Von der Autorin des Bestsellers ›Was man von hier aus sehen kann‹ Die Erzählerin arbeitet aushilfsweise in einem Kleintierladen. Sie wohnt bei Sylvester, einem Frauenschwarm, der viel damit zu tun hat, sich vor seinen Verehrerinnen verleugnen zu lassen. Bei den beiden klopft eines Abends Matilda an, um zusammen mit dem größten Hund der Welt Unterschlupf zu suchen. Matilda hat ein Problem: Sie glaubt, den Verstand zu verlieren. Das durch Not und Zuneigung zusammengeschweißte Trio macht sich auf, ein unsichtbares Ungeheuer zu besiegen. Mariana Leky gelingt es, diesen Kampf gegen schwindelerregende Windmühlenflügel klingen zu lassen wie eine Filmkomödie: ein ebenso vergnüglicher wie bewegender Roman über Panik und andere Plagen. Die Angst überwindet nur, wer sie herausfordert. Mariana Lekys erster Roman erzählt von Freundschaft und Angst: ein Erste-Hilfe-Kasten für die Tücken des ganz alltäglichen Lebens. Ihre zaghaften Helden halten zusammen, weil sie sich anders gar nicht zu helfen wissen – und verweisen damit bereits auf das liebenswert skurrile Personal aus ›Was man von hier aus sehen kann‹. Ein Gespräch mit Mariana Leky über ihren ersten Roman ›Erste Hilfe‹: „Wie hilft man einer Freundin, die Angst davor hat, die Straße zu überqueren? In Ihrem Roman ›Erste Hilfe‹ nehmen drei Freunde den Kampf mit einem unheimlichen Gegner auf." ML: „In Freundschaften teilt man alles Schöne, und auch das, was unheimlich ist. Das unheimliche ist in diesem Fall eine Angst, die derartig an einem rüttelt, dass man glaubt, den Verstand zu verlieren. Mich hat interessiert, was geschieht, wenn eine so sperrige Angst in einer Freundschaft herumsteht – was man sich einfallen lässt, um das Leben wieder leichter zu machen." „Es ist bemerkenswert, wie fürsorglich die drei Freunde miteinander umgehen und manchmal sehr lustig, auf welche Ideen sie kommen, bei dem Versuch die Angst zu bezwingen. Ist dieser Umgang mit psychischen Störungen in unserer Gesellschaft üblich?" ML: „Nein, es ist ja auch nicht leicht, unverkrampft mit einer Verkrampfung umzugehen. Außerdem werden solche 'komischen' Ängste und Phobien ja oft als peinlich bewertet. Oder als kindisch. Deswegen passieren sie, solange es geht, im Stillen. Ich glaube, keiner, der Angst vor Supermärkten hat, wird sich Ihnen – wenn er überhaupt noch einkaufen geht – zwischen Kühlregal und Wursttheke mit den Worten 'Ich fürchte mich' in die Arme werfen. Solche Ängste laufen größtenteils unsichtbar ab." „Matilda hat Angst davor, über die Straße zu gehen. Warum haben Sie gerade diese Angst gewählt, gibt es einen besonderen Grund?" ML: „Ich habe mir diese Angst ausgesucht, weil man mit ihr sofort aufgeschmissen ist. Eine Mäusephobie oder eine Flugangst macht das Leben nur in bestimmten Situationen kleiner. Eine Angst vor Straßen lässt den Lebensradius sofort zusammenschrumpeln. Man kann dieser Angst kaum ausweichen. Außerdem hat mir diese Angst gleich eingeleuchtet (allerdings leuchten mir fast alle Ängste gleich ein). Straßen können zu Ungeheuern werden. Jeder, der – wie ich gestern – gefühlte fünf Minuten lang auf einer vierspurigen Straße stand, mit drei Einkaufstüten in den Armen, umrauscht von Autos, wird bestätigen können: schön ist was anderes." „Man hat beim Lesen das Gefühl, dass diese Geschichte nur in einer Stadt spielen kann." ML: „Stimmt, Matildas Angst benötigt ein städtisches, größeres Publikum. Aber vor allem brauchte ich für die Liebesgeschichte einen großzügigen Stadtplan." „Apropos Liebe! Schon in Ihren Erzählungen ›Liebesperlen‹ schienen Ihre Figuren nicht besonders viel Glück mit der Liebe zu haben." ML: „Ich habe eher den Eindruck, dass die Figuren – bei aller Untröstlichkeit – trotzdem Glück in der Liebe haben; sie rütteln nur an den falschen Türen. Es stehen immer welche mit offenen Armen um sie herum."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2004Ich zeig Dir meine Zierfischsammlung
