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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Brendan Simms und Benjamin Zeeb plädieren eindringlich für neue Vereinigte Staaten – doch ihre historischen Vorbilder taugen nicht für einen Neuanfang
Vor drei Jahren hat der in Cambridge lehrende irische Historiker Brendan Simms unter dem Titel „Kampf um Vorherrschaft“ eine, wie er es nannte, deutsche Geschichte Europas vorgelegt: klassische Diplomatiegeschichte, geopolitisch argumentierend, einem Primat der Außenpolitik verpflichtet. Auch in der Gegenwart seien, so behauptete Simms im Vorwort zur 2014 erschienenen deutschen Ausgabe seines Buches, deutsche und europäische Fragen noch nicht gelöst, der Kampf um die Hegemonie noch nicht beendet. Es bedürfe, so war in drastischer Metaphorik zu lesen, beunruhigend und verheißungsvoll zugleich, eines kollektiven Feuers, in dem angesichts gewaltiger ökonomischer und außenpolitischer Gefahren neue Institutionen und letztlich neue Identitäten gebrannt würden. Wie dies genau geschehen solle, sei freilich eine eher an Politiker als an Historiker gerichtete Frage.
Zwei Jahre später hat Simms sich offensichtlich entschieden, die Antwort auf seine Frage doch nicht der Politik zu überlassen. Zusammen mit Benjamin Zeeb, einem jungen Münchener Historiker, legt er jetzt ein politisches Manifest vor, ein Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa, das sich in große Traditionen einschreibt: das „Paneuropäische Manifest“ des Grafen Coudenhove-Kalergi von 1923 oder die berühmte Zürcher Rede Winston Churchills aus dem September 1946, in der der abgewählte Kriegspremier am Beginn des Kalten Kriegs seine Vision der United States of Europe entwickelte: ein geeintes Europa aus dem Geist des Antikommunismus. Churchill warnte damals, es bleibe nicht mehr viel Zeit, um Europa vor seinem Untergang zu bewahren, und ähnlich dramatisch kommt nun auch die Schrift von Simms und Zeeb daher: „Wenn wir jetzt die Chance nicht ergreifen, den Sturz unseres Kontinents in den politischen Abgrund zu verhindern, werden wir dazu keine weitere Gelegenheit mehr bekommen.“
Die beiden Historiker entfalten in ihrem Essay das Programm des „Project for Democratic Union“, einer 2013 von ihnen gegründeten und hauptsächlich in England und Deutschland aktiven Mischung aus Europa-Bewegung und Thinktank. Brendan Simms ist heute der Vorsitzende der Organisation, Benjamin Zeeb der Geschäftsführer ihres „Paneuropäischen Teams“. Ziel der Vereinigung ist eine politische Union Europas, ein demokratischer europäischer Bundesstaat. Ausgangspunkt des Programms – und kaum zu bestreiten – ist die Diagnose einer multiplen europäischen Krise, die sich nicht nur in der Währungs- und Flüchtlingspolitik manifestiere, sondern die, auch in der Folge dieser Entwicklungen, zu wachsender Europaskepsis und zum Aufstieg rechter wie linker antieuropäisch-nationalistischer Protestbewegungen und Parteien geführt habe: von Griechenland und Spanien über Frankreich, Großbritannien und Deutschland bis nach Ungarn und Polen.
Jeder, der die Geschichte der europäischen Einigung kennt, weiß, in welchem Maße sich die Dynamik der Integration seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder der Erfahrung von Krisen verdankte, der gaullistischen Herausforderung der 1960er-Jahre und der Eurosklerose der Zeit um 1980, deren Überwindung der Europäisierung jeweils neuen Schub verlieh. Ist dieses Muster mit dem Ende des Kalten Kriegs und der deutschen Vereinigung an seine Grenzen gelangt? So sehen das die Autoren und verweisen dafür auf das gestiegene deutsche Machtpotenzial, das Ende des deutsch-französischen Gleichgewichts, auf die mittlerweile 28 Mitgliedstaaten mit ihren ganz unterschiedlichen politischen Interessen und Kulturen, auf Dynamiken der Renationalisierung sowie, durchaus damit verbunden, auf das strukturelle Demokratie- und damit Legitimationsdefizit der EU. All diese Probleme verschärften sich derzeit und verstärkten sich dabei gegenseitig. Simms und Zeeb entwerfen ein wahres Doomsday-Szenario: Implosion des Euro und der europäischen Institutionen, Brexit, Sezessionen europäischer Kernländer wie Frankreich, russische Aggressionspolitik, Krieg im Nahen Osten und, in dessen Folge, Instabilität durch Terrorismus und Flüchtlingsströme. Das ist der Abgrund, vor dem das Manifest Europa sieht und vor dem es warnt, um für seine Vision zu werben.
