Paul Celan, der meistgedeutete deutschsprachige Dichter nach 1945, ist auch der Autor eines eminenten Briefwerks. Mit dieser Ausgabe wird es nun erstmals als eigenes Werk sichtbar: in 691 Briefen, davon 330 bisher unpubliziert, an 252 Adressaten. Wer sind die Adressaten? Es sind die Mitglieder der Familie, geliebte Frauen, befreundete Autoren, sehr junge und begeisterte Leser, Übersetzerkollegen, französische Philosophen ebenso wie deutsche Germanisten und die Mitarbeiter vieler Verlage. Aus alledem entsteht in chronologischer Folge über vier Jahrzehnte ein Leben aus Briefen.
In ihnen zeigt sich Celan als herausragender Korrespondenzpartner mit einer enormen stilistischen Bandbreite, ausgeprägt in seiner Fähigkeit, auch auf Unbekannte einzugehen. Die Briefe offenbaren eine Vielzahl bisher verborgener biografischer Fakten, ermöglichen eine Präzisierung seiner Poetologie und zeigen ihn zugleich als Menschen in seinem ganz gewöhnlichen Alltag.
In ihnen zeigt sich Celan als herausragender Korrespondenzpartner mit einer enormen stilistischen Bandbreite, ausgeprägt in seiner Fähigkeit, auch auf Unbekannte einzugehen. Die Briefe offenbaren eine Vielzahl bisher verborgener biografischer Fakten, ermöglichen eine Präzisierung seiner Poetologie und zeigen ihn zugleich als Menschen in seinem ganz gewöhnlichen Alltag.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2019Genie und Alltag
Eine Zeitreise in Briefen: Barbara Wiedemann hat einen Querschnitt aus Paul Celans umfangreicher Korrespondenz ediert. Viel Ungedrucktes ist darunter. Identifiziert wird die Geliebte "Hannele".
Den Weg der Anpassung bin ich nie gegangen, habe mich nie in Autor und Privatperson aufgespalten", heißt es in einem jetzt erstmals gedruckten Briefentwurf Paul Celans an die rumänische Bekannte Nina Cassian vom April 1962, also auf dem Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt des tragischen Zerwürfnisses zwischen dem wohl wichtigsten deutschsprachigen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts und einem großen Teil des Literaturbetriebs. Das Beharren auf Integrität mag erklären, warum Celan, hochgradig sensibel für tatsächliche oder vermeintliche Obertöne, selbst stilistische Kritik als Angriff auf seine Person und jüdische Identität wertete: Rechte wie Linke hätten sich "zusammengetan . . ., um mich zu hassen", schreibt er weiter. Die erste zitierte Aussage aber stimmt: Bei diesem Autor sind Werk und Biographie, komplexe Lyrik und komplexe Persönlichkeit besonders eng verschränkt. Nach außen kann das hermetisch wirken, aufeinander hin aber ist es durchsichtig.
Vielleicht liegt darin das immer schon enorme Interesse an den vielen, emotional äußerst disparaten Briefen des Dichters begründet. Diese sind zwar oft philologisch bedeutsam und stilistisch pointiert, immer aber echte, riskante Lebensäußerungen, nicht literarische Prosa unter falscher Flagge. Die meisten Korrespondenzen liegen inzwischen in Buchform vor. Was Barbara Wiedemann, eine profunde Kennerin von Celans OEuvre und Leben, nun herausgegeben hat, ist freilich ein Novum, der faszinierende Versuch nämlich, den "ganzen Celan" über seine Briefe zu erfassen. Die voluminöse, hervorragend genau und verständlich kommentierte Edition hebt an mit dem Schreiben des Dreizehnjährigen an seine Tante Minna und reicht bis zum erschütternden Abschiedsbrief des immer aussichtsloser gegen die Verdunkelung der Gedanken Ankämpfenden an die letzte Geliebte, Ilana Shmueli, in dem die Empfängerin gebeten wird, bei ausbleibenden Zuschriften Ruhe zu bewahren. Daran sei nur ein Poststreik schuld. Acht Tage später, am 20. Juli 1970, nahm Celan sich das Leben.
Notgedrungen stellt eine Briefausgabe über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg eine Auswahl dar, aber sie ist weit mehr als ein Best-of der vorliegenden Editionen, und zwar schon deshalb, weil es sich bei knapp der Hälfte der 691 Briefe um Erstdrucke handelt. Die bislang nur in Archiven (oder gar nicht) zugänglichen Informationen erweitern die Materialbasis der Celan-Philologie erheblich. Ebenso wichtig aber ist, dass erst in einer solchen Zusammenschau Kontexte des Nebeneinanders sichtbar werden. Wenn man sieht, wie derselbe Celan liebevoll an Frau und Kind schreiben, enthusiastisch Übersetzungen anstoßen, den Tod des "Schnauzbarts" (Stalin) feiern, offenherzig auf Schülerfragen antworten, Lektorate zurechtstutzen, Freunde anschwärmen, wunderschöne Trostbriefe verfassen, bitter kalauern und blindwütig die Mehrzahl der deutschen Intellektuellen der "Hitlerei" bezichtigen konnte - vieles davon zeitgleich -, ahnt man etwas vom Zersprungenen dieser Person.