Kleine Tiere, große Probleme: Mariana Lekys Debütroman „Erste Hilfe”
Tote Wellensittiche kann man nicht umtauschen. Wer in einer Kleintierhandlung arbeitet wie die Ich-Erzählerin in Mariana Lekys Debütroman „Erste Hilfe”, lebt zwar mitten in einem Niedlichkeitskosmos, entwickelt aber auch ein besonderes Gespür für die schmerzhaften Kanten der Flaum- und Federwelt. „Das Quieken von Meerschweinen ist wahrscheinlich das Geräusch, das man im Kopf hat, wenn man verrückt wird”, überlegt sich die Studentin, die lieber Snacks für ältere Hunde verkauft als ihre Magisterarbeit in Angriff zu nehmen. Auf der Flucht befinden sich auch ihre besten Freunde: Während Sylvester unter chronischem Frauenverschleiß leidet, kämpft Matilda mit einer handfesten Angstneurose. Sie traut sich nicht mehr über die Straße und tapert mit ihrem irischen Wolfshund den Gehsteig entlang. Die Angst vor dem Verrücktwerden verschwindet erst mit dem Schockprogramm einer Psychotherapeutin.
„Erste Hilfe” ist ein Roman über Ängste in den Zeiten allgegenwärtiger Selbstbehauptungsimperative. Für die verschworene Gemeinschaft von Zauderern hat Mariana Leky einen Watte-Effekt entwickelt, der die Figuren nicht bloßlegt, sondern in eine zugleich ulkige und lakonische Hülle packt. Matilda, Sylvester und die Icherzählerin sind so orientierungslos und verschroben, dass sie den antriebsarmen Goldhamstern und Zierfischen ähneln, die mit diversen Pülverchen kuriert werden. Dieser Schwenk zwischen dem Zoofachhandel auf der einen und dem sozialen Biotop der Studenten-WG auf der anderen Seite ist der motivische Kniff des Romans.
Auch die Frage der Medikamentierung wird doppelt angegangen: Der Besitzer des Kleintierladens wünscht sich etwas zum Einnehmen, damit „das Psychische von selber abklinge”, während Matilda ihre Pharmaprodukte wieder herausrückt. Die neue Behandlung zwingt sie, Riesenrad zu fahren, ein Tablett in der Mensa runterfallen zu lassen und allein nach München zu fliegen. Dass auch die Mutter der Erzählerin als Therapeutin arbeitet, ist eine Lunte, die zwar ausgelegt, aber nicht gezündet wird. Mariana Leky lässt das Trio mit Hund, das wie eine reifere Version der „Fünf Freunde” wirkt, einen leisen Aufstand gegen die tatkräftige Elterngeneration proben.
Die Signalfarben der Welt
„Meine Tochter winkt lieber hinterher”, sagt Matildas weit gereister Vater auf die Frage, warum Matilda nie wegfahre. Die Rebellion der drei besteht darin, von außen betrachtet gar nichts hinzukriegen - weder einen Bruch mit den Bescheidwissern noch eine ordentliche Paranoia. Radikale Gesten oder „Große Erzählungen”, die Ich und Gesellschaft verknüpfen könnten, sind aus dem Horizont dieser Endzwanziger verschwunden; man polstert eine Privatwelt, in der gerade das Kleine zählt. „Wir haben kein Tier, das weit über den Knöchel geht”, erklärt die Kleintierhilfskraft.
„Erste Hilfe” ist ein Generationenroman, der die Gemeinschaftssehnsüchte dezidiert uncooler Figuren bebildert. Er beobachtet die Ängstlichen, die sich weder der hedonistischen noch der engagierten Fraktion ihrer Altersgenossen zuschlagen lassen, vor den Signalfarben der großen weiten Welt zurückzucken und sich lieber ihrem pastelligen Mikrokosmos zuwenden. Man kann das auch als Notlandung im Käfig der Privatneurosen lesen, doch die Stärke des Romans liegt weniger in der erzählten Geschichte als in den sprachlichen Details.
