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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ethnische "Säuberungen" im 19. und 20. Jahrhundert
Es ist ein beklemmendes Bild, das Michael Schwartz in seinem weit ausgreifenden Buch entwirft. Ein Bild der Moderne, unzweifelhaft. Aber ein Nachtstück. Ein Albtraum. Denn die ethnischen "Säuberungen", von denen hier die Rede ist, waren nicht nur Ausdruck eines rassistischen Reinlichkeitswahns. Sie verweisen zugleich auf eine bürokratische Machbarkeitsvision, die Mensch und Welt übergeordneten Regeln unterwerfen wollte. Mit ihrem Anspruch, totale Lösungen radikal umzusetzen, wurden ethnische "Säuberungen" zu einem abschreckenden Instrument des Totalitären. Und schon Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass es sich beim modernen Völkermord keineswegs um einen "unkontrollierten Gefühlsausbruch" handelt, sondern um eine "Übung in Sozialtechnologie".
Wie planvoll diese Übung entwickelt war und wie monströs ihr Resultat ausfiel, zeichnet Schwartz in aller Ausführlichkeit nach. Schwartz, bislang vor allem mit Arbeiten zur Vertriebenenpolitik in der Bundesrepublik und der DDR hervorgetreten, legt eine Gesamtsicht ethnischer "Säuberungen" im 19. und 20. Jahrhundert vor, die er stringent als Ausdruck nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik analysiert. Der Bogen ist weit gespannt. Er reicht von den kolonialen Genoziden und Deportationen um 1900, beispielsweise in Südwestafrika und auf den Philippinen, bis zu den national-religiös motivierten Massakern in Indien 1947, von den "Säuberungen" der frühen Siedlergesellschaften in Amerika und Australien bis zum Nahost-Konflikt der Gegenwart.
Angesichts einer solch erdrückenden Materialfülle versteht es sich von selbst, dass nicht alle Aspekte gleichermaßen entfaltet werden können. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Begriff der ethnischen "Säuberung", allen Definitionsversuchen zum Trotz, nicht sonderlich präzise ist. Dass sich Gewaltexzesse planvoll und vorsätzlich ereignen, ist im Einzelnen schwer nachweisbar. Vielfach gehören sie in die "Grauzone zwischen Vertreibung und Völkermord". Sie vollständig zu durchmessen ist kaum möglich, und wo die Studie es dennoch versucht, tendiert sie zum Handbuch. In der Regel setzt Schwartz jedoch geschickt einzelne Akzente. Das gilt zum einen für die "frühen Lernorte", vor allem auf dem Balkan, wo seit dem frühen 19. Jahrhundert Nationalisierung und ethnische "Säuberung" unheilvoll Hand in Hand gingen. Zum anderen gilt dies für den Ersten Weltkrieg, in dessen Gefolge nicht nur die koloniale Gewalt "nach Hause" zurückkehrte, sondern gleich mehrere Volksgruppen zu Opfern von Willkür und Gewalt wurden: Armenier ("genozidale Deportation") ebenso wie Griechen ("Deportation ohne Genozid") und Juden ("verhinderte Deportation"). Vor allem aber gilt dies für die rassistische Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik des nationalsozialistischen Regimes, in besonderer Weise für den Judenmord.
Natürlich dürfen die Deportationen in der stalinistischen Sowjetunion in diesem Tableau des Terrors nicht fehlen. Und erwartungsgemäß widerlegt Schwartz einmal mehr auch den sozialistischen Mythos von der "ordnungsgemäßen und humanen Umsiedlung" in Osteuropa nach 1945. Insgesamt wird hier ein großes Gespür für die Brüche im Umgang mit ethnischen "Säuberungen" sichtbar, freilich auch eine gewisse Lust, sie pointiert aufzuspüren, zumal wenn es um die Vertreibung der Deutschen geht. So weist Schwartz etwa darauf hin, dass sich die Tschechische Republik zwar "beharrlich weigert, die 1945 vom Vorgängerstaat Tschechoslowakei erlassenen Dekrete zur Ausbürgerung, Enteignung und Vertreibung der deutschen und ungarischen Minderheiten für ungültig zu erklären", die Nato-Militärintervention gegen die Vertreibung der Kosovo-Albaner durch Serbien 1999 jedoch vorbehaltlos "mitgetragen und damit diese Vertreibung als Unrecht gebrandmarkt" hat.
Wer dem Abgrund entrinnen will, muss ihn genauestens ausloten. Die Sondierungen, wie sie Schwartz durchführt, lassen Ergebnisse zutage treten, die nachdenklich stimmen. Zu Recht betont er beispielsweise, dass der umfangreiche Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, wie er 1923 im Vertrag von Lausanne geregelt wurde, nicht zuletzt ein Werk zweier demokratischer Staaten war, Frankreichs und Großbritanniens. Und dass Churchill wie Roosevelt ihre Handlungsoptionen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Wesentlichen aus der Erfahrungswelt von Lausanne bezogen. Insofern bildeten die ethnischen "Säuberungen" tatsächlich nicht nur eine dunkle Seite der Moderne, sondern auch die Schattenseite der Demokratie, wie es der amerikanische Soziologe Michael Mann einmal formuliert hat.
Erhellend ist zudem der Ansatz, ethnische Konflikte immer auch als Verteilungskämpfe zu verstehen, in denen nicht allein um Vorstellungen von Nation und Rasse, sondern um Eigentum und soziale Positionen gestritten wird. Und weiterführend erscheint schließlich auch der Versuch, den Rollenwechsel zwischen Opfern und Tätern verstärkt in den Blick zu nehmen und dem Phänomen der generationellen Übertragung größere Aufmerksamkeit zu widmen.
Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass manche Utopien besser nie Wirklichkeit werden. "Für jeden dieser Gewaltakte", so heißt es an einer Stelle, gab es "Verantwortliche, namentlich in Politik, Verwaltung, Militär und Wissenschaft. Keine Entscheidung war alternativlos. Doch jede erfolgte mit dem Anspruch, unvermeidlich zu sein, durch vorübergehende Härten eine dauerhaft bessere Welt zu schaffen und die Vertreibungsgewalt dabei zunehmend auf ,ordentliche und humane' Weise in die Tat umzusetzen." Michael Schwartz' vergleichende Studie ist kein Buch, das man genüsslich liest. Der Zugriff ist mitunter sperrig, die sprachliche Umsetzung blass, die Lektüre mühsam. Und doch ist dies ein wichtiges Buch: der schonungslose Spiegel einer anderen Moderne. Ein Lehrstück über die Logik des Barbarischen - und die Verführbarkeit des Menschen.
CARSTEN KRETSCHMANN
Michael Schwartz: Ethnische "Säuberungen" in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Oldenbourg Verlag, München 2013. 694 S., 69,80 [Euro].
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