Eine aufsehenerregende Entdeckung aus jüngster Zeit
Zum romantischen Celan hat es unlängst eine aufsehenerregende Entdeckung gegeben. Fünf Briefe an eine unbekannte Geliebte namens Hannele aus dem Sommer 1951 wurden versteigert (F.A.Z. vom 8. Februar 2019). Die Affäre fiel in eine entscheidende Lebensphase Celans, der noch in Paris Fuß zu fassen suchte. Mit der Zusage der Deutschen Verlags-Anstalt für "Mohn und Gedächtnis", den ersten Gedichtband (eine frühere Publikation hatte Celan wegen vieler Fehler zurückgezogen), begann sein Durchbruch. Und kurz darauf lernte er seine spätere Frau, Gisèle Lestrange, kennen. Einige Briefe an Gisèle sind in der Edition enthalten, emphatisch verliebte zunächst, später solche, die sich an das Stabilisierende dieser Beziehung klammern. Die Ehe ging durch viele Tiefen bis hin zum Mordversuch im Wahn. Im Erstdruck finden wir zudem eine poetische Danksagung an Alfred Günther, Lektor bei der bald von Celan angefeindeten DVA, für den "unwirklich-schön" gestalteten Gedichtband.
Barbara Wiedemann lüftet aber auch das Geheimnis um die unbekannte Geliebte Hannele. Es handelte sich um die 1926 geborene, 1951 bereits geschiedene Berlinerin Hannelore Scholz, die der Student Celan an der Sorbonne kennenlernte. Die beiden trafen sich 1967 noch einmal in Berlin wieder. "Hannele", die als Übersetzerin arbeitete und später den wenig bekannten Maler Egon Hoelzmann heiratete, lebte noch bis zum Jahr 2011. Die vorliegende Edition verdeutlicht indes, wie sehr der seit Juli 1948 in Paris weilende Celan "Anschluss ans Leben" durch Beziehungen suchte: Die Briefe an geliebte Frauen stapeln sich in diesen Jahren. Romantische Zuschriften erhalten etwa die niederländische Widerstandskämpferin Diet Kloos, die Jugendgeliebte Ruth Kraft, Erica Lillegg, die Ehefrau des Wiener Surrealisten Edgar Jené (Celans vorausliegende Exil-Station), das "liebe Reh" Traute Ogris (eine Studentin) und von 1949 an Celans unglückliche, wenngleich von Gisèle akzeptierte Lebensliebe Ingeborg Bachmann. Aufgenommen wurden dabei natürlich auch die erst 2016 aufgetauchten und deshalb im Celan-Bachmann-Briefwechsel "Herzzeit" (2008) fehlenden zwei intimen Briefe von 1957, in denen der aufgewühlte Autor erwägt, für die "Liebste" seine Familie zu verlassen.
In den Liebesbriefen wird ein zärtlicher Celan sichtbar, der zwar mit Einsamkeit kokettiert, diese aber oft ins Poetisch-Symbolische umbiegt: "meine Uhr steht still, mein Valet de chambre ließ sie gestern beim Aufräumen des Zimmers fallen, ich habe also, wenn ich so sagen darf, keine Zeit - endlich!" Daneben erhalten wir Einblick in Celans Arbeitsprozesse als Übersetzer und Lyriker, erkennen, wie akribisch er (nach dem Wiener Publikationsdesaster) Verlagsfahnen korrigiert. Vor allem aber gibt diese Sammlung Auskunft darüber, welche Schneise der Verwüstung die Niedertracht - Störaktionen rechter Zuhörer, vor allem aber die unbegründete Plagiatsanschuldigung durch Iwan Golls Witwe - in das Leben des aufstrebenden Dichters geschlagen hat. In seiner Verbitterung misstraute Celan selbst der wachsenden Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurde. Er überlegte, den Büchnerpreis abzulehnen; die "Darmstädter Akademie" firmiert hier bald als "sogenannte". "Nazitum" überall.
Das alles erklärt sich natürlich aus der traurigen Vorgeschichte. Auch zum Aufenthalt des Juden Paul Celan in zwei verschiedenen rumänischen Arbeitslagern ist bislang Unpubliziertes zu lesen. Im Juli 1942 schreibt er von dort an Ruth Kraft von seinen Sorgen um die kranke Mutter, nicht wissend, dass die Nationalsozialisten die Eltern längst deportiert hatten. Im Dezember 1943 scheint er eine gute "Nachricht von meinen Eltern" erhalten zu haben; da waren sie bereits ermordet. Man kann verstehen, dass hier ein Charakter mit Misstrauen imprägniert wurde.
Als dann die "Goll-Affäre" (auch darüber hat Wiedemann schon wegweisend publiziert) ihre Kreise zog, sah Celan darin das antisemitische Schauspiel, einen toten gegen einen lebenden Juden auszuspielen. Zwischen 1960 und 1962 korrespondierte er wie besessen mit Leitfiguren des Literaturbetriebs, immer Sorge tragend, allen Empfängern sämtliche vermeintlichen Angriffe auf seine jüdisch-deutsche Literaten-Identität mitzuteilen. Wer ihm darauf, wie Heinrich Böll oder Alfred Andersch, Überempfindlichkeit oder Verschwörungsglaube attestierte, wurde fortan zu den "Schurken" und "Gangstern" gezählt. Bald dünnte die Zahl der Freunde stark aus. Zeitlebens wichtig blieb für Celan die Lyrikerin Nelly Sachs.
