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Weltliteratur aus Island: Jón Kalman Stefánssons neuer Roman
Kurz nach Neujahr ist dieser Roman bei sich angekommen. In der ersten Januarwoche des Jahres 1981 heuert der gerade achtzehn gewordene Ari in einer isländischen Fischfabrik an; sein Job besteht im Abpacken des von den Booten frisch angelieferten Fangs. Das mag als Familienschande gelten angesichts der Tatsache, dass Aris Großvater Oddur einer der berühmtesten Fischer des Landes war und die halbe Sippschaft ihm darin folgte. Aber auch Aris Vater Jakob hatte sich schon der Tradition versagt und literarische Ambitionen verfolgt - wie die andere Hälfte der Sippschaft. Ja, selbst unter den Fischern fanden sich Dichter, und Aris Mutter hatte auch das Schreiben im Blut. Allerdings starb sie im Sommer 1969 mit nicht einmal dreißig Jahren; da war ihr Sohn also gerade einmal fünf, und fortan fand sein Leben nicht mehr auf die gerade Bahn.
Wild können die Wendungen dieses Lebens jedoch nicht genannt werden; dafür ist Island zu klein, sind die Möglichkeiten, sich individuell zu entfalten, in den siebziger und achtziger Jahren dort zu gering. Doch was dem Land an gesellschaftlicher Vielfalt fehlt, das gleicht Jón Kalman Stefánsson durch den Einfallsreichtum aus, mit dem er seine isländische Familiensaga geschrieben hat. Die springt zwischen den Zeiten munter hin und her, von "damals" bis "heute", wie zwei der jeweils den Kapiteln vorangestellten Zeitangaben lauten, und zwischen diesen beiden Eckpunkten ist noch Raum für etwas konkretere Angaben (bei denen die Übersetzung einmal den Überblick verliert), die allerdings selten so genau terminiert werden können wie jener Arbeitsbeginn zu Jahresanfang 1981, den wir mit Seite 45 erreichen. Der ist auch deshalb der entscheidende Einschnitt in der Handlung, weil damit die Handlung in Keflavík ankommt, jenem Fischerstädtchen im Südwesten von Island, den sie fortan kaum noch verlassen wird, und weil hier zum ersten Mal jener seltsame Ich-Erzähler selbst dabei ist, dessen Namen wir nie kennenlernen werden, der aber irgendwie auch zur Familie gehört.
Ist er bloß Aris Cousin oder sein Schutzengel? Genau zur Mitte des Romans, als wir wieder einmal einen anderen zentralen Tag des Geschehens erreichen, jenen Juli-Abend des Jahres 1969, an dem der kleine Junge auf eigene Faust seine sterbende Mutter im Hospital besucht, heißt es mit der Stimme des Erzählers: "Ich darf Ari nicht aus den Augen verlieren, der weiter die Flure abläuft, da biegt er gerade um eine Ecke, ich muss mich beeilen, er darf nicht verloren gehen, er hat niemanden außer mir." Ari ist mit seinem Schöpfer Stefánsson genau gleichaltrig, etliche biographische Details decken sich, also mag dieser Ich-Erzähler Camouflage sein, um eine unmittelbare Identifikation zu verhindern. So spät wie nur möglich in der Handlung sagt er noch einmal etwas über sich selbst: "Ich sehe das alles, während ich langsam mit dem Schneefall verschmelze, so vollständig, als hätte es mich nie gegeben." Und so ist es wohl auch.
"Etwas von der Größe des Universums" ist im Original 2015 erschienen, und die zwei Jahre Wartezeit haben sich angesichts der stimmigen Übersetzung durch Karl-Ludwig Wetzig allemal gelohnt. Es ist bereits das zehnte Buch von Stefánsson, das auf Deutsch erscheint; er war schon vor dem legendären Buchmessenauftritt Islands von 2011 hierzulande präsent und blieb es als einer der wenigen Autoren seiner Sprache auch seitdem. Nicht nur in Deutschland: Stefánsson ist für die internationale Wahrnehmung der isländischen Literatur heute das, was vor zwanzig Jahren der nur wenig ältere Einar Kárason war, nämlich Inbegriff einer erzählerischen Versponnenheit, wie wir sie bei originellen Völkchen erwarten. Aber schon Kárasons "Barackentrilogie", die ihn in den neunziger Jahren bekannt machte, verband wie danach Stefánssons Bücher den illusionslosen Blick auf die isländische Nachkriegsgeschichte mit alltagsmythischen Personenkonstellationen und einer unbändigen Erzähllust, die auch formal avanciert ist. Stefánsson hat zweifellos viel von Kárason gelernt, aber was er nun vorführt, lässt den Lehrmeister hinter sich. Das Buch hat etwas von der Größe der Weltliteratur.
Das liegt vor allem an der Feinsinnigkeit, mit der sich die Figuren immer detaillierter zusammensetzen, ohne dass je völlige Klarheit über ihre Motivation erlangt werden könnte. Was aber hier vollständig ausformuliert wird, ist das Programm des Stefánssonschen Schreibens, dessen Elemente im Buch auf verschiedene Figuren verteilt werden. Und doch wird die Quelle benannt: als "Grundelemente des Literarischen" gelten dem Schriftsteller Ari "Trauer und Sehnsucht". Diese beiden Gefühle sprechen in der Tat aus jeder Zeile des Romans.
Ihn zu lesen ist anfangs nicht leicht; der Weg ins Buch hinein durch die ersten Abschnitte verlangt Geduld. Nur langsam kristallisieren sich bei immer wieder abbrechenden und neu einsetzenden Handlungen die Hauptfiguren heraus, doch wenn einmal die wichtigsten Leitmotive versammelt sind, erweist sich der Roman als große musikalische Komposition, in dem nicht zufällig Verszeilen aus populärem Liedgut als stete Optionen individueller Selbstvergewisserung und wechselseitiger Verständigung fungieren. Und einmal darf es auch Schuberts "Winterreise" sein - Trauer und Sehnsucht eben.
Ja, das Programm von Stefánssons Buch ist ein romantisches, ein Erzählen gegen den Tod. Und dabei auch ein komisches, weil jeder Widerstand gegen das Unvermeidliche etwas Groteskes an sich hat. Aber genau das macht alles aus, was Menschen prägt: die Isländer dieses Romans, seinen Autor und auch die Leser, die ihm zahlreich zu wünschen sind. Einmal wird in diesem Roman gefragt: "Wie viele Tage verbringen wir im Verlauf eines Lebens auf diesem Planeten, die wirklich wichtig sind, an denen sich wirklich etwas ereignet, wodurch das Leben bereichert wird und abends heller erscheint als am Morgen? Wie viele solcher Tage?" Nun, das kommt darauf an, wie lange man für die Lektüre braucht.
ANDREAS PLATTHAUS
Jón Kalman Stefánsson: "Etwas von der Größe des Universums". Roman.
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Piper Verlag, München 2017. 400 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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