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Europa in den internationalen Beziehungen der Jahre 1945 bis 1991
Jost Dülffer: Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2004. 304 Seiten, 24,80 [Euro].
Generationen geschichtsinteressierter Leser in Deutschland haben zum "Gebhardt" gegriffen, um sich eine erste Orientierung zu verschaffen. Eine zehnte Auflage dieses Handbuchs der deutschen Geschichte wird zur Zeit vorbereitet. Seit geraumer Zeit aber sind andere Publikationsreihen als mächtige Konkurrenten aufgekommen: Zum einen, weil der "Gebhardt"-Anspruch, "gesichertes" Handbuchwissen zu präsentieren, angesichts eines sehr weit verzweigten Forschungsbetriebs mittlerweile stark ins Schwanken geraten ist. Zum anderen, weil die Beschränkung auf die deutsche Geschichte vielen Lehrenden und Studierenden schon lange nicht mehr ausreicht. Insbesondere jedoch die in stetigem Fluß befindliche Zeitgeschichtsforschung ist auf ständig aktualisierte und thematisch ergänzte Lehrbücher angewiesen. Ausgerechnet daran mangelt es bislang eklatant.
Angesichts dieser Lage stellt der "Oldenbourg Grundriß" des Kölner Zeithistorikers Jost Dülffer über "Europa im Ost-West-Konflikt" eine wesentliche Bereicherung der Handbücher zur Nachkriegsgeschichte dar. Mit diesem Buch wird zum ersten Mal in einer für Studierende verständlichen Sprache und in denkbar knapper Form eine Einführung in die Hauptfragestellungen der Zeitgeschichte über fast fünf Jahrzehnte seit 1945 geboten. Entscheidende Schrittmacherdienste in diese Richtung hatte Andreas Hillgruber, Dülffers akademischer Lehrer, mit seiner erstmals 1979 veröffentlichten "Urfassung" des Grundrisses geleistet.
Die völlig überarbeitete Fassung unterscheidet sich nicht nur in Hinblick auf den gewählten Untersuchungszeitraum (dieser reicht bis 1990 auf dem Bucheinband, bis 1991 auf dem Titelblatt) von ihrem Vorgänger. Auch konzeptionell und interpretatorisch setzt sie ganz andere Akzente. Während Hillgrubers Blick auf die Geschichte Europas noch von dem Fokus auf die "deutsche Frage" bestimmt wurde, vertieft Dülffers Abhandlung unser Verständnis für die weiteren Ursachen und Folgen des Kalten Krieges, den er genaugenommen als Abfolge von drei wirklich bedrohlichen Phasen (1948-1953, 1958-1962 sowie 1979-1982/83) mit Perioden geringer Intensität des Konflikts oder sogar Entspannung verstanden wissen will.
Auch der Duktus der Darstellung und des umfassenden Forschungsberichts fällt bemerkenswert nüchtern, ja geradezu "entspannt" aus. Ruft man sich die zahlreichen, hoch ideologisierten historiographischen Debatten aus vergangenen Jahrzehnten in Erinnerung, so ist dies keineswegs selbstverständlich. Dülffer jedenfalls steuert in seiner Bewertung der großen internationalen Konflikte seit 1945 und ihrer gesellschaftlichen Rückwirkungen (darunter die Friedensbewegung) einen vermittelnden Kurs. Außerdem weitet er den Blick auf die innere Entwicklung in den von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zusammengehaltenen "Integrationszonen". Insgesamt wird so der Geschichte der internationalen Beziehungen der ihr gebührende Rang im weiten Kanon von Forschung und Lehre eingeräumt, der ihr zeitweilig in der deutschen Geschichtswissenschaft bestritten worden war. Zeitlich weit in die Gegenwart reicht die Schilderung der Sicherheitsstrukturen bis zum Ende der siebziger Jahre und der allmählichen Auflösung des Ostblocks im darauffolgenden Jahrzehnt. Zu Recht verdeutlicht Dülffer in diesem Zusammenhang, daß die Nachkriegszeit in Europa gerade nicht in einer Geschichte der europäischen Einigung aufgeht. Und ebenso klar weiß er zu vermitteln, daß die Dynamik der "Globalisierung" die weltpolitische Rolle Europas heute noch weiter einschränkt, als dies bereits in der Ost-West-Konfrontation der Fall gewesen ist. Zudem macht die Schilderung der Großmachtpolitik, aber auch der Dekolonisation ersichtlich, wie stark der Einflußverlust Europas die internationale Politik veränderte, aber auch in den Gesellschaften Europas selbst seine Spuren hinterließ. Problematisch in Dülffers Abhandlung erscheint allerdings zuweilen die unzureichende Berücksichtigung nationalstaatlicher Interessenlagen. Auch die Reflexion der Folgen gesellschaftlichen Strukturwandels für die internationale Politik - etwa in Hinblick auf die Migration in und nach Europa sowie die "Amerikanisierung" von West- und Osteuropa - wirkt etwas kursorisch. Dahinter scheint allerdings ein grundsätzliches historiographisches Problem auf, daß über Jahrzehnte hinweg unter dem Rubrum "Primat der Außenpolitik" diskutiert worden ist. Nun kann man in einem "Grundriß" kaum weiterführende Überlegungen in dieser Richtung erwarten. Um so erfreulicher sticht ins Auge, daß Dülffer wiederholt versucht, das komplexe Ineinanderspiel von Außen- und Innenpolitik in der Nachkriegsgeschichte auszuloten. Das schließt unter anderem die Erkenntnis einer allmählichen "Veröstlichung" der Mentalitäten innerhalb der Grenzen des ehemaligen Ostblocks ein. Im Zuge dieses Prozesses erfuhr laut Dülffer ein von oben verordneter "antiimperialistischer" Diskurs eine Bestätigung von unten, so daß das "Feindbild Bundesrepublik" für mehrere Jahrzehnte zum Kitt für einen starken Zusammenhalt im Ostblock werden konnte.
Verdienste hat sich Dülffer mit seinem "Grundriß" erworben, weil er sehr klar zu verdeutlichen vermag, daß die Erforschung der jüngsten Zeitgeschichte keineswegs an einem Mangel an zugänglichen und zuverlässigen Quellen scheitern muß. Im Gegenteil: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks besteht heute erstmals die Chance für eine von ideologischen Scheuklappen befreite Geschichtsschreibung über die Nachkriegsepoche. Diese Einführung ist hierfür ein erster, ausgesprochen nützlicher Beleg.
CHRISTOPH CORNELISSEN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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