Celans späte Jahre waren eine briefferne Zeit
In späteren Jahren, als sich Celan oft in psychiatrischer Behandlung befand, beginnt eine "briefferne Zeit"; so nennt es Celan gegenüber dem Komparatisten und Seelenverwandten Peter Szondi. Vor allem Frau und Sohn werden mit um Dezenz bemühte Zuschriften bedacht. Auch neue Geliebte wie Inge Waern oder Ilana Shmueli sind zu verzeichnen, aber diesen Momenten der Lebensfreude gelingt es nicht mehr, das Dunkel zurückzudrängen: "es ist spät geworden in meinem Leben, vor der Zeit".
Bis zum Schluss reflektierte Celan das eigene Schreiben glasklar. Er wusste sehr genau, dass seine nachtschwarzen, allenfalls in ihrem Wohlklang und Urwortvertrauen tröstlichen Gedichte deshalb so unmittelbar ergreifen, weil sie so nahe am Leben (lies: Abgrund) errichtet wurden. Mehrfach verwahrt er sich gegen den Terminus "Artistik", so auch in einem bislang unpublizierten Brief an den Verlagslektor Klaus Reichert. Selbst die schwer dechiffrierbaren späten Gedichte des Bands "Atemwende" seien "kein Weg nach innen": Innen und außen fänden sich darin "verstrebt, aufgehoben in der einen Sprachwirklichkeit des Gedichts". Geschrieben seien seine Gedichte dabei keineswegs für die Toten, sondern "für die Lebenden . . ., allerdings für diejenigen, die der Toten eingedenk bleiben (wollen)". Was Paul Celan damit meint, wird deutlich, wenn er die "Todesfuge" das "Grab" seiner Mutter nennt: ein heiliger Bezirk, der Literaturkritik nicht zugänglich. Das ist ebenso prä- wie postmodern, die Rückkehr des Magischen als sprachliches Absolutum.
OLIVER JUNGEN
Paul Celan: "Etwas ganz und gar Persönliches". Briefe 1934-1970.
Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 1286 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Zeitreise in Briefen: Barbara Wiedemann hat einen Querschnitt aus Paul Celans umfangreicher Korrespondenz ediert. Viel Ungedrucktes ist darunter. Identifiziert wird die Geliebte "Hannele".
Den Weg der Anpassung bin ich nie gegangen, habe mich nie in Autor und Privatperson aufgespalten", heißt es in einem jetzt erstmals gedruckten Briefentwurf Paul Celans an die rumänische Bekannte Nina Cassian vom April 1962, also auf dem Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt des tragischen Zerwürfnisses zwischen dem wohl wichtigsten deutschsprachigen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts und einem großen Teil des Literaturbetriebs. Das Beharren auf Integrität mag erklären, warum Celan, hochgradig sensibel für tatsächliche oder vermeintliche Obertöne, selbst stilistische Kritik als Angriff auf seine Person und jüdische Identität wertete: Rechte wie Linke hätten sich "zusammengetan . . ., um mich zu hassen", schreibt er weiter. Die erste zitierte Aussage aber stimmt: Bei diesem Autor sind Werk und Biographie, komplexe Lyrik und komplexe Persönlichkeit besonders eng verschränkt. Nach außen kann das hermetisch wirken, aufeinander hin aber ist es durchsichtig.
Vielleicht liegt darin das immer schon enorme Interesse an den vielen, emotional äußerst disparaten Briefen des Dichters begründet. Diese sind zwar oft philologisch bedeutsam und stilistisch pointiert, immer aber echte, riskante Lebensäußerungen, nicht literarische Prosa unter falscher Flagge. Die meisten Korrespondenzen liegen inzwischen in Buchform vor. Was Barbara Wiedemann, eine profunde Kennerin von Celans OEuvre und Leben, nun herausgegeben hat, ist freilich ein Novum, der faszinierende Versuch nämlich, den "ganzen Celan" über seine Briefe zu erfassen. Die voluminöse, hervorragend genau und verständlich kommentierte Edition hebt an mit dem Schreiben des Dreizehnjährigen an seine Tante Minna und reicht bis zum erschütternden Abschiedsbrief des immer aussichtsloser gegen die Verdunkelung der Gedanken Ankämpfenden an die letzte Geliebte, Ilana Shmueli, in dem die Empfängerin gebeten wird, bei ausbleibenden Zuschriften Ruhe zu bewahren. Daran sei nur ein Poststreik schuld. Acht Tage später, am 20. Juli 1970, nahm Celan sich das Leben.
Notgedrungen stellt eine Briefausgabe über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg eine Auswahl dar, aber sie ist weit mehr als ein Best-of der vorliegenden Editionen, und zwar schon deshalb, weil es sich bei knapp der Hälfte der 691 Briefe um Erstdrucke handelt. Die bislang nur in Archiven (oder gar nicht) zugänglichen Informationen erweitern die Materialbasis der Celan-Philologie erheblich. Ebenso wichtig aber ist, dass erst in einer solchen Zusammenschau Kontexte des Nebeneinanders sichtbar werden. Wenn man sieht, wie derselbe Celan liebevoll an Frau und Kind schreiben, enthusiastisch Übersetzungen anstoßen, den Tod des "Schnauzbarts" (Stalin) feiern, offenherzig auf Schülerfragen antworten, Lektorate zurechtstutzen, Freunde anschwärmen, wunderschöne Trostbriefe verfassen, bitter kalauern und blindwütig die Mehrzahl der deutschen Intellektuellen der "Hitlerei" bezichtigen konnte - vieles davon zeitgleich -, ahnt man etwas vom Zersprungenen dieser Person.
