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Kronzeugin einer untergegangenen Welt: Die Erinnerungen der Reporterin und Autorin Gabriele Tergit erscheinen erstmals ungekürzt
Es gibt ein Gedicht von Hans Sahl, des Schicksalsgenossen Gabriele Tergits, das am Anfang seines Romans "Die Wenigen und die Vielen" über das Leben einer Generation von Schiffbrüchigen zu finden ist, der Schiffbrüchigen nicht nur der Literatur, sondern der des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt. Es beginnt so: "Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus." Dann geht es mit Nonchalance und leiser Trauer fort: "Wir sind zuständig / Wir tragen den Zettelkasten / mit den Steckbriefen unserer Freunde / wie einen Bauchladen vor uns her."
Gabriele Tergit, 1894 geboren in eine bürgerlich-liberale jüdische Familie des alten Westens am Berliner Tiergarten, war so eine "Trägerin von Zettelkästen". Die Autorin ist eine der noch zu entdeckenden Kronzeugen einer untergegangenen Welt - oder wie es Sahl so treffend ins Bild brachte: Tergit, eine "Trödlerin des Unbegreiflichen".
Wer an die Fraglichkeit dieser Erinnerungen herankommen möchte, für den lohnt sich ein Blick in einen am Ende des Buches abgedruckten Brief. In diesem fragt Tergit Erika Mann nach biographischen Hinweisen für die Sammelbiographie des damaligen Exil-PEN-Zentrums. Sie hält Ausschau nach Details über jene Generation, meist jüdischer Autoren, die im Exil lebten oder verstarben, als verschollen galten oder es - wie Benjamin und Hessel - zwischen 1933 und 1945 nicht mehr aus der Falle Mitteleuropa schafften: "Ich persönlich", erklärt sie lakonisch, "habe noch den Wunsch, eine Liste der Toten beizufügen."
Tergits Erinnerungen, die sie nach ihrer ersten Wiederentdeckung um 1980 verfasste, sind mehr als das: Das Buch liest sich als würde man eine Truhe mit versprengten Lebensläufen des Weimarer Lebens öffnen. Man begegnet dort den Rätseln des von totalitärer Gewalterfahrung geprägten zwanzigsten Jahrhunderts und damit der Schlüsselfrage: Wie konnte es passieren , dass eine ganze Gesellschaft ins Rutschen geriet, bis sie sich in Gewaltexzessen verzehrte?
Durch Tergit wird der Leser mit jenem Phänomen vertraut, das Robert Musil hellsichtig auf den Begriff einer "kulturellen Absenkungslücke" brachte, die im Zentrum der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts haust. Tergit ist Musils Schwester im Geiste, wenn sie davon spricht, "dass dreimal, nämlich im Jahre 600, im Jahre 1200 und im Jahre 1800, ein Höhepunkt der deutschen Literatur" gewesen sei, der jäh in einem Tiefpunkt versank. Tergit fügte aus eigener Erfahrung hinzu: "Wir Älteren waren Zeugen, wie ein solches Tief herbeigeführt wurde."
Tergits Erinnerungen, die nach der Ullstein-Ausgabe von 1983 erstmals ungekürzt, ungeschliffen und in ihrer bisweilen witzigen wie zerrissenen Sprache erscheinen, fügen sich dabei keineswegs zu einem einheitlichen Bild. Sie lesen sich vielmehr wie ein unruhiges Zeit-Mosaik. Es ist der Trümmersplitt eines nie ausgestellten, aber untergründig verletzten Lebens. Dieses Bild setzt sich aus rasanten Zeit- und Raumsprüngen zusammen: zwischen der Vor- und Nachkriegswelt, zwischen Londoner Exil und Stippvisiten auf der exterritorialen Nachkriegsinsel Berlin. Tergits atemlose Sprache gleicht hierbei einem dem Leser hingehaltenen gesprungenen Spiegel, der die Erfahrungen ihrer Epoche spürbar werden lässt.
