In der globalisierten Welt geht die Angst vor einem Verlust der kulturellen Identität um, und fast überall formieren sich die selbsterklärten Retter: In Frankreich gibt Marine Le Pen vor, sie »im Namen des Volkes« zu verteidigen, die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm »deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus«, und die Identitäre Bewegung ruft gleich in mehreren Ländern mit aggressiven Aktionen zur ihrer Bewahrung auf.
Doch gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität? In seinem neuen Buch zeigt François Jullien, dass dieser Glaube eine Illusion ist. Das Wesen der Kultur, so Jullien, ist die Veränderung. Er plädiert dafür, Bräuche, Traditionen oder eine gemeinsame Sprache als Ressourcen zu begreifen, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen.
Doch gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität? In seinem neuen Buch zeigt François Jullien, dass dieser Glaube eine Illusion ist. Das Wesen der Kultur, so Jullien, ist die Veränderung. Er plädiert dafür, Bräuche, Traditionen oder eine gemeinsame Sprache als Ressourcen zu begreifen, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2017Den richtigen Abstand finden
Immer Unterschiede festzustellen, das bringt doch nichts: François Jullien überlegt, wie man eine Kultur verteidigt
Der neue Essay des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien ist keine Handreichung, um mit Rechten zu streiten. Trotz des provozierenden Titels "Es gibt keine kulturelle Identität" beschäftigt er sich nicht mit den kulturellen Verlustängsten und Ausschließungsphantasien von Populisten. Dass die Vorstellung feststehender, sich scharf voneinander abgrenzender kollektiver Kulturen eine Fiktion ist und eine gefährliche obendrein, ist bei ihm vielmehr der Ausgangspunkt des Nachdenkens.
Denn bei einer solchen Einsicht, wie sie unter Liberalen weithin geteilt wird, bleiben einige Fragen offen, die im Rahmen der für gewöhnlich verwendeten Begriffe nicht beantwortet werden können: Wie verträgt sich das mit den offenkundig fatalen, ja gewalttätigen Folgen gesellschaftlicher Desintegration? Wohinein soll man sich integrieren, wenn Kultur bloß etwas Fließendes ist? Kann man dann überhaupt noch sagen, wofür "der Westen" steht, bei dem postnationale Liberale ihre Identität finden? Und ist nicht auch die Universalität des Rechts, bei der man dann gern seine Zuflucht nimmt, eine durchaus nicht universelle, sondern historisch singuläre Erfindung, die man anderen Kulturen nicht ohne weiteres überstülpen darf? Gerät man dann nicht also in einen haltlosen Relativismus, sobald man einmal die Rede von feststehenden Kulturen als Illusion durchschaut hat?
Jullien antwortet in seinem Essay mit einer sorgfältigen, umsichtigen Neubestimmung der Begriffe. "Irrt man sich in Bezug auf die Konzepte", schreibt er eingangs, "verstrickt man sich in eine falsche Debatte und steckt von Anfang an in einer Sackgasse fest." Ironischerweise ist Jullien selbst wegen seiner Versuche, anhand von Konzepten wie "Fadheit" oder "Wirksamkeit" ein chinesisches Denken zu konstruieren, vorgeworfen worden, er essentialisiere und isoliere Kulturen. Offenbar hat ihn gerade die Auseinandersetzung mit dieser Fehleinschätzung auf die Spur seines jetzigen Nachdenkens gebracht.
Er schlägt nun vor, nicht von "Unterschieden", sondern von "Abständen" zwischen den Kulturen zu sprechen, auf Französisch "écarts", was auch Abweichungen oder Abzweigungen bedeuten kann. Das würde es erlauben, sich auf die sich ständig verändernden, sich oft erst im Lauf der Zeit entfaltenden Möglichkeiten einer Kultur im Verhältnis zu anderen zu konzentrieren, während die Feststellung einer Differenz statisch sei, mithin essentialisiere und ausschließe.
Deshalb solle man auch nicht mehr von der "Identität" einer Kultur reden, sondern von deren "Ressourcen" - so verteidige man eine Kultur nicht, indem man sich in ihr einschließt, sondern indem man sie nutzt. Zu den ursprünglich vorhandenen Ressourcen, die durch Vernachlässigung verkümmern, rechnet Jullien die französische "Eleganz", den Subjonctif oder auch den aufgrund von "Demagogie und historischer Feigheit" in Frankreich aufgegebenen Latein- und Griechischunterricht.