Mariana Leky, Jahrgang 1973, wurde vor drei Jahren mit „Liebesperlen” bekannt, einem Erzählband, der das Erwachsenwerden wie einen Hindernisparcours umkreist. In ihrem Debütroman hat sie ein Vokabular gefunden, mit dem sie sich gekonnt an das Sicherheitsbedürfnis ihrer Protagonisten heranpirscht. Matilda kauft sich eine „Folienrückwand mit Süßwassermotiv”, und Sylvester sucht beruhigende Wörter, die von der „Sitzgarnitur” über das „Jojobaöl” bis zum „Nistmaterial” alles auflisten, was im Kollektivbewusstsein als harmoniefördernd abgespeichert wurde.
Trotz dieser gelungenen Feinanalysen wünscht man dem Roman aufs Ganze gesehen manchmal genau das, was seine Figuren selbstironisch als Mangel konstatiert haben: „ein bisschen Pepp”. Ein paar antriebsfördernde Zierfischpillen würden vielleicht schon ausreichen.
JUTTA PERSON
MARIANA LEKY: Erste Hilfe. Roman. DuMont Verlag, Köln 2004. 189 Seiten, 17, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Kleine Tiere, große Probleme: Mariana Lekys Debütroman „Erste Hilfe”
Tote Wellensittiche kann man nicht umtauschen. Wer in einer Kleintierhandlung arbeitet wie die Ich-Erzählerin in Mariana Lekys Debütroman „Erste Hilfe”, lebt zwar mitten in einem Niedlichkeitskosmos, entwickelt aber auch ein besonderes Gespür für die schmerzhaften Kanten der Flaum- und Federwelt. „Das Quieken von Meerschweinen ist wahrscheinlich das Geräusch, das man im Kopf hat, wenn man verrückt wird”, überlegt sich die Studentin, die lieber Snacks für ältere Hunde verkauft als ihre Magisterarbeit in Angriff zu nehmen. Auf der Flucht befinden sich auch ihre besten Freunde: Während Sylvester unter chronischem Frauenverschleiß leidet, kämpft Matilda mit einer handfesten Angstneurose. Sie traut sich nicht mehr über die Straße und tapert mit ihrem irischen Wolfshund den Gehsteig entlang. Die Angst vor dem Verrücktwerden verschwindet erst mit dem Schockprogramm einer Psychotherapeutin.
„Erste Hilfe” ist ein Roman über Ängste in den Zeiten allgegenwärtiger Selbstbehauptungsimperative. Für die verschworene Gemeinschaft von Zauderern hat Mariana Leky einen Watte-Effekt entwickelt, der die Figuren nicht bloßlegt, sondern in eine zugleich ulkige und lakonische Hülle packt. Matilda, Sylvester und die Icherzählerin sind so orientierungslos und verschroben, dass sie den antriebsarmen Goldhamstern und Zierfischen ähneln, die mit diversen Pülverchen kuriert werden. Dieser Schwenk zwischen dem Zoofachhandel auf der einen und dem sozialen Biotop der Studenten-WG auf der anderen Seite ist der motivische Kniff des Romans.
Auch die Frage der Medikamentierung wird doppelt angegangen: Der Besitzer des Kleintierladens wünscht sich etwas zum Einnehmen, damit „das Psychische von selber abklinge”, während Matilda ihre Pharmaprodukte wieder herausrückt. Die neue Behandlung zwingt sie, Riesenrad zu fahren, ein Tablett in der Mensa runterfallen zu lassen und allein nach München zu fliegen. Dass auch die Mutter der Erzählerin als Therapeutin arbeitet, ist eine Lunte, die zwar ausgelegt, aber nicht gezündet wird. Mariana Leky lässt das Trio mit Hund, das wie eine reifere Version der „Fünf Freunde” wirkt, einen leisen Aufstand gegen die tatkräftige Elterngeneration proben.
Die Signalfarben der Welt
„Meine Tochter winkt lieber hinterher”, sagt Matildas weit gereister Vater auf die Frage, warum Matilda nie wegfahre. Die Rebellion der drei besteht darin, von außen betrachtet gar nichts hinzukriegen - weder einen Bruch mit den Bescheidwissern noch eine ordentliche Paranoia. Radikale Gesten oder „Große Erzählungen”, die Ich und Gesellschaft verknüpfen könnten, sind aus dem Horizont dieser Endzwanziger verschwunden; man polstert eine Privatwelt, in der gerade das Kleine zählt. „Wir haben kein Tier, das weit über den Knöchel geht”, erklärt die Kleintierhilfskraft.
