän-unprätentiöser Stil das ernste Thema, das er verhandelt, anfangs beinahe verhüllt. "Erste Hilfe" erzählt vom unmerklichen Übergang von einer latenten, noch unauffälligen Angstneurose in eine manifeste, schildert eine berührende Liebe, die sich nicht zu sich selbst traut, und wählt dafür eine raffiniert-defizitäre Perspektive. Denn die tief in all dies verstrickte Erzählerin kommt vor lauter anbrandender Realität kaum einmal dazu, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen oder das Geschehen zu interpretieren - der Präsensstil, der bei anderen jüngeren Autoren oft etwas anstrengend Unmittelbarkeit suggerieren will, erweist sich vor diesem Hintergrund als einleuchtende Entscheidung.
Wenn die Erzählerin, vielleicht die Ängstlichste von allen, in seltenen Momenten doch einmal agiert statt zu reagieren, wenn sie also beispielsweise, weil niemand sonst mehr dazu in der Lage ist, das rettende Auto steuert, obwohl sie keinen Führerschein besitzt, dann sagt sie, überrascht von sich und der Welt, den Satz: "Wir ziehen das jetzt durch." Und daß sie anschließend das Auto mit ihren beiden angeschlagenen Freunden unfallfrei in die Ambulanz bringt, ist dann kaum noch erstaunlich.
Denn auch von Auswegen handelt dieser schmale Roman, von Strategien, einer Grundangst zu entkommen, die auch den anderen Figuren nicht fremd ist. Da ist etwa der massige Besitzer der Tierhandlung: "An empfindlichen Tagen erträgt er nichts, keinen Ton, dann bleibt seine Tür zu und er kommt nicht heraus. An empfindlichen Tagen ruft er mich ab und zu im Geschäftsraum an, der direkt an sein Büro grenzt, um Anweisungen zu geben oder mir zu sagen, daß ich eigentlich ja gar keine ausgebildete Zoofachverkäuferin sei und man das merke, ,an allen Ecken und Enden merkt man das', sagt er." Als ihn das Freundestrio einmal zu einer ausgelassenen Feier einlädt und er dem Partylärm so überraschend gleichmütig gegenübersteht, meint er nur, er habe sich in die Unempfindlichkeit eben hineingetrunken - und leert hastig das nächste Glas. Matilda nimmt Tabletten, die schön gleichgültig, aber rasch abhängig machen. Und Sylvester erzählt so lange erfundene Geschichten von sich und seinen Verwandten, besucht so lange ein Medium, das ihm von seinen früheren Inkarnationen erzählt (beispielsweise: ein Schiffskellner auf der Titanic, ein Jünger Jesu, ein Sklave im Matriarchat und eine Tempeltänzerin), bis er sich seinen wirklichen Lebensumständen völlig entzogen hat und für seine Umgebung ungreifbar geworden ist. Das gilt vor allem für seine vielen Flirts, die immer wieder in der Wohnung auftauchen und die Erzählerin - während Sylvester sich verleugnen läßt - um Auskunft über ihn bitten: "Sylvester zu fragen, haben sie aufgegeben, weil er nicht antwortet." Noch am Ende des Romans wird die Erzählerin auf ein Klingeln warten, das Sylvesters Rückkehr ankündigen soll, ohne zu wissen, ob sie das Geräusch je hören wird.
Es ist vor allem die Akustik, der Lekys erzählerische Sorgfalt gilt, und wenn sie eine psychische Störung oder die Angst davor beschreibt, spielen Geräusche eine große Rolle. Was sich im Kopf wohl abspielt, wenn man merkt, daß man verrückt wird, rätseln die Freunde, und werden sich nicht einig, ob man sich in dieser Situation eher den Ton eines fiependen Meerschweinchens oder das Wischgeräusch von Zeitungspapier auf einem Wandspiegel einbildet. Am Ende hört die Erzählerin Matildas Hund, der bislang nicht einmal bellen mochte, klar und deutlich zu ihr sprechen: "Es klingelt, sagt er."
Nur ganz gelegentlich trägt Leky etwas dick auf, wenn beispielsweise die Erzählerin und Sylvester, die sich so schwer miteinander tun, immer wieder nur mit dem Spiegelbild des anderen sprechen, wenn sie auf dem Bett unter dem schrägen Dachfenster liegen und in der Scheibe wahlweise den Himmel oder ihre beiden Gesichter sehen.
Doch das sind allenfalls Schönheitsfehler in einem erstaunlich stilsicheren Text. Bei aller Klarheit in der Sprache, bei aller scheinbaren Geradlinigkeit in der Erzählweise ist "Erste Hilfe" ein Roman, der seiner Geschichte eine keineswegs eindeutige Richtung verleiht. Denn je deutlicher er seine Perspektive macht, je klarer die besondere psychische Disposition der Erzählerin wird, um so mehr Zurückhaltung ist ihrer Schilderung gegenüber angebracht. Was sie verschweigt, läßt sich manchmal aus den Reaktionen ihrer Umgebung erschließen, manches bleibt ganz in der Schwebe, was dem Roman ebenso gut zu Gesicht steht wie die völlige Unentschiedenheit über Sinn und Unsinn der vorgestellten Therapien über Matildas Krankengeschichte hinaus.
Manches allerdings läßt sich mühelos auch auf ihre Umgebung übertragen. "Warum soll Matilda sehr große Angst kriegen", fragt die Erzählerin Matildas Therapeutin bei einem besonders anstrengenden Konfrontationsversuch. Und die antwortet: "Damit sie merkt, daß sie es überlebt."
Mariana Leky: "Erste Hilfe". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004. 187 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH"