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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Sommerliebe und so viel mehr: Elisabeths Steinkellners "Esther und Salomon"
Eines Tages ruft Christoph auf Salomons Handy an, als der Vierzehnjährige gerade mit seiner kleinen Nennschwester Aisha auf der Straße unterwegs ist. Was er sagt, ist im Umgebungslärm schwer zu verstehen. Nur die Worte "Krankenhaus", "nehmt ein Taxi" - und dann der Satz: "Es tut mir so leid."
Was tut ihm leid? Augenscheinlich trägt der Lebensgefährte von Salomons Mutter keinerlei Schuld an der Katastrophe, die sie nun alle ins Krankenhaus führt - die Kinder und Christoph als Angehörige, die Mutter als Patientin, bei der es unsicher ist, ob sie überleben wird. Ein Fremder wird sich später den Kindern im Krankenhausflur vor die Füße werfen, unverständliche Dinge murmeln und Aishas Hand ergreifen, offenbar der Unfallverursacher.
Doch die Worte des erschütterten Christoph haben vielleicht einen Sinn, der über den konkreten Anlass hinausreicht, sie haben mindestens so viel mit Salomon und Aisha zu tun wie mit dem Schicksal der Mutter. Denn die Todesgefahr, in der sie schwebt, ist nicht der erste drohende Verlust im Leben der beiden: Salomon ist mit seiner Mutter geflohen, nachdem sein Vater in einem ungenannten Land im Beisein der Familie ermordet wurde, und Aishas Mutter hat sich mit ihren beiden Kindern demselben Schlepper anvertraut. Als ihr kleiner Sohn unterwegs auf dem Mittelmeer gestorben ist, hat sie den Säugling Aisha an Salomon und dessen Mutter übergeben und sich selbst mit dem toten Kind ins Wasser gleiten lassen. Es ist sehr viel, was diese Kinder tragen müssen, Christoph weiß das. Und er erweist sich in den folgenden Wochen für sie als großartige Stütze.
Noch etwas setzt der Unfall der Mutter im zweiten Teil von Elisabeth Steinkellners Jugendroman "Esther und Salomon" in Gang: Die beiden vierzehn Jahre alten Titelfiguren hatten sich im Urlaub kennengelernt, davon erzählt der erste Teil des tagebuchartigen, in freien Versen gehaltenen Romans aus der Perspektive Esthers. Die Ehe ihrer Eltern liegt in Scherben, der tägliche Streit belastet auch die beiden Töchter, Esther und ihre jüngere Schwester Flippa, und die Vierzehnjährige fragt sich, "ob man sich selber/zur Adoption freigeben kann". Es ist Flippa, die Aisha kennenlernt und so indirekt Esther und Salomon miteinander bekannt macht. Sie verlieben sich mit einer Absolutheit und Entschiedenheit, wie sie den Eltern längst abhandengekommen ist, und Steinkellner stellt in Esthers Momentaufnahmen dann Sarkasmus und Pathos nebeneinander - das Mädchen ringt ersichtlich um eine Haltung gegenüber all dem, was der Familie und ihr widerfährt, und findet sie nicht zuletzt in den Polaroids, mit denen sie die Ereignisse dieses Urlaubs festhält, weil vieles davon unsagbar ist.
Diese Polaroids stehen dem Text des ersten Romanteils in derselben Weise gegenüber, illustrieren, ergänzen, beleuchten und hinterfragen ihn, wie Salomons Zeichnungen im zweiten Teil, der aus seiner Perspektive erzählt wird. Er tut sich schwer mit den Briefen, die er an Esther schickt, er schlägt einen bewusst unbeschwerten Ton an im einen, dem er schon am nächsten Tag einen ganz anderen folgen lässt, in dem er schreibt, was er eigentlich mitteilen möchte. Und wo Esthers Notizen und vor allem die Beschriftungen ihrer Fotos von der Freude an der Zuspitzung und der Pointe leben, umkreist Salomon eher, worüber er schreibt, und denjenigen, die er zeichnet, rückt er weit weniger auf den Leib, als Esther das mit ihren Fotos tut.
Es ist ausgerechnet der Unfall der Mutter, der schließlich dazu führt, dass Esther sich in den Zug setzt und zu Salomon fährt. Sie wird eine Weile bei Christoph, Aisha und ihm wohnen, die enge Wohnung mit ihnen teilen und dabei erstaunlicherweise nicht noch enger machen, im Gegenteil, wie es scheint.
Als Salomon seine Mutter einmal im Krankenhaus besucht, steht da ein Blumenstrauß mit einer Karte. Dass beides vom Unfallverursacher stammt, merkt der wütende Salomon rasch. Wie sie die Blumen nur annehmen könne, fragt er seine Mutter. "Ich habe so viele Leben verloren / und immer ein neues gewonnen", antwortet sie. "Wieso soll nicht auch dieser Mann / ein neues beginnen dürfen?" Und Salomon? Er zeichne, sagt er einmal, um nicht zu vergessen, so wie er das Gesicht des ermordeten Vaters vergessen hat. Auf dem Bild, das er im Krankenzimmer festhält, ist die Mutter nicht zu sehen, nur der Strauß mit der Karte. Gezeichnet aus großer Entfernung, als traue er der Sache nicht über den Weg. Aber mit einem dezenten Leuchten, ganz so, als könne aus der Sache doch noch etwas Gutes erwachsen.
TILMAN SPRECKELSEN
Elisabeth Steinkellner: "Esther und Salomon". Roman. Mit Fotos der Autorin und Bildern von Michael Roher. Verlag Tyrolia, Innsbruck 2021. 336 S., geb., 19,95 [Euro]. Ab 12 J.
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