„Erste Hilfe” ist ein Generationenroman, der die Gemeinschaftssehnsüchte dezidiert uncooler Figuren bebildert. Er beobachtet die Ängstlichen, die sich weder der hedonistischen noch der engagierten Fraktion ihrer Altersgenossen zuschlagen lassen, vor den Signalfarben der großen weiten Welt zurückzucken und sich lieber ihrem pastelligen Mikrokosmos zuwenden. Man kann das auch als Notlandung im Käfig der Privatneurosen lesen, doch die Stärke des Romans liegt weniger in der erzählten Geschichte als in den sprachlichen Details.
Mariana Leky, Jahrgang 1973, wurde vor drei Jahren mit „Liebesperlen” bekannt, einem Erzählband, der das Erwachsenwerden wie einen Hindernisparcours umkreist. In ihrem Debütroman hat sie ein Vokabular gefunden, mit dem sie sich gekonnt an das Sicherheitsbedürfnis ihrer Protagonisten heranpirscht. Matilda kauft sich eine „Folienrückwand mit Süßwassermotiv”, und Sylvester sucht beruhigende Wörter, die von der „Sitzgarnitur” über das „Jojobaöl” bis zum „Nistmaterial” alles auflisten, was im Kollektivbewusstsein als harmoniefördernd abgespeichert wurde.
Trotz dieser gelungenen Feinanalysen wünscht man dem Roman aufs Ganze gesehen manchmal genau das, was seine Figuren selbstironisch als Mangel konstatiert haben: „ein bisschen Pepp”. Ein paar antriebsfördernde Zierfischpillen würden vielleicht schon ausreichen.
JUTTA PERSON
MARIANA LEKY: Erste Hilfe. Roman. DuMont Verlag, Köln 2004. 189 Seiten, 17, 90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2004Der Wahnsinn lauert in der Kleintierhandlung
Verrückt wird man am besten vor größtmöglichem Publikum: In ihrem ersten Roman läßt Mariana Leky Meerschweinchen fiepen und Hunde sprechen
Der Irrsinn ist ein tückischer Feind. Ganz sacht schleicht er sich an, lauert auf Hinterkopfhöhe und sucht sich für den Überfall einen Moment aus, der ihm die größte Wirkung sichert, indem der Überfallene vor den Augen und Ohren einer ganzen Menschenmenge Symptome der plötzlichen Erkrankung zeigt.
Da ist es nur ein Glück, daß Matilda die Gefahr rechtzeitig spürt und auf der Hut ist: "Matilda dachte, sie könne nicht über die Straße gehen, weil vielleicht mitten auf der Straße ein Verrücktsein ausbricht, das wahllos hinter ihr her ist." Sie malt sich aus, wie sie in aller Öffentlichkeit schreien, auf den Boden oder gegen den Kopf trommeln wird, "und wenn man auf der Fahrbahn richtig loslegt mit Verrücktsein, dachte Matilda, die vorher nicht viel und plötzlich alles über das Verrücktsein wußte, weil ein Verrücktsein, wenn es hinter einem her ist, alle notwendigen Hintergrundinformationen und Verhaltensregeln vorausschickt, wenn man also damit loslegt, dachte Matilda, dann sind davon nicht nur die Fußgänger, sondern auch die Autofahrer betroffen, es würden viele Leute zuschauen, und ein Verrücktsein, dachte Matilda, bricht in der Regel vor einem größtmöglichen Publikum aus, damit Größe und Schwere des Verücktseins zur bestmöglichen Geltung kommen."
Viel später wird eine Therapeutin bei Matilda eine "soziale Phobie" diagnostizieren, die junge Frau wird eine Reihe angsteinflößender Situationen überstehen und von ihrer Grundnervosität loskommen. Viel später auch wird man sich fragen, ob in dem engbefreundeten Trio wirklich sie es ist, die am meisten der Behandlung bedarf. Denn die beiden anderen, der Charmeur Sylvester und seine Mitbewohnerin, die Matildas Geschichte erzählt, stehen der Welt im Grunde ähnlich ängstlich gegenüber, auch wenn ihre Reaktionen weniger offensichtlich von Panik gezeichnet sind: Sylvester ist heftig damit beschäftigt, sich auf nichts und niemanden festzulegen, und die Erzählerin weigert sich diskret, aber effektiv, im Privaten wie im Beruflichen Initiative zu entwickeln: Sie arbeitet halbtags in einer Kleintierhandlung, statt ihr Studium abzuschließen, sie trauert einem früheren Liebhaber hinterher, statt seine Anrufe entgegenzunehmen, und sie redet sich tapfer ein, daß die kurze Affäre, die sie einmal mit Sylvester hatte, ganz und gar ohne Folgen blieb, daß zwischen ihnen nichts als Freundschaft sei, auch wenn sie mittlerweile fast symbiotisch in der gemeinsamen Wohnung miteinander leben.
