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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ungewöhnlich reif: Katharina Peter erweitert mit ihrem Debüt "Erzählung vom Schweigen" die Phalanx der deutschen Familienromane.
Wenn sich der zeitgenössische Roman in die Abgründe der Vergangenheit wirft, wird so verlässlich gern zu überraschend aufgetauchten Tagebuchblättern oder einem verstaubten Bündel Briefe gegriffen, dass Schreibschuldozenten solche Expositionen womöglich rot anstreichen: Echt jetzt? Auch Katharina Peters "Erzählung vom Schweigen" beginnt mit einem kursiv gesetzten Portalzitat, in dem ein unbekannter Verfasser unterm Datum des 18. März 1908 in sepiafarbenen Sätzen die Anlage eines "Familienbuchs" annonciert, "in dem jeweils die Häupter der Familie ihre Gedanken, Erlebnisse, Gutes und Böses aus ihrem Leben zu ihrer eigenen und ihrer Nachkommen Erinnerung niederschreiben mögen". Der Haken: Den Kindern bleibt es verschlossen, erben soll es derjenige, "der nach unserer Ansicht die beste Garantie für eine sorgfältige Weiterführung bietet".
Wer nun glaubt, sich von einem raunenden Beschwörer des Imperfekts durch eine gut abgehangene Familiensaga tragen lassen zu können, muss für die folgenden 240 Seiten sehr, sehr stark sein: Die Stimme, die übernimmt - wütend, böse, schrill, gnadenlos sarkastisch und dabei niemanden, am allerwenigstens sich selbst schonend -, ist die, die vermutlich keiner im Buch der Familie lesen will. Früher hätte man so einer wirkmächtig den Mund verboten, wenn nötig gestopft.
"Meine Geschichte ist nicht meine Geschichte", sagt die Protagonistin des Romans, die Schriftstellerin Karolina Estor, und erinnert sich an traumatisierende Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend im Taunus. Shortcuts, manchmal nur wenige Zeilen, dann eine halbe Seite lang, treibend rhythmisiert und in pointierten Dialogen - dass Katharina Peter, wie derzeit eine ganze Reihe Prosadebütanten, vom Theater kommt, ist ein klarer Gewinn. Es wird, das ist nach wenigen Sätzen klar, keine x-beliebig missratene Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Hier schreibt jemand buchstäblich um sein Leben.
"Fotos beweisen, dass meine Eltern ein Paar waren. Elke und Klaus." Erbarmungslos werden die "Vornamen-Eltern", die mit den Traditionen brechen wollten, aber selbst schmerzhaft gefühlsarm und beziehungsunfähig sind, durchs Säurebad gezogen. Hier die kantige Elke, eine der wenigen einflussreichen weiblichen K-Gruppen-Kader der Siebzigerjahre, mit Faible für Lenin und den sowjetischen Reformpädagogen Anton Makarenko, gefängnisgestählt, später Logistic Consultant eines Konzern-Multis. Dort der kuchenweiche Klaus, "Salonkommunist" aus gutem Haus, der sich selbst als aufopferungsvollen alleinerziehenden Vater sieht. In Karolinas Augen "ein übergriffiges Wrack". Für Elke ist die Scheidung Anfang der Neunzigerjahre "ihr zwanzigster Parteitag". Sie "verriet unsere Familie, so wie Chruschtschow 1956 Stalin verraten hatte". Klaus ist kurzzeitig begeistert von der intellektuellen Wachheit seiner Tochter: "Er wünschte sich, dass aus mir eine Journalistin im Stil der jungen Ulrike Meinhof würde." Später ist er enttäuscht: "Wir haben eine Bettina Röhl gekriegt."
Karolina flüchtet sich zehn lange Jahre, bis zur Volljährigkeit, in den Leistungssport. Mit außerordentlich dicht erzählten Passagen führt Katharina Peter, die bis 1997 selbst Kaderathletin im Deutschen Schwimmverband war, die Welt des Synchronschwimmens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein - John von Düffel dürfte an diesem Kosmos zwischen Trainingsschinderei vor der nächsten "Sichtung" und Momenten des Glücks seine Freude haben. Früh auch geht sie durchs "Training der Gefühlsverdrehung": Ein Einundzwanzigjähriger schläft im Ferienlager der Sozialistischen Jugend in Südfrankreich mit dem vierzehnjährigen Mädchen, das keine Worte für den Missbrauch findet und ihn Liebe nennt. Viel später, in der Psychiatrie, erkennt Karolina, dass erlebte Gewalt erst durchs Aussprechen zur Wirklichkeit wird: "Erst dann spürte ich den Schmerz." In der Analyse wird die jahrelang als Heldin verehrte Mutter Elke entzaubert, der emotionale Missbrauch durch Vater Klaus immerhin benannt. Aus der "Tyrannei der Intimität" (Richard Sennett) kann sie dennoch nicht ausbrechen: "Zug um Zug sich nackig machen vor dem anderen. Bis auf die Seele sich ausziehen, um nur ein klein wenig Wärme zu bekommen."
In dem Maß, wie Karolina Zugriff auf ihr eigenes Leben gewinnt, gräbt sie sich tiefer in die Familiengeschichte. Die kursiv gesetzten Dokumente werden zahlreicher und lassen uns Leser daran teilhaben, wie die Protagonistin die nationalsozialistischen Verstrickungen und verleugnete Schuld der Großelterngeneration rekonstruiert. Da ist zum einen die väterliche Linie der Estors in einem fränkischen Dorf, mit scheinbar in Stein gemeißelten Familienmythen: Opa Oskar, der als Stabsarzt in Russland Beine amputiert hat, Oma Mine, die Juden Suppe über den Zaun reichte. Beides, wie so oft im Land der Täter, Teil einer raffinierten Entschuldungsstrategie, eine "Deckgeschichte": Mine Estor hielt es mit Schwarzer Pädagogik, Dr. Oskar Estor war ins T4-Euthanasie-Programm der Nazis verwickelt und ließ seine eigene Tochter Erika, Klaus' Schwester, entmündigen und zwangssterilisieren. Im Familienalbum figuriert Erika lediglich als "schwarzes Schaf", als schwierige Person.
In der mütterlichen Schneider-Linie fällt das toxische Verhältnis zwischen Elke und ihrer Mutter Ilse ins Auge: auch hier ein wahres Minenfeld unbearbeiteter Kriegstraumata. Und: Wer nach 1945 mit dem bräunlichen Erziehungsratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" groß wurde ("Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder vorgenommen"), schlittert offensichtlich fast zwangsläufig in eine Bindungsstörung oder Schlimmeres.
Vielleicht ist der einzige Vorwurf, den man diesem sprachlich souveränen, erstaunlich reifen Debüt machen kann, dass es sich passagenweise mehr wie eine pathologische Fallsammlung über unbewusste Gefühlserbschaften quer durch die Generationen liest, ganz so, als würde es den eigenen erzählerischen Mitteln nicht restlos über den Weg trauen. Dabei kann alles so leicht sein, fast schwerelos: So etwa, wenn Karolina mit ihrer Mutter zum ersten Mal in die alte Heimat des Schneider-Großvaters im heutigen Polen fährt: Nachdem die beiden Frauen eine schäbige, im Halbvergessen schlummernde Ausstellung in einer ehemaligen Euthanasieklinik der Nazis besucht haben, laufen sie ins Offene. Ein Moment, in dem die Panzerungen fallen. Sentimental, vielleicht. Aber ganz ehrlich. NILS KAHLEFENDT
Katharina Peter:
"Erzählung vom Schweigen". Roman.
Verlag Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2023. 244 S., geb., 22,- Euro.
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