Das Panorama umspannt ihre Herkunft aus dem Berliner Westen, den man einst das "innere Berlin" der Geheimräte nannte, streift ihre Promotion als Schülerin des Historikers Friedrich Meinecke, geht über ihre Anfänge als Feuilletonistin und Gerichtsreporterin, zur später bekannten Romanautorin am Ende der Weimarer Republik. Sie gibt Einblick ins Entstehen des noch heute lesenswerten "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", jenem Zeitungsroman über eine hohl drehende und gefährliche Blasen schlagende Berliner Gesellschaft.
Sie schildert darin die plötzliche Emigration 1933 - Tergit stand wegen ihrer Prozessberichte über die Machenschaften der Nazi-Oberen, ihrer Berichte über Rechtsbeugungen der Justiz ganz oben auf der Liste der SA. Der Leser folgt ihrer Flucht über ein unsicheres tschechisches Exil, über einen unglücklichen Aufenthalt in Palästina, wo sie zwischen die Fronten der Zionisten und Liberalen gerät, bis sie im Londoner Exil, in der gemäßigten Klimazone der britischen Kultur, ihren Ankerpunkt findet. Von dort wagte sie ihre Annäherungsversuche an das Deutschland nach 1945.
Tergit, die in die Schule des Theodor Wolff gegangen war, ist eigentlich eine Meisterin der kleinen Form, die in Miniaturen die Existenzlage ihrer Umwelt erfassen konnte. An diese Tradition versuchte sie nach dem Krieg anzuknüpfen, schrieb Feuilletons für den "Tagesspiegel" und die alliierte "Neue Zeitung", verfasste stereoskopische Ansichten zwischen zwei Welten. Diese Zeitungsfeuilletons, wie sie als Zitatmontagen im Buch zu finden sind, dienten ihr zugleich als Echolot auf der Suche nach verschollenen Bekannten im Schutt Berlins. Es sind eindringliche Beschreibungen der leeren Zentrale Berlin: "Ich hätte meine Verdächte", schrieb sie einmal nach London, "wegen Pompeji, die Ruinen des Tiergartens sähen genau so aus."
Neben solchen Scherbengängen, über die Kraterlandschaft am Potsdamer Platz, finden sich subtile Porträts der deutschen Psyche zur Stunde Null. Sie liefert ein Psychogramm der eigentümlichen Apathie jener Jahre, eine Gemütsverfassung zwischen Taumel und Betäubung, zwischen Desillusionierung und Ressentiments. Ihre Begegnungen mit Verlegergrößen wie Suhrkamp, Rowohlt oder Springer gewähren zugleich Einblicke in die literarische Leere, in die man damals ebenso schaute. Tergits anderer großer Roman, "Effingers", eine jüdische Familiengeschichte, wurde zwar noch herausgebracht, ging aber wegen der heiklen Thematik und des verlorenen deutsch-jüdischen Publikums unter.
Tergit hatte gleichwohl das, was nach Harry Graf Kessler den fruchtbaren Chronisten auszeichnet - das Ethos eines weißen Raben; hierauf spielt der Titel "Etwas Seltenes überhaupt" an. Sie war das, woran die Literatur der Nachkriegszeit so arm war: Sie war eine "vertraute Fremde". Sie besaß jenen Blick, der einst die deutsch-jüdische Kultursituation ausmachte: den Blick durch den "doppelten Spiegel".
Ihre Erinnerungen bilden einen gelungenen Auftakt zu einer verdienstvollen Wiederentdeckung durch den Schöffling Verlag. Einiges - Feuilletons sowie das Manuskript eines Romans über die jüdische Diaspora im zwanzigsten Jahrhundert - schlummert laut Herausgeberin Nicole Henneberg noch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Es liegt in jenem "Bücherhades", wie Tergit selbst einmal in an Heine gemahnender "göttlicher Bosheit" das Archiv nannte. Es sei ihr vergönnt, dass der Weg aus dem Schattenreich ihrer heute so aufschlussreichen Schriften nicht wieder ein halbes Jahrhundert dauern wird.
TILL GREITE
Gabriele Tergit: "Etwas
Seltenes überhaupt".
Erinnerungen.
Hrsg. und mit einem
Nachwort von Nicole
Henneberg.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2018.
424 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
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