Eine aufsehenerregende Entdeckung aus jüngster Zeit
Zum romantischen Celan hat es unlängst eine aufsehenerregende Entdeckung gegeben. Fünf Briefe an eine unbekannte Geliebte namens Hannele aus dem Sommer 1951 wurden versteigert (F.A.Z. vom 8. Februar 2019). Die Affäre fiel in eine entscheidende Lebensphase Celans, der noch in Paris Fuß zu fassen suchte. Mit der Zusage der Deutschen Verlags-Anstalt für "Mohn und Gedächtnis", den ersten Gedichtband (eine frühere Publikation hatte Celan wegen vieler Fehler zurückgezogen), begann sein Durchbruch. Und kurz darauf lernte er seine spätere Frau, Gisèle Lestrange, kennen. Einige Briefe an Gisèle sind in der Edition enthalten, emphatisch verliebte zunächst, später solche, die sich an das Stabilisierende dieser Beziehung klammern. Die Ehe ging durch viele Tiefen bis hin zum Mordversuch im Wahn. Im Erstdruck finden wir zudem eine poetische Danksagung an Alfred Günther, Lektor bei der bald von Celan angefeindeten DVA, für den "unwirklich-schön" gestalteten Gedichtband.
Barbara Wiedemann lüftet aber auch das Geheimnis um die unbekannte Geliebte Hannele. Es handelte sich um die 1926 geborene, 1951 bereits geschiedene Berlinerin Hannelore Scholz, die der Student Celan an der Sorbonne kennenlernte. Die beiden trafen sich 1967 noch einmal in Berlin wieder. "Hannele", die als Übersetzerin arbeitete und später den wenig bekannten Maler Egon Hoelzmann heiratete, lebte noch bis zum Jahr 2011. Die vorliegende Edition verdeutlicht indes, wie sehr der seit Juli 1948 in Paris weilende Celan "Anschluss ans Leben" durch Beziehungen suchte: Die Briefe an geliebte Frauen stapeln sich in diesen Jahren. Romantische Zuschriften erhalten etwa die niederländische Widerstandskämpferin Diet Kloos, die Jugendgeliebte Ruth Kraft, Erica Lillegg, die Ehefrau des Wiener Surrealisten Edgar Jené (Celans vorausliegende Exil-Station), das "liebe Reh" Traute Ogris (eine Studentin) und von 1949 an Celans unglückliche, wenngleich von Gisèle akzeptierte Lebensliebe Ingeborg Bachmann. Aufgenommen wurden dabei natürlich auch die erst 2016 aufgetauchten und deshalb im Celan-Bachmann-Briefwechsel "Herzzeit" (2008) fehlenden zwei intimen Briefe von 1957, in denen der aufgewühlte Autor erwägt, für die "Liebste" seine Familie zu verlassen.
In den Liebesbriefen wird ein zärtlicher Celan sichtbar, der zwar mit Einsamkeit kokettiert, diese aber oft ins Poetisch-Symbolische umbiegt: "meine Uhr steht still, mein Valet de chambre ließ sie gestern beim Aufräumen des Zimmers fallen, ich habe also, wenn ich so sagen darf, keine Zeit - endlich!" Daneben erhalten wir Einblick in Celans Arbeitsprozesse als Übersetzer und Lyriker, erkennen, wie akribisch er (nach dem Wiener Publikationsdesaster) Verlagsfahnen korrigiert. Vor allem aber gibt diese Sammlung Auskunft darüber, welche Schneise der Verwüstung die Niedertracht - Störaktionen rechter Zuhörer, vor allem aber die unbegründete Plagiatsanschuldigung durch Iwan Golls Witwe - in das Leben des aufstrebenden Dichters geschlagen hat. In seiner Verbitterung misstraute Celan selbst der wachsenden Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurde. Er überlegte, den Büchnerpreis abzulehnen; die "Darmstädter Akademie" firmiert hier bald als "sogenannte". "Nazitum" überall.
Das alles erklärt sich natürlich aus der traurigen Vorgeschichte. Auch zum Aufenthalt des Juden Paul Celan in zwei verschiedenen rumänischen Arbeitslagern ist bislang Unpubliziertes zu lesen. Im Juli 1942 schreibt er von dort an Ruth Kraft von seinen Sorgen um die kranke Mutter, nicht wissend, dass die Nationalsozialisten die Eltern längst deportiert hatten. Im Dezember 1943 scheint er eine gute "Nachricht von meinen Eltern" erhalten zu haben; da waren sie bereits ermordet. Man kann verstehen, dass hier ein Charakter mit Misstrauen imprägniert wurde.