Mariana Leky, Jahrgang 1973, hat nach dem Erzählungsband "Liebesperlen" jetzt ihren ersten Roman vorgelegt, dessen leichtfüßiger, souverän-unprätentiöser Stil das ernste Thema, das er verhandelt, anfangs beinahe verhüllt. "Erste Hilfe" erzählt vom unmerklichen Übergang von einer latenten, noch unauffälligen Angstneurose in eine manifeste, schildert eine berührende Liebe, die sich nicht zu sich selbst traut, und wählt dafür eine raffiniert-defizitäre Perspektive. Denn die tief in all dies verstrickte Erzählerin kommt vor lauter anbrandender Realität kaum einmal dazu, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen oder das Geschehen zu interpretieren - der Präsensstil, der bei anderen jüngeren Autoren oft etwas anstrengend Unmittelbarkeit suggerieren will, erweist sich vor diesem Hintergrund als einleuchtende Entscheidung.
Wenn die Erzählerin, vielleicht die Ängstlichste von allen, in seltenen Momenten doch einmal agiert statt zu reagieren, wenn sie also beispielsweise, weil niemand sonst mehr dazu in der Lage ist, das rettende Auto steuert, obwohl sie keinen Führerschein besitzt, dann sagt sie, überrascht von sich und der Welt, den Satz: "Wir ziehen das jetzt durch." Und daß sie anschließend das Auto mit ihren beiden angeschlagenen Freunden unfallfrei in die Ambulanz bringt, ist dann kaum noch erstaunlich.
Denn auch von Auswegen handelt dieser schmale Roman, von Strategien, einer Grundangst zu entkommen, die auch den anderen Figuren nicht fremd ist. Da ist etwa der massige Besitzer der Tierhandlung: "An empfindlichen Tagen erträgt er nichts, keinen Ton, dann bleibt seine Tür zu und er kommt nicht heraus. An empfindlichen Tagen ruft er mich ab und zu im Geschäftsraum an, der direkt an sein Büro grenzt, um Anweisungen zu geben oder mir zu sagen, daß ich eigentlich ja gar keine ausgebildete Zoofachverkäuferin sei und man das merke, ,an allen Ecken und Enden merkt man das', sagt er." Als ihn das Freundestrio einmal zu einer ausgelassenen Feier einlädt und er dem Partylärm so überraschend gleichmütig gegenübersteht, meint er nur, er habe sich in die Unempfindlichkeit eben hineingetrunken - und leert hastig das nächste Glas. Matilda nimmt Tabletten, die schön gleichgültig, aber rasch abhängig machen. Und Sylvester erzählt so lange erfundene Geschichten von sich und seinen Verwandten, besucht so lange ein Medium, das ihm von seinen früheren Inkarnationen erzählt (beispielsweise: ein Schiffskellner auf der Titanic, ein Jünger Jesu, ein Sklave im Matriarchat und eine Tempeltänzerin), bis er sich seinen wirklichen Lebensumständen völlig entzogen hat und für seine Umgebung ungreifbar geworden ist. Das gilt vor allem für seine vielen Flirts, die immer wieder in der Wohnung auftauchen und die Erzählerin - während Sylvester sich verleugnen läßt - um Auskunft über ihn bitten: "Sylvester zu fragen, haben sie aufgegeben, weil er nicht antwortet." Noch am Ende des Romans wird die Erzählerin auf ein Klingeln warten, das Sylvesters Rückkehr ankündigen soll, ohne zu wissen, ob sie das Geräusch je hören wird.
Es ist vor allem die Akustik, der Lekys erzählerische Sorgfalt gilt, und wenn sie eine psychische Störung oder die Angst davor beschreibt, spielen Geräusche eine große Rolle. Was sich im Kopf wohl abspielt, wenn man merkt, daß man verrückt wird, rätseln die Freunde, und werden sich nicht einig, ob man sich in dieser Situation eher den Ton eines fiependen Meerschweinchens oder das Wischgeräusch von Zeitungspapier auf einem Wandspiegel einbildet. Am Ende hört die Erzählerin Matildas Hund, der bislang nicht einmal bellen mochte, klar und deutlich zu ihr sprechen: "Es klingelt, sagt er."
