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Mentalitäten, Lebensweisen und Politik im Europa der Zwischenkriegszeit
Gunther Mai: Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 2001. 276 Seiten, 25,- Euro.
Unter der leitenden Frage nach dem Verhältnis der europäischen Völker, Gesellschaften und Staaten zur Moderne und zur Modernisierung hat Gunther Mai die Geschichte Europas zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Viel Eindrucksvolles wird auf diesem Weg über Mentalitäten, Lebensweisen und Politik zwischen den beiden großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts zutage gefördert. Denn "der Kampf um die Moderne, für oder gegen diese, war der Kernkonflikt der Zwischenkriegszeit".
Im Grunde war es eine Unvereinbarkeit der Gegensätze, die nach Friedrich Nietzsches Eindruck "beinahe die Modernität" definierte. Ihr Janusgesicht ließ aufmerksam beobachtende Zeitgenossen wie Max Weber und José Ortega y Gasset bereits frühzeitig ahnen, "daß die Zweckrationalität der Moderne eine Rückwendung zum Irrationalen provozieren" würde: "Das intellektuelle Versagen gegenüber der Interpretation der Neuen Welt führte zunächst zur Flucht aus der Welt, dann zur Zuflucht in geschlossenen Glaubenssystemen, die eine heilsabsolute Zukunft versprachen."
Diesen verhängnisvollen Weg Europas von der ererbten Rationalität zum neuen Fundamentalismus, von schwieriger Freiheit zu einfacher Ordnung, von der Demokratie zur Diktatur sowie vom Frieden zum Krieg rekonstruiert der Autor auf ebenso kenntnis- wie aufschlußreiche Art und Weise. Charakterisiert werden in diesem Zusammenhang die kollektiven Mentalitäten, der "Zeitgeist" also, der die europäischen Gesellschaften im Westen und im Osten, im Norden und im Süden zwischen Fortschrittsoptimismus und Kulturkritik oszillieren ließ und der die Massen und ihre Führer das eine Mal aneinanderkettete und der sie das andere Mal vor solch fatalen Verbindungen bewahrte. Dargestellt werden zudem die Anfänge des Wohlfahrtsstaates, die Wandlungen der Alltagswelten, die Krise des Verfassungsstaates und die Zerrüttung der Staatenwelt, stets im europäischen Vergleich, in umfassender Perspektive und mit bedenkenswerten Ergebnissen im einzelnen.
Mit dem bolschewistischen Rußland und dem kapitalistischen Amerika "standen die beiden Extremvarianten des Modernisierungsprozesses vor den Türen Europas", mit deren zivilisatorischen Offensiven die Alte Welt fertig werden mußte. Die etablierten Demokratien im Westen und Norden Europas verstanden es, sich mit der amerikanischen Herausforderung, die beileibe nicht uneingeschränkt begrüßt wurde, alles in allem zu arrangieren, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie das angelsächsische Zivilisationsangebot dem sowjetischen allemal vorzogen. Die beiden Habenichtse der europäischen Staatenwelt dagegen, Italien und Deutschland, begegneten beiden, der sowjetischen ebenso wie der amerikanischen Kulturoffensive, skeptisch, zunehmend ablehnend und schließlich sogar kriegerisch. Sie verweigerten sich der einen Modernisierungsofferte ebenso wie der anderen, und ihre "Modernisierungsagenturen: Parlamente, Parteien, Verbände" erwiesen sich am Ende als hoffnungslos überfordert.
Schließlich bekämpften das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland nicht nur das sowjetische Experiment, durch die klassenlose Gesellschaft das Paradies auf Erden zu schaffen, sondern lehnten auch das amerikanische Modell des universalen Freihandels ebenso entschieden ab. Gleichzeitig damit ließen sie auch die hochgemute Hoffnung auf friedlichen, weil rationalen Interessenausgleich durch internationale Vermittlungsorgane wie den Völkerbund scheitern: "Nicht die indirekte Kontrolle von Märkten", resümiert Gunther Mai den am Ende der zwanziger Jahre, im Gefolge der großen Weltwirtschaftskrise, um sich greifenden Wandel in der Gedankenbildung und im Handeln zahlreicher Völker und Staaten, "sondern der unmittelbare Besitz von Land blieb, wie schon im Zeitalter des Hochimperialismus von 1914, der prägende Maßstab in einem globalen Null-Summen-Spiel, das im Stile des 19. Jahrhunderts Krieg und militärische Gewalt als letzte Mittel der nationalen Existenzsicherung legitim erscheinen ließ".
Die Gegenentwürfe, die jetzt mehr und mehr zum Zug kamen, waren "radikal, radikal anders, radikal vage; sie waren fundamentalistisch in ihrem Versuch, die Welt aus einem Punkt zu erklären und neu zu ordnen. Aus dem Anspruch der Versöhnung bezogen sie ihre Unversöhnlichkeit als ideologisches Konzept und als politische Praxis. Von der Totalität der Weltdeutung über die Totalität des Anspruchs auf Welterlösung zur Totalität der Praxis sollte es kein weiter Weg werden."
Dasjenige freilich, was die totalitären Diktaturen schließlich radikalisierten, was sie übersteigerten, was sie sogar bis ins tödliche Extrem trieben, war lange zuvor schon angelegt, existierte seit dem neunzehnten Jahrhundert im europäischen Laboratorium und war alles in allem bekannt - bis hin zu den uns heute verdächtig vorkommenden Debatten über Sozialhygiene und Eugenik in den fortschrittlichen Staaten des europäischen Westens und Nordens, die im Zeichen des nationalsozialistischen Totalitarismus in frevelhafter Mutation des Ursprünglichen zum Verbrecherischen in Euthanasie und Massenmord endeten.
In den Konflikten und Kriegen "über kulturelle Hegemonie, ökonomische Verteilung und politische Steuerungsmacht in der Zwischenkriegszeit" unterlag schließlich Hitlers Nationalsozialismus, der die Ambivalenzen der Moderne mit Gewalt und Krieg, durch atavistischen Appell an das Schwert und durch biologische Auslese und Züchtung seiner Rassenpolitik zu lösen versucht hatte. Sein bolschewistischer Gegner, dessen Existenz das "Dritte Reich" seinen zeitweiligen Erfolg, nicht jedoch sein eigenmächtiges Dasein zu verdanken hatte, ist inzwischen gleichfalls "im Kampf um die industriegesellschaftliche Moderne . . . historisch gescheitert".
Behauptet hat sich dagegen das Modell der angelsächsischen Zivilisation, nämlich durch Marktwirtschaft und Freiheit dem individuellen Streben nach Glück und der politischen Ausbreitung der Demokratie den weltweiten Weg zu bahnen - ohne freilich übersehen zu können, daß die Grenzen dieses neuen Universalismus, seiner globalen Missionsidee und seiner wirtschaftlichen und kulturellen, seiner politischen und militärischen Hegemonie erkennbar werden.
KLAUS HILDEBRAND
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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