Als dann die "Goll-Affäre" (auch darüber hat Wiedemann schon wegweisend publiziert) ihre Kreise zog, sah Celan darin das antisemitische Schauspiel, einen toten gegen einen lebenden Juden auszuspielen. Zwischen 1960 und 1962 korrespondierte er wie besessen mit Leitfiguren des Literaturbetriebs, immer Sorge tragend, allen Empfängern sämtliche vermeintlichen Angriffe auf seine jüdisch-deutsche Literaten-Identität mitzuteilen. Wer ihm darauf, wie Heinrich Böll oder Alfred Andersch, Überempfindlichkeit oder Verschwörungsglaube attestierte, wurde fortan zu den "Schurken" und "Gangstern" gezählt. Bald dünnte die Zahl der Freunde stark aus. Zeitlebens wichtig blieb für Celan die Lyrikerin Nelly Sachs.
Celans späte Jahre waren eine briefferne Zeit
In späteren Jahren, als sich Celan oft in psychiatrischer Behandlung befand, beginnt eine "briefferne Zeit"; so nennt es Celan gegenüber dem Komparatisten und Seelenverwandten Peter Szondi. Vor allem Frau und Sohn werden mit um Dezenz bemühte Zuschriften bedacht. Auch neue Geliebte wie Inge Waern oder Ilana Shmueli sind zu verzeichnen, aber diesen Momenten der Lebensfreude gelingt es nicht mehr, das Dunkel zurückzudrängen: "es ist spät geworden in meinem Leben, vor der Zeit".
Bis zum Schluss reflektierte Celan das eigene Schreiben glasklar. Er wusste sehr genau, dass seine nachtschwarzen, allenfalls in ihrem Wohlklang und Urwortvertrauen tröstlichen Gedichte deshalb so unmittelbar ergreifen, weil sie so nahe am Leben (lies: Abgrund) errichtet wurden. Mehrfach verwahrt er sich gegen den Terminus "Artistik", so auch in einem bislang unpublizierten Brief an den Verlagslektor Klaus Reichert. Selbst die schwer dechiffrierbaren späten Gedichte des Bands "Atemwende" seien "kein Weg nach innen": Innen und außen fänden sich darin "verstrebt, aufgehoben in der einen Sprachwirklichkeit des Gedichts". Geschrieben seien seine Gedichte dabei keineswegs für die Toten, sondern "für die Lebenden . . ., allerdings für diejenigen, die der Toten eingedenk bleiben (wollen)". Was Paul Celan damit meint, wird deutlich, wenn er die "Todesfuge" das "Grab" seiner Mutter nennt: ein heiliger Bezirk, der Literaturkritik nicht zugänglich. Das ist ebenso prä- wie postmodern, die Rückkehr des Magischen als sprachliches Absolutum.
OLIVER JUNGEN
Paul Celan: "Etwas ganz und gar Persönliches". Briefe 1934-1970.
Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 1286 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2020Schatten der Verfolgung
Eine voluminöse, aber keineswegs umfassende Edition
der Briefe Paul Celans von 1934 bis 1970
VON HELMUT BÖTTIGER
Es kam alles auf die Briefe an. Hier wurde das verhandelt, was einen im Innersten umtrieb, manchmal spontan, meistens aber hoch konzentriert. Die Epoche des Briefeschreibens ging sogar noch ein wenig über den Zeitraum hinaus, in dem ein herausragender Lyriker wie Paul Celan sich maßgeblich in dieser Form ausdrückte. Die Zahl der Briefeditionen Celans ist mittlerweile kaum noch überschaubar. In den letzten Jahren schien es, als würde fast jede Notiz und jedes Schreiben des Dichters aus dem Nachlass publiziert werden. So differenzierte sich allmählich das Bild jenes lange Zeit fast mythisch erscheinenden Celan aus, von dessen näheren Lebensumständen man in den ersten Jahrzehnten nach seinem Freitod 1970 kaum etwas gewusst hatte. Je mehr man über ihn erfuhr, desto rätselhafter schien er allerdings auch wieder zu werden. Wenn jetzt ein Band mit 1286 Seiten erscheint, der sich „Briefe 1934-1970“ nennt, ist man überrascht: Sollte das jetzt wirklich ein Schlusswort sein?
Nicht alle der 691 hier abgedruckten Briefe Celans sind neu. 330 davon werden als „Erstdrucke“ ausgewiesen (was nicht auf alle zutrifft!), der Rest ist zum Teil an vergleichsweise entlegenen Orten bereits publiziert, zu einem anderen Teil wurde er aber auch schon in den zahlreichen Ausgaben der letzten Jahre veröffentlicht. Dass die Herausgeberin Barbara Wiedemann vieles noch einmal nachdruckt, liegt an ihrem Vorhaben, anlässlich seines 100. Geburtstags 2020 eine Biografie Celans anhand seiner Briefe vorzulegen.
Immer klarer wird, dass Celan weitaus widersprüchlicher war, als es sein öffentliches Bild nahelegt. Zärtlichen Liebesbekundungen an seine Frau stehen viele intime Affären unterschiedlichen Charakters gegenüber. Und Celans Judentum war eindeutig nicht religiös oder mystisch geprägt, es bezog sich auf konkrete zeitgeschichtliche Erfahrungen.