Nur ganz gelegentlich trägt Leky etwas dick auf, wenn beispielsweise die Erzählerin und Sylvester, die sich so schwer miteinander tun, immer wieder nur mit dem Spiegelbild des anderen sprechen, wenn sie auf dem Bett unter dem schrägen Dachfenster liegen und in der Scheibe wahlweise den Himmel oder ihre beiden Gesichter sehen.
Doch das sind allenfalls Schönheitsfehler in einem erstaunlich stilsicheren Text. Bei aller Klarheit in der Sprache, bei aller scheinbaren Geradlinigkeit in der Erzählweise ist "Erste Hilfe" ein Roman, der seiner Geschichte eine keineswegs eindeutige Richtung verleiht. Denn je deutlicher er seine Perspektive macht, je klarer die besondere psychische Disposition der Erzählerin wird, um so mehr Zurückhaltung ist ihrer Schilderung gegenüber angebracht. Was sie verschweigt, läßt sich manchmal aus den Reaktionen ihrer Umgebung erschließen, manches bleibt ganz in der Schwebe, was dem Roman ebenso gut zu Gesicht steht wie die völlige Unentschiedenheit über Sinn und Unsinn der vorgestellten Therapien über Matildas Krankengeschichte hinaus.
Manches allerdings läßt sich mühelos auch auf ihre Umgebung übertragen. "Warum soll Matilda sehr große Angst kriegen", fragt die Erzählerin Matildas Therapeutin bei einem besonders anstrengenden Konfrontationsversuch. Und die antwortet: "Damit sie merkt, daß sie es überlebt."
Mariana Leky: "Erste Hilfe". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004. 187 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verrückt wird man am besten vor größtmöglichem Publikum: In ihrem ersten Roman läßt Mariana Leky Meerschweinchen fiepen und Hunde sprechen
Der Irrsinn ist ein tückischer Feind. Ganz sacht schleicht er sich an, lauert auf Hinterkopfhöhe und sucht sich für den Überfall einen Moment aus, der ihm die größte Wirkung sichert, indem der Überfallene vor den Augen und Ohren einer ganzen Menschenmenge Symptome der plötzlichen Erkrankung zeigt.
Da ist es nur ein Glück, daß Matilda die Gefahr rechtzeitig spürt und auf der Hut ist: "Matilda dachte, sie könne nicht über die Straße gehen, weil vielleicht mitten auf der Straße ein Verrücktsein ausbricht, das wahllos hinter ihr her ist." Sie malt sich aus, wie sie in aller Öffentlichkeit schreien, auf den Boden oder gegen den Kopf trommeln wird, "und wenn man auf der Fahrbahn richtig loslegt mit Verrücktsein, dachte Matilda, die vorher nicht viel und plötzlich alles über das Verrücktsein wußte, weil ein Verrücktsein, wenn es hinter einem her ist, alle notwendigen Hintergrundinformationen und Verhaltensregeln vorausschickt, wenn man also damit loslegt, dachte Matilda, dann sind davon nicht nur die Fußgänger, sondern auch die Autofahrer betroffen, es würden viele Leute zuschauen, und ein Verrücktsein, dachte Matilda, bricht in der Regel vor einem größtmöglichen Publikum aus, damit Größe und Schwere des Verücktseins zur bestmöglichen Geltung kommen."
Viel später wird eine Therapeutin bei Matilda eine "soziale Phobie" diagnostizieren, die junge Frau wird eine Reihe angsteinflößender Situationen überstehen und von ihrer Grundnervosität loskommen. Viel später auch wird man sich fragen, ob in dem engbefreundeten Trio wirklich sie es ist, die am meisten der Behandlung bedarf. Denn die beiden anderen, der Charmeur Sylvester und seine Mitbewohnerin, die Matildas Geschichte erzählt, stehen der Welt im Grunde ähnlich ängstlich gegenüber, auch wenn ihre Reaktionen weniger offensichtlich von Panik gezeichnet sind: Sylvester ist heftig damit beschäftigt, sich auf nichts und niemanden festzulegen, und die Erzählerin weigert sich diskret, aber effektiv, im Privaten wie im Beruflichen Initiative zu entwickeln: Sie arbeitet halbtags in einer Kleintierhandlung, statt ihr Studium abzuschließen, sie trauert einem früheren Liebhaber hinterher, statt seine Anrufe entgegenzunehmen, und sie redet sich tapfer ein, daß die kurze Affäre, die sie einmal mit Sylvester hatte, ganz und gar ohne Folgen blieb, daß zwischen ihnen nichts als Freundschaft sei, auch wenn sie mittlerweile fast symbiotisch in der gemeinsamen Wohnung miteinander leben.