Die Möglichkeiten vertiefter Integration im EU-Rahmen halten die Autoren für erschöpft, den Integrationsprozess der letzten sechs Jahrzehnte für an sein Ende gelangt. Sie wollen einen Neubeginn: eine föderale Lösung, eine demokratische Union, in Gang gebracht durch eine gleichzeitige Volksabstimmung in allen Ländern der Euro-Zone über den Beitritt zu einer Union, die eben keine Fortentwicklung der EU sein soll, sondern ein neuer europäischer Bundesstaat, der sich in dem Moment konstituieren würde, in dem sich die Menschen in zwei oder mehr politischen Einheiten für den Beitritt entschieden hätten.
Die Idee klingt visionär, und zweifellos gibt es gute Gründe dafür, der Erosion Europas und auch seinem Demokratiedefizit durch eine stärkere Föderalisierung zu begegnen. Isolierte Nationalstaaten sind in einer globalisierten Welt nicht mehr handlungsfähig. Angesichts der politischen und ökonomischen Herausforderungen der Gegenwart kann Europa nur gemeinsam bestehen. Aber es kann nur dann sein Gewicht in der Weltpolitik zur Geltung bringen, wenn europäische Politik demokratisch legitimiert ist. Simms und Zeeb erwähnen die 42 Prozent der Menschen in der EU, die sich als Europabefürworter betrachten. Das wäre ein guter Ausgangspunkt für eine europäische Bürgerbewegung, vielleicht sogar für eine europäische Partei, die für einen Europäisierungsschub in der EU, der zugleich ein Demokratisierungsschub wäre, sorgen könnte.
Doch das sind nicht die Prämissen des Plädoyers von Simms und Zeeb. Ihr Modell eines föderalen Europas orientiert sich nicht an den Potenzialen der Gegenwart, sondern als „anglo-amerikanische Lösung“ an historischen Vorläufern aus dem 18. Jahrhundert: dem Act of Union, durch den sich England und Schottland 1707 zum Vereinigten Königreich zusammenschlossen, und der amerikanischen Verfassung von 1787. Mit dieser historischen Argumentation, die der Komplexität der europäischen Problematik nicht gerecht wird, schon angesichts der kulturellen Diversität Europas, macht es sich das Manifest zu leicht. Die Geschichte bietet keine Handlungsanweisungen für die Gegenwart.
Das Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa wird auch dadurch nicht überzeugender, dass es für eine „Nichtteilnahme“ Großbritanniens wirbt. Lange Churchill-Zitate können ein Argumentationsdefizit nicht ausgleichen. Muss man tatsächlich anerkennen, dass Britannien „eine außergewöhnliche Macht in Europa“ ist? Warum muss man akzeptieren, dass das britische Volk seine Souveränität nicht zu opfern bereit sei, das von anderen Nationen aber wie selbstverständlich erwarten? Stimmt es tatsächlich, dass das Vereinigte Königreich heute noch in der Lage ist, sich als weltpolitischer Akteur alleine zu behaupten? Europa, so gipfelt die Passage, sei errichtet worden, um etwas zu reparieren, das in Großbritannien nie zu Bruch gegangen sei. Zwar distanziert sich das Manifest von der Brexit-Politik der englischen Europa-Gegner, aber was in der Schrift über Britanniens Rolle in der Welt zu lesen ist, erwartet man eher von Little England-Konservativen als von einem irischen und einem deutschen Historiker.
Das föderale und demokratische Anliegen von Simms, Zeeb und ihrem „Project for Democratic Union“ verdient alle Sympathie und auch einen kämpferischen Essay. Dramatisierung allein hilft freilich nicht weiter, einfache Lösungen gibt es nicht, auch die Geschichte hält sie nicht bereit.
ECKART CONZE
Eckart Conze ist Professor für Neuere Geschichte in Marburg. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören die internationale Geschichte und die historische Sicherheitsforschung.
In ihrem Essay entwerfen
die beiden Historiker
ein wahres Doomsday-Szenario
Brendan Simms,
Benjamin Zeeb:
Europa am Abgrund.
Plädoyer für die Vereinigten
Staaten von Europa.
Verlag C.H. Beck München
2016, 140 Seiten, 12,95 Euro.
E-Book: 9,99 Euro
Euro(pa) im Würgegriff der Krisen: Grafito in Athen.
Foto: YANNIS BEHRAKIS/Reuters
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Alexander Weinlein, Das Parlament, 27. Juni 2016