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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zu kühl? Anita Harags Debüt-Erzählungen
Der Titel dieses Kurzgeschichtenbandes behauptet das Gegenteil eines Satzes, den man in den Wetternachrichten in diesem Herbst sehr häufig gehört hat: "Es ist zu kühl für diese Jahreszeit." Aber zum einen ist in der Literatur alles möglich, auch das Gegenteil der Wirklichkeit, und zum anderen könnte man sich ja sogar vorstellen, dass es in der Realität der zugehörigen Erzählung einer jungen Frau, die in einer ungarischen Stadt lebt, einen zu kühlen April gibt. Nur erscheint diese erzählte Realität ohnehin bald brüchig. Denn der Frühling ist nur noch Erinnerung, inzwischen ist Herbst, und der Mann, der dieser Erzählerin wärmend in den Nacken gepustet und in dessen Haut sie ihre Fingernägel vergraben hatte, während er beim nicht gerade zärtlichen Akt um mehr Intensität und Schmerz bat, dieser Mann ist fort, während sie ihn doch noch überall sieht: "Ich steige in den Bus, er sitzt da, auf dem Zweiersitz. Nein, er steht im Gelenkbereich des Busses, wundert sich, mich zu sehen. Er fährt nie Bus, ich blicke aus dem Fenster, er fährt mit dem blauen Rad vorbei, er ist es, er winkt und bedeutet mir, auszusteigen." Aber die folgende Bitte, es "noch mal zu versuchen", scheint wohl nur Wunsch oder Einbildung, und so deutlich die Flashbacks aus einem unglücklich verlaufenen Strandurlaub wirken, so deutlich fällt einmal das Wort "Trennung", es verschwimmt gar der Erzählerin schon das Gesicht des Mannes.
Anita Harag, die 1988 in Budapest geboren wurde, hat sich bei ihrem erzählerischen Debüt für die kurze Form entschieden - was in unserer romanverrückten Zeit schon an sich zu begrüßen ist. Sie bedient sich klassischer Mittel der Short Story wie der Leerstelle und der Andeutung. Die Erwähnung von "Gasgeruch" am Ende der Titelgeschichte etwa könnte die Spitze eines Eisbergs (im Sinne Ernest Hemingways) sein. Harags Erzählungen handeln zumeist von jungen Frauen im Verhältnis zu ihrer Umwelt, oft zur Familie, und sind von einer Art "Waschbecken-Realismus", also sachlich-kühl im Ton - so etwa bei der Schilderung von Frauenarztbesuchen und Brustkrebs in "Familienanamnese" oder einer dementen Großmutter in "Mineralwasser" zu sehen. Manchmal gerät das vielleicht etwas zu gewollt drastisch; in der Geschichte "Westlich von Székesfehérvár" hingegen, die vom Ausräumen des heruntergekommenen Hauses eines verstorbenen Vaters handelt, wirkt es sehr gelungen. Eine noch andere Wirkung als zu ihrer Entstehungszeit (das Original erschien 2020) entfaltet die Erzählung von einer jungen Ukrainerin im ungarischen Exil, in der man auch etwas Ungarisch lernt. JAN WIELE
Anita Harag: "Es ist
zu kühl für diese
Jahreszeit". Storys.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 192 S., geb.,
22,- Euro.
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