Mit der von Jullien vorgeschlagenen Dynamisierung der Sprachregelung kann man dann zu dem nur scheinbar widersprüchlichen Befund kommen, dass sogar die Abstände zwischen den Kulturen zu deren Ressourcen gehören können. Und vollends dialektisch - aber folgerichtig - wird es, wenn zu den europäischen Ressourcen gerade das Universelle gezählt wird, das im Singulären zum Ausdruck komme, in der "Förderung der existenziellen Fähigkeiten des Subjekts, vor allem jener der Loslösung, aus der das Bewusstsein/Gewissen erwächst". Der Autor hält den "Universalismus" für überholt, der trotz seiner partikularen Herkunft und seiner inneren Widersprüchlichkeit Universalität für sich beanspruche und anderen seine Hegemonie aufzwinge. Stattdessen komme es auf das "rebellische Universelle" an, das nicht meint, die Universalität schon erreicht zu haben, und daher immer weiter sucht; ihm gehe es letztlich um die Entfaltung des "Gemeinsamen", des von allen Geteilten, das für das Zusammenleben der Kulturen die nötige Grundlage darstelle.
Wer Julliens Versuche kennt, chinesische und europäische Begriffe ineinander zu spiegeln, wird die skrupulöse Differenzierungsarbeit, die er hier vornimmt, unmittelbar einleuchtend finden. Etwas unbefriedigend ist dagegen der Schlussteil des neuen Essays, der die angestrebte Operationalisierung eines "Dia-logs" als Erkundung des "Zwischen" der Kulturen aufgrund seiner Unbestimmtheit nicht recht einlösen kann. In Deutschland gibt es ein Projekt, das eigentlich die Anschauung für genau solche Themen liefern sollte, wie Jullien sie diskutiert - das Humboldt-Forum im Berliner Schloss. Jullien demonstriert, auf welches Denkniveau das Humboldt-Forum sich einlassen müsste, nähme es die eigenen Absichten ernst. Dieses kleine Buch wird einen bei den Konflikten dieser Tage noch lange begleiten.
MARK SIEMONS
François Jullien: "Es gibt
keine kulturelle Identität". Wir verteidigen die
Ressourcen einer Kultur.
Aus dem Französischen von Erwin Landrichter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 92 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer Unterschiede festzustellen, das bringt doch nichts: François Jullien überlegt, wie man eine Kultur verteidigt
Der neue Essay des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien ist keine Handreichung, um mit Rechten zu streiten. Trotz des provozierenden Titels "Es gibt keine kulturelle Identität" beschäftigt er sich nicht mit den kulturellen Verlustängsten und Ausschließungsphantasien von Populisten. Dass die Vorstellung feststehender, sich scharf voneinander abgrenzender kollektiver Kulturen eine Fiktion ist und eine gefährliche obendrein, ist bei ihm vielmehr der Ausgangspunkt des Nachdenkens.
Denn bei einer solchen Einsicht, wie sie unter Liberalen weithin geteilt wird, bleiben einige Fragen offen, die im Rahmen der für gewöhnlich verwendeten Begriffe nicht beantwortet werden können: Wie verträgt sich das mit den offenkundig fatalen, ja gewalttätigen Folgen gesellschaftlicher Desintegration? Wohinein soll man sich integrieren, wenn Kultur bloß etwas Fließendes ist? Kann man dann überhaupt noch sagen, wofür "der Westen" steht, bei dem postnationale Liberale ihre Identität finden? Und ist nicht auch die Universalität des Rechts, bei der man dann gern seine Zuflucht nimmt, eine durchaus nicht universelle, sondern historisch singuläre Erfindung, die man anderen Kulturen nicht ohne weiteres überstülpen darf? Gerät man dann nicht also in einen haltlosen Relativismus, sobald man einmal die Rede von feststehenden Kulturen als Illusion durchschaut hat?
Jullien antwortet in seinem Essay mit einer sorgfältigen, umsichtigen Neubestimmung der Begriffe. "Irrt man sich in Bezug auf die Konzepte", schreibt er eingangs, "verstrickt man sich in eine falsche Debatte und steckt von Anfang an in einer Sackgasse fest." Ironischerweise ist Jullien selbst wegen seiner Versuche, anhand von Konzepten wie "Fadheit" oder "Wirksamkeit" ein chinesisches Denken zu konstruieren, vorgeworfen worden, er essentialisiere und isoliere Kulturen. Offenbar hat ihn gerade die Auseinandersetzung mit dieser Fehleinschätzung auf die Spur seines jetzigen Nachdenkens gebracht.