Mariana Leky, Jahrgang 1973, hat nach dem Erzählungsband "Liebesperlen" jetzt ihren ersten Roman vorgelegt, dessen leichtfüßiger, souverän-unprätentiöser Stil das ernste Thema, das er verhandelt, anfangs beinahe verhüllt. "Erste Hilfe" erzählt vom unmerklichen Übergang von einer latenten, noch unauffälligen Angstneurose in eine manifeste, schildert eine berührende Liebe, die sich nicht zu sich selbst traut, und wählt dafür eine raffiniert-defizitäre Perspektive. Denn die tief in all dies verstrickte Erzählerin kommt vor lauter anbrandender Realität kaum einmal dazu, einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen oder das Geschehen zu interpretieren - der Präsensstil, der bei anderen jüngeren Autoren oft etwas anstrengend Unmittelbarkeit suggerieren will, erweist sich vor diesem Hintergrund als einleuchtende Entscheidung.
Wenn die Erzählerin, vielleicht die Ängstlichste von allen, in seltenen Momenten doch einmal agiert statt zu reagieren, wenn sie also beispielsweise, weil niemand sonst mehr dazu in der Lage ist, das rettende Auto steuert, obwohl sie keinen Führerschein besitzt, dann sagt sie, überrascht von sich und der Welt, den Satz: "Wir ziehen das jetzt durch." Und daß sie anschließend das Auto mit ihren beiden angeschlagenen Freunden unfallfrei in die Ambulanz bringt, ist dann kaum noch erstaunlich.
Denn auch von Auswegen handelt dieser schmale Roman, von Strategien, einer Grundangst zu entkommen, die auch den anderen Figuren nicht fremd ist. Da ist etwa der massige Besitzer der Tierhandlung: "An empfindlichen Tagen erträgt er nichts, keinen Ton, dann bleibt seine Tür zu und er kommt nicht heraus. An empfindlichen Tagen ruft er mich ab und zu im Geschäftsraum an, der direkt an sein Büro grenzt, um Anweisungen zu geben oder mir zu sagen, daß ich eigentlich ja gar keine ausgebildete Zoofachverkäuferin sei und man das merke, ,an allen Ecken und Enden merkt man das', sagt er." Als ihn das Freundestrio einmal zu einer ausgelassenen Feier einlädt und er dem Partylärm so überraschend gleichmütig gegenübersteht, meint er nur, er habe sich in die Unempfindlichkeit eben hineingetrunken - und leert hastig das nächste Glas. Matilda nimmt Tabletten, die schön gleichgültig, aber rasch abhängig machen. Und Sylvester erzählt so lange erfundene Geschichten von sich und seinen Verwandten, besucht so lange ein Medium, das ihm von seinen früheren Inkarnationen erzählt (beispielsweise: ein Schiffskellner auf der Titanic, ein Jünger Jesu, ein Sklave im Matriarchat und eine Tempeltänzerin), bis er sich seinen wirklichen Lebensumständen völlig entzogen hat und für seine Umgebung ungreifbar geworden ist. Das gilt vor allem für seine vielen Flirts, die immer wieder in der Wohnung auftauchen und die Erzählerin - während Sylvester sich verleugnen läßt - um Auskunft über ihn bitten: "Sylvester zu fragen, haben sie aufgegeben, weil er nicht antwortet." Noch am Ende des Romans wird die Erzählerin auf ein Klingeln warten, das Sylvesters Rückkehr ankündigen soll, ohne zu wissen, ob sie das Geräusch je hören wird.
Es ist vor allem die Akustik, der Lekys erzählerische Sorgfalt gilt, und wenn sie eine psychische Störung oder die Angst davor beschreibt, spielen Geräusche eine große Rolle. Was sich im Kopf wohl abspielt, wenn man merkt, daß man verrückt wird, rätseln die Freunde, und werden sich nicht einig, ob man sich in dieser Situation eher den Ton eines fiependen Meerschweinchens oder das Wischgeräusch von Zeitungspapier auf einem Wandspiegel einbildet. Am Ende hört die Erzählerin Matildas Hund, der bislang nicht einmal bellen mochte, klar und deutlich zu ihr sprechen: "Es klingelt, sagt er."