Zu den aufschlussreichen, bisher schwer zugänglichen Briefen gehört zum Beispiel einer an Inge Waern, einer jungen Freundin von Nelly Sachs. Hier wird Celans oft unterschätzter Gegensatz zu der von ihm lange als jüdische „Schwester“ bewunderten Lyrikerin deutlich. Nelly Sachs versuchte in ihren Gedichten, trotz aller Katastrophen eine ursprüngliche Einheit der göttlichen Schöpfung wiederzufinden. Celan hingegen spricht als ein sich historisch verortender Einzelner, der ins Zentrum des Schmerzes zielt. Celan schreibt an Inge Waern in einem Moment, als Nelly Sachs’ Verfolgungserfahrung wieder virulent wird und sie in Paranoia verfällt. Man merkt in diesen bewegenden Zeilen, wie sehr ihn das angeht und was er für sich selbst dagegen zu setzen versucht: „Was Nelly jetzt begegnet, ist (…) keineswegs als etwas durch irgendwelche ‚Eingriffe‘ wieder aus ihrem Leben Entfernbares zu denken; es ist, in gesteigerter Form, die Aktualisierung einer Wirklichkeit, mit der sie Jahre und Jahre hindurch gelebt hat (…).“ Und er glaubt, „dass nur dann wirklich geholfen werden kann, wenn man den Zustand, in dem Nelly sich befindet, als etwas zu ihr und nur zu ihr – als Person – Gehörendes ansieht und nicht als diese oder jene ‚geistige Krankheit‘“.
Frühe Prägungen durch die Lyrik Georges, Trakls und vor allem Rilkes treten in der Korrespondenz immer wieder zutage und zeigen, wie sehr sich Celan dadurch von seinen deutschen Generationsgenossen unterschied. Seine lyrische Sprache ist nicht erst durch die Erfahrung des Massenmords an den Juden entstanden, sondern sie hat tiefe Wurzeln, deren Bedeutung wegen der allgemeinen Fixierung auf ein Gedicht wie die „Todesfuge“ oft vernachlässigt wurde. Celans Nähe zu Heideggers Dichtungsverständnis ist kein Zufall. Was er 1962 enttäuscht an seine rumänische Kollegin Nina Cassian schrieb, weist auf einen Konflikt, der im Umfeld der Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik eine ungeahnte Dimension hatte: „Ich glaubte viel zu lange, dass es in Deutschland eine neue ‚Elite‘ gibt (…).“
Auf der anderen Seite begriff sich Celan, und das ergab ein ungewöhnliches Spannungsfeld, selbstverständlich als einen „Linken“ – allerdings in einem Sinn, der sich von der in der Bundesrepublik entstehenden Opposition erheblich unterschied. Die Herausgeberin zieht zwar Bekenntnisse wie dasjenige, wonach Celan „ein altes Kommunistenherz“ habe, nicht heran, ebenso wenig wie einige Dokumente seiner affektiven Gleichsetzung von Linksradikalismus und Erotik – die abgedruckten Briefe an Gisela Dischner geben das nicht adäquat wieder.
Dennoch wird deutlich, wie fremd Celans östlich geprägter Anarchismus, gepaart mit einem kulturbürgerlich-libertären Sozialismusbegriff, in den zeitgenössischen Debatten der Bundesrepublik wirken musste. Erhellend sind die Briefe, die Celan in direktem Kontakt mit dem Literaturbetrieb zeigen, mit Verlagslektoren und Kollegen. Er fühlte sich nur in den allerseltensten Fällen wirklich „verstanden“ und kündigte eruptiv viele Freundschaften auf, der weiterwirkende Antisemitismus wie auch die ernüchternden Mechanismen des Mediengewerbes wirkten dabei auf tragische Weise zusammen.
Die bisher unbekannten Briefe Celans bergen einige Entdeckungen, ihre Edition an sich ist äußerst verdienstvoll. Die Herausgeberin hat es allerdings nicht bei diesen Dokumenten belassen, sondern überführt sie in ihr Konzept einer heimlichen Biografie: „Paul Celan – ein Leben in Briefen“ überschreibt sie ihr Nachwort. Aus den bereits edierten Briefen wählt sie diejenigen aus, die ihr passend erscheinen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Problem. Die Kriterien, welche Briefe sie heranzieht und welche nicht, haben etwas Willkürliches und sind bei aller Subjektivität auch fragwürdig.
So legt sie auffallenden Wert darauf, dass nicht Ingeborg Bachmann, sondern Erica Lillegg die ersten Liebesbriefe erhielt, die Celan nach seiner Ankunft in Paris nach Wien schrieb. Das gebe Anlass dafür, „die Gewichtungen in den einzelnen Liebesbeziehungen im Leben Celans zu relativieren“. Die spezifische Dynamik des Verhältnisses zwischen Bachmann und Celan wird dabei erheblich unterschätzt.
Die Darstellung der Herausgeberin von Rolf Schroers, der als ehemaliger Oberstleutnant der „Abwehr“ die Partisanenbekämpfung in Italien befehligte und nach Kriegsende nahtlos beim „Verfassungsschutz“ weiterbeschäftigt wurde, wirkt ebenfalls merkwürdig. Wie ist die Freundschaft Celans mit jemandem zu erklären, der Carl Schmitt und Ernst Jünger rückhaltlos bewunderte und sich als verkannter, „von der Meute gehöhnter“ Dichter mit Celan gleichsetzte? Diese Fragen gehören zu den spannendsten überhaupt, wenn man sich Celan nähert – Wiedemann stellt sie gar nicht erst, weil sie darin kein Thema zu erkennen scheint.