Er schlägt nun vor, nicht von "Unterschieden", sondern von "Abständen" zwischen den Kulturen zu sprechen, auf Französisch "écarts", was auch Abweichungen oder Abzweigungen bedeuten kann. Das würde es erlauben, sich auf die sich ständig verändernden, sich oft erst im Lauf der Zeit entfaltenden Möglichkeiten einer Kultur im Verhältnis zu anderen zu konzentrieren, während die Feststellung einer Differenz statisch sei, mithin essentialisiere und ausschließe.
Deshalb solle man auch nicht mehr von der "Identität" einer Kultur reden, sondern von deren "Ressourcen" - so verteidige man eine Kultur nicht, indem man sich in ihr einschließt, sondern indem man sie nutzt. Zu den ursprünglich vorhandenen Ressourcen, die durch Vernachlässigung verkümmern, rechnet Jullien die französische "Eleganz", den Subjonctif oder auch den aufgrund von "Demagogie und historischer Feigheit" in Frankreich aufgegebenen Latein- und Griechischunterricht.
Mit der von Jullien vorgeschlagenen Dynamisierung der Sprachregelung kann man dann zu dem nur scheinbar widersprüchlichen Befund kommen, dass sogar die Abstände zwischen den Kulturen zu deren Ressourcen gehören können. Und vollends dialektisch - aber folgerichtig - wird es, wenn zu den europäischen Ressourcen gerade das Universelle gezählt wird, das im Singulären zum Ausdruck komme, in der "Förderung der existenziellen Fähigkeiten des Subjekts, vor allem jener der Loslösung, aus der das Bewusstsein/Gewissen erwächst". Der Autor hält den "Universalismus" für überholt, der trotz seiner partikularen Herkunft und seiner inneren Widersprüchlichkeit Universalität für sich beanspruche und anderen seine Hegemonie aufzwinge. Stattdessen komme es auf das "rebellische Universelle" an, das nicht meint, die Universalität schon erreicht zu haben, und daher immer weiter sucht; ihm gehe es letztlich um die Entfaltung des "Gemeinsamen", des von allen Geteilten, das für das Zusammenleben der Kulturen die nötige Grundlage darstelle.
Wer Julliens Versuche kennt, chinesische und europäische Begriffe ineinander zu spiegeln, wird die skrupulöse Differenzierungsarbeit, die er hier vornimmt, unmittelbar einleuchtend finden. Etwas unbefriedigend ist dagegen der Schlussteil des neuen Essays, der die angestrebte Operationalisierung eines "Dia-logs" als Erkundung des "Zwischen" der Kulturen aufgrund seiner Unbestimmtheit nicht recht einlösen kann. In Deutschland gibt es ein Projekt, das eigentlich die Anschauung für genau solche Themen liefern sollte, wie Jullien sie diskutiert - das Humboldt-Forum im Berliner Schloss. Jullien demonstriert, auf welches Denkniveau das Humboldt-Forum sich einlassen müsste, nähme es die eigenen Absichten ernst. Dieses kleine Buch wird einen bei den Konflikten dieser Tage noch lange begleiten.
MARK SIEMONS
François Jullien: "Es gibt
keine kulturelle Identität". Wir verteidigen die
Ressourcen einer Kultur.
Aus dem Französischen von Erwin Landrichter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 92 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dirk Pilz empfiehlt François Julliens Gedanken zur kulturellen Identität jedem Bürger und jeder Bürgerin. Provokant im besten Sinn als "herausrufend" aus Denkgewohnheiten, scheint ihm der Essay überzeugend darzulegen, dass der Universalitätsanspruch des westlich-europäischen Denkens in der Begegnung mit anderen Kulturen nur bedingt zu halten ist. Der Autor berührt damit laut Pilz den heißen Kern gegenwärtiger politischer und geistesgeschichtlicher Konflikte: Denn Jullien plädiert für ein rebellisches Universelles, das nicht totalisierend seine eigene Überlegenheit beansprucht, sondern immer weiter den eigenen Horizont erweitert. Wenn Jullien die Zwischenräume zwischen den Kulturellen ausmisst und ihre Spannung erhält, möchte Pilz zustimmen, das nicht gleichartige Gemeinsame im Blick.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man wünscht sich den Band in der Hand jedes Bürgers und jeder Bürgerin.« Dirk Pilz Frankfurter Rundschau 20180115