Nur ganz gelegentlich trägt Leky etwas dick auf, wenn beispielsweise die Erzählerin und Sylvester, die sich so schwer miteinander tun, immer wieder nur mit dem Spiegelbild des anderen sprechen, wenn sie auf dem Bett unter dem schrägen Dachfenster liegen und in der Scheibe wahlweise den Himmel oder ihre beiden Gesichter sehen.
Doch das sind allenfalls Schönheitsfehler in einem erstaunlich stilsicheren Text. Bei aller Klarheit in der Sprache, bei aller scheinbaren Geradlinigkeit in der Erzählweise ist "Erste Hilfe" ein Roman, der seiner Geschichte eine keineswegs eindeutige Richtung verleiht. Denn je deutlicher er seine Perspektive macht, je klarer die besondere psychische Disposition der Erzählerin wird, um so mehr Zurückhaltung ist ihrer Schilderung gegenüber angebracht. Was sie verschweigt, läßt sich manchmal aus den Reaktionen ihrer Umgebung erschließen, manches bleibt ganz in der Schwebe, was dem Roman ebenso gut zu Gesicht steht wie die völlige Unentschiedenheit über Sinn und Unsinn der vorgestellten Therapien über Matildas Krankengeschichte hinaus.
Manches allerdings läßt sich mühelos auch auf ihre Umgebung übertragen. "Warum soll Matilda sehr große Angst kriegen", fragt die Erzählerin Matildas Therapeutin bei einem besonders anstrengenden Konfrontationsversuch. Und die antwortet: "Damit sie merkt, daß sie es überlebt."
Mariana Leky: "Erste Hilfe". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004. 187 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Rezensent Tilman Spreckelsen ist beeindruckt. Nicht nur, weil der leichtfüßige, souverän-unprätentiöse Stil dieses "erstaunlich stilsicheren" Romanerstlings das ernste Thema, das er seinen Informationen zufolge behandelt, zunächst beinahe verhüllt. Auch die raffiniert-defizitäre Perspektive, mit der die Autorin hier den "unmerklichen Übergang von einer latenten in eine manifeste Angstneurose" geschildert hat, tragen für ihn zum sehr eigenen Ton dieses Buches bei. Berührt hat den Rezensenten auch die im Roman geschilderte Liebe zwischen der von einer Angstphobie befallenen Protagonistin Mathilde und einem jungen Mann namens Sylvester, "die sich nicht zu sich selbst traut". Die besondere erzählerische Sorgfalt der Autorin sieht der Rezensent der Akustik gelten. Wenn Mariana Leky eine psychische Störung oder die Angst davor beschreibe, lasse sie besonders Geräusche eine große Rolle spielen. Da fiepen dann Meerschweine, es raschelt Zeitungspapier. Und am Ende, lesen wir, spricht sogar ein Hund.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
»Es ist nicht viel, was in einem Buch stehen muss, damit ein Lieblingsbuch daraus wird, das beweist Mariana Leky.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Ein schöner Roman über Freundschaft, Mitgefühl und Liebe.« WELT AM SONNTAG »Das Schöne an der Lektüre ist der so prägnante wie wache Blick der Autorin auf drei Menschen, die zeigen, wie Freundschaft geht.« BUCHREPORT »[...] ein lesenswerter Roman über Freundschaft, Fürsorge und die Angst vor der Angst.« Jessica Will, RUHR NACHRICHTEN »Ohne Ironie geht gar nichts, und Leky versteht sich auf diese edle Kunst der Decouvrierung.« SALZBURGER NACHRICHTEN »Wie bereits in 'Liebesperlen' entwirft die Autorin ihre lakonischen Figuren mit so viel Liebe und Anteilnahme, dass man sich wünscht, die Welt fortan aus ihrer Perspektive sehen zu können.« JOURNAL FRANKFURT »Neurosen, Phobien, Panikattacken, ein wenig attraktives Thema für ein Romandebüt. Leky macht daraus einen poetischen Song, in einer ungekünstelten Sprache, mit einem Blick, der unter die Oberflächen reicht.« BADISCHE NEUESTE NACHRICHTEN »Mariana Leky gelingt in 'Erste Hilfe', ihrem zweiten Buch, Erstaunliches.« EDIT »Mariana Leky hat ein großartiges Buch über Freundschaft geschrieben - ohne Dramen, Tränen und Versöhnungsszenarien.« KREUZER STADTMAGAZIN »'Erste Hilfe' [zeichnet sich] durch einen klaren, direkten Stil und feinen Humor aus. Mariana Leky braucht nicht viele Worte, um präzise den wunden Punkt zu treffen.« SUPPLEMENT