Dazu kommt, dass man zumindest bei einigen bisher unbekannten Briefen Paul Celans die Gegenbriefe vermisst. Seine Liebesbeziehung zu Inge Waern beispielsweise wird hier erstmals dokumentiert und war immerhin so bedeutsam, dass Celan 1964 ernsthaft eine Übersiedelung nach Westberlin erwog; das wird hier sicher zu knapp abgehandelt.
Insgesamt wäre es wohl eine seriösere Lösung gewesen, sich auf eine umfassende Edition der bisher unbekannten Briefe Celans zu beschränken und auf die eher feuilletonistische Idee einer rhapsodischen Biografie in Briefen zu verzichten. Wie schrieb doch Celan an den ihm künstlerisch verwandten DDR-Lyriker Erich Arendt: „Ich sagte Ihnen schon, wie einsam wir sind; wir sind es auch mit unseren Vorstellungen vom Arbeiten und Leben.“
Paul Celan: „Etwas ganz und gar Persönliches“. Briefe 1934-1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 1286 Seiten, 78 Euro.
Wie ist Celans Freundschaft mit
dem Partisanenbekämpfer
Rolf Schroers zu erklären?
Paul Celan (1920 – 1970).
Foto: SZ Photo/dpa
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Eine voluminöse, aber keineswegs umfassende Edition
der Briefe Paul Celans von 1934 bis 1970
VON HELMUT BÖTTIGER
Es kam alles auf die Briefe an. Hier wurde das verhandelt, was einen im Innersten umtrieb, manchmal spontan, meistens aber hoch konzentriert. Die Epoche des Briefeschreibens ging sogar noch ein wenig über den Zeitraum hinaus, in dem ein herausragender Lyriker wie Paul Celan sich maßgeblich in dieser Form ausdrückte. Die Zahl der Briefeditionen Celans ist mittlerweile kaum noch überschaubar. In den letzten Jahren schien es, als würde fast jede Notiz und jedes Schreiben des Dichters aus dem Nachlass publiziert werden. So differenzierte sich allmählich das Bild jenes lange Zeit fast mythisch erscheinenden Celan aus, von dessen näheren Lebensumständen man in den ersten Jahrzehnten nach seinem Freitod 1970 kaum etwas gewusst hatte. Je mehr man über ihn erfuhr, desto rätselhafter schien er allerdings auch wieder zu werden. Wenn jetzt ein Band mit 1286 Seiten erscheint, der sich „Briefe 1934-1970“ nennt, ist man überrascht: Sollte das jetzt wirklich ein Schlusswort sein?
Nicht alle der 691 hier abgedruckten Briefe Celans sind neu. 330 davon werden als „Erstdrucke“ ausgewiesen (was nicht auf alle zutrifft!), der Rest ist zum Teil an vergleichsweise entlegenen Orten bereits publiziert, zu einem anderen Teil wurde er aber auch schon in den zahlreichen Ausgaben der letzten Jahre veröffentlicht. Dass die Herausgeberin Barbara Wiedemann vieles noch einmal nachdruckt, liegt an ihrem Vorhaben, anlässlich seines 100. Geburtstags 2020 eine Biografie Celans anhand seiner Briefe vorzulegen.
Immer klarer wird, dass Celan weitaus widersprüchlicher war, als es sein öffentliches Bild nahelegt. Zärtlichen Liebesbekundungen an seine Frau stehen viele intime Affären unterschiedlichen Charakters gegenüber. Und Celans Judentum war eindeutig nicht religiös oder mystisch geprägt, es bezog sich auf konkrete zeitgeschichtliche Erfahrungen.
Zu den aufschlussreichen, bisher schwer zugänglichen Briefen gehört zum Beispiel einer an Inge Waern, einer jungen Freundin von Nelly Sachs. Hier wird Celans oft unterschätzter Gegensatz zu der von ihm lange als jüdische „Schwester“ bewunderten Lyrikerin deutlich. Nelly Sachs versuchte in ihren Gedichten, trotz aller Katastrophen eine ursprüngliche Einheit der göttlichen Schöpfung wiederzufinden. Celan hingegen spricht als ein sich historisch verortender Einzelner, der ins Zentrum des Schmerzes zielt. Celan schreibt an Inge Waern in einem Moment, als Nelly Sachs’ Verfolgungserfahrung wieder virulent wird und sie in Paranoia verfällt. Man merkt in diesen bewegenden Zeilen, wie sehr ihn das angeht und was er für sich selbst dagegen zu setzen versucht: „Was Nelly jetzt begegnet, ist (…) keineswegs als etwas durch irgendwelche ‚Eingriffe‘ wieder aus ihrem Leben Entfernbares zu denken; es ist, in gesteigerter Form, die Aktualisierung einer Wirklichkeit, mit der sie Jahre und Jahre hindurch gelebt hat (…).“ Und er glaubt, „dass nur dann wirklich geholfen werden kann, wenn man den Zustand, in dem Nelly sich befindet, als etwas zu ihr und nur zu ihr – als Person – Gehörendes ansieht und nicht als diese oder jene ‚geistige Krankheit‘“.
Frühe Prägungen durch die Lyrik Georges, Trakls und vor allem Rilkes treten in der Korrespondenz immer wieder zutage und zeigen, wie sehr sich Celan dadurch von seinen deutschen Generationsgenossen unterschied. Seine lyrische Sprache ist nicht erst durch die Erfahrung des Massenmords an den Juden entstanden, sondern sie hat tiefe Wurzeln, deren Bedeutung wegen der allgemeinen Fixierung auf ein Gedicht wie die „Todesfuge“ oft vernachlässigt wurde. Celans Nähe zu Heideggers Dichtungsverständnis ist kein Zufall. Was er 1962 enttäuscht an seine rumänische Kollegin Nina Cassian schrieb, weist auf einen Konflikt, der im Umfeld der Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik eine ungeahnte Dimension hatte: „Ich glaubte viel zu lange, dass es in Deutschland eine neue ‚Elite‘ gibt (…).“
Auf der anderen Seite begriff sich Celan, und das ergab ein ungewöhnliches Spannungsfeld, selbstverständlich als einen „Linken“ – allerdings in einem Sinn, der sich von der in der Bundesrepublik entstehenden Opposition erheblich unterschied. Die Herausgeberin zieht zwar Bekenntnisse wie dasjenige, wonach Celan „ein altes Kommunistenherz“ habe, nicht heran, ebenso wenig wie einige Dokumente seiner affektiven Gleichsetzung von Linksradikalismus und Erotik – die abgedruckten Briefe an Gisela Dischner geben das nicht adäquat wieder.
Dennoch wird deutlich, wie fremd Celans östlich geprägter Anarchismus, gepaart mit einem kulturbürgerlich-libertären Sozialismusbegriff, in den zeitgenössischen Debatten der Bundesrepublik wirken musste. Erhellend sind die Briefe, die Celan in direktem Kontakt mit dem Literaturbetrieb zeigen, mit Verlagslektoren und Kollegen. Er fühlte sich nur in den allerseltensten Fällen wirklich „verstanden“ und kündigte eruptiv viele Freundschaften auf, der weiterwirkende Antisemitismus wie auch die ernüchternden Mechanismen des Mediengewerbes wirkten dabei auf tragische Weise zusammen.
Die bisher unbekannten Briefe Celans bergen einige Entdeckungen, ihre Edition an sich ist äußerst verdienstvoll. Die Herausgeberin hat es allerdings nicht bei diesen Dokumenten belassen, sondern überführt sie in ihr Konzept einer heimlichen Biografie: „Paul Celan – ein Leben in Briefen“ überschreibt sie ihr Nachwort. Aus den bereits edierten Briefen wählt sie diejenigen aus, die ihr passend erscheinen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Problem. Die Kriterien, welche Briefe sie heranzieht und welche nicht, haben etwas Willkürliches und sind bei aller Subjektivität auch fragwürdig.
So legt sie auffallenden Wert darauf, dass nicht Ingeborg Bachmann, sondern Erica Lillegg die ersten Liebesbriefe erhielt, die Celan nach seiner Ankunft in Paris nach Wien schrieb. Das gebe Anlass dafür, „die Gewichtungen in den einzelnen Liebesbeziehungen im Leben Celans zu relativieren“. Die spezifische Dynamik des Verhältnisses zwischen Bachmann und Celan wird dabei erheblich unterschätzt.
Die Darstellung der Herausgeberin von Rolf Schroers, der als ehemaliger Oberstleutnant der „Abwehr“ die Partisanenbekämpfung in Italien befehligte und nach Kriegsende nahtlos beim „Verfassungsschutz“ weiterbeschäftigt wurde, wirkt ebenfalls merkwürdig. Wie ist die Freundschaft Celans mit jemandem zu erklären, der Carl Schmitt und Ernst Jünger rückhaltlos bewunderte und sich als verkannter, „von der Meute gehöhnter“ Dichter mit Celan gleichsetzte? Diese Fragen gehören zu den spannendsten überhaupt, wenn man sich Celan nähert – Wiedemann stellt sie gar nicht erst, weil sie darin kein Thema zu erkennen scheint.
Dazu kommt, dass man zumindest bei einigen bisher unbekannten Briefen Paul Celans die Gegenbriefe vermisst. Seine Liebesbeziehung zu Inge Waern beispielsweise wird hier erstmals dokumentiert und war immerhin so bedeutsam, dass Celan 1964 ernsthaft eine Übersiedelung nach Westberlin erwog; das wird hier sicher zu knapp abgehandelt.
Insgesamt wäre es wohl eine seriösere Lösung gewesen, sich auf eine umfassende Edition der bisher unbekannten Briefe Celans zu beschränken und auf die eher feuilletonistische Idee einer rhapsodischen Biografie in Briefen zu verzichten. Wie schrieb doch Celan an den ihm künstlerisch verwandten DDR-Lyriker Erich Arendt: „Ich sagte Ihnen schon, wie einsam wir sind; wir sind es auch mit unseren Vorstellungen vom Arbeiten und Leben.“
Paul Celan: „Etwas ganz und gar Persönliches“. Briefe 1934-1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 1286 Seiten, 78 Euro.
Wie ist Celans Freundschaft mit
dem Partisanenbekämpfer
Rolf Schroers zu erklären?
Paul Celan (1920 – 1970).
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»Die bisher unbekannten Briefe Celans bergen einige Entdeckungen, ihre Edition an sich ist äußerst verdienstvoll.« Helmut Böttiger Süddeutsche Zeitung 20200127