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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gründlicher als die landläufige Kritik an Brüssel: Dieter Grimm analysiert Baufehler der Europäischen Union
Kann man über die Verfassungslage der EU heute ein Buch schreiben, in dem weder Flüchtlingskrise noch Finanzkrise vorkommen? Dieter Grimm, der es getan hat, ist ein Skeptiker der ersten Stunde. Als nach dem Vertrag von Maastricht die Rede von der Verfassung Europas aufgekommen war, bestritt der damalige Bundesverfassungsrichter Grimm in einer Kontroverse mit Jürgen Habermas das Anrecht der EU auf eine Verfassung. Einem bloß emphatischen Gebrauch des Verfassungsbegriffs hielt er damals wie heute eine historisch aufgeklärte Position der Skepsis entgegen. Grimm ist ein hervorragender Kenner des westlichen Konstitutionalismus und seiner Problemgeschichte und er weiß die Gegenwart mit diesem Erbe trefflich zu konfrontieren. Über Verfassungen zu sprechen heißt für den kategorialen Denker Grimm daher, zunächst einmal genau zu unterscheiden: zwischen Verfassung und Vertrag, zwischen Grundrechten und Demokratie, zwischen Staat und öffentlicher Gewalt, zwischen Verfassunggebung und Verfassungsanwendung, schließlich vor allem: zwischen Recht und Politik.
Die Beiträge seines neuen Buches, es sind Essays, Fachbeiträge und Vorträge aus der jüngsten Zeit, dienen dem Nachweis, dass der EU keine jener für die Verfassungsstaatlichkeit konstituierenden Unterscheidungen überzeugend gelungen ist: Ihre Gründungstexte sind Verträge, fungieren aber als Verfassung, das Europäische Parlament ist ein direkt gewähltes Organ, doch ihm fehlen eine verantwortliche Regierung als Gegenspieler und alle Elemente parlamentarischer Repräsentation: wahrhaft europäische Wahlen, wahrhaft europäische Parteien, ein europäisches Volk. Vollends im Argen liegt die Unterscheidung von Recht und Politik: In Wahrheit politische Entscheidungen werden als Gebote des Rechts verbrämt, um sie gegen Kritik zu immunisieren, während der Gerichtshof gleichzeitig in der Auslegung des Rechts einer politischen Agenda folgt, gegen die kein demokratisches Kraut gewachsen ist.
So dringt Grimms begriffliche Unterscheidungskraft viel tiefer als die landläufige konservative Europakritik: Eine volle Parlamentarisierung der EU bedeutet eben nicht notwendig schon Demokratisierung, weil sie den Rat schwächt und so die Einflusssphäre der mitgliedstaatlichen Demokratien mindert. Auch heißt Verfassung nicht schon immer Demokratie und Grundrechte. Wo bestimmte Auslegungen etwa der Vertragsartikel über wirtschaftliche Grundfreiheiten unbedingten Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht genießen, schrumpft der demokratische Entscheidungsspielraum, und gegenläufige Grundrechte werden überspielt.
Woran liegt das? Natürlich hängen die Baufehler eines Verfassungswerks immer auf die eine oder andere Weise mit seinen Entstehungsbedingungen zusammen. Grimm aber treibt die Engführung von Genealogie und Pathogenese auf die Spitze. Es war der Europäische Gerichtshof, der mit einer Ursünde alles vorweggenommen hat, indem er in einer lautlosen Revolution von oben Anfang der sechziger Jahre die Selbständigkeit und den Vorrang des Europarechts gegenüber den souveränen Mitgliedstaaten durchsetzte.
Für Grimm war es dieser Akt einer angemaßten Selbstermächtigung, der nur den Mitgliedstaaten zugestanden hätte, aus dem sich letztlich alles weitere ergab: die trotz ihres vom Parlament gewählten Präsidenten schwache Legitimation der Europäischen Kommission, das opake Aushandlungssystem des Rates, aber auch der tendenzielle Vorrang des Marktes vor politischen und sozialen Grundrechten. Die Aporien der schlecht begründeten Übertragung des Verfassungsgedankens in den supranationalen Raum setzen sich überall fort, und die verfassungsrechtliche Analyse gerät zu einer Art Schadensbesichtigung.
Grimm will die Union, aber eine andere. Was also soll sich ändern? Zumindest dreierlei: Begrenzung weiterer Kompetenzübertragungen, Europäisierung des Europäischen Parlaments durch ein europäisches Wahlrecht und europäische Parteien und mehr offen politische Entscheidungen auf der europäischen Ebene. Doch würde das der Union wirklich mehr Akzeptanz verschaffen? Und ist nicht einiges davon seit dem Vertrag von Lissabon tatsächlich geschehen? Seit die Mitgliedstaaten in den Krisen der letzten Jahre das Heft des Handelns in der Hand hatten, gibt es keinen Automatismus der Kompetenzerweiterung mehr. Das Europäische Parlament hat stark an Selbstbewusstsein gewonnen, und von Brexit bis TTIP ist an Politisierung kein Mangel.
Indessen sind die Legitimationsfragen keineswegs verstummt, die Zentrifugalkräfte sind stärker geworden, nicht in Deutschland, aber in vielen anderen Mitgliedstaaten. Sie freilich kommen bei Grimm bezeichnenderweise gar nicht vor. Doch die europäische Verfassungsfrage stellt sich in jedem Mitgliedstaat anders: Was hier als illegitime Fremdbestimmung erscheint, garantiert dort ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit.
Wolfgang Streeck, Fritz Scharpf und Hans-Magnus Enzensberger haben in den letzten Jahren sozialliberale Abgesänge auf das Europa der Gegenwart publiziert, Grimm liefert dieser Gattung nun die verfassungstheoretische Fundierung. Vielleicht sollte man jene Texte aber nicht zuletzt auch als die ganz eigene Verlustgeschichte einer westdeutschen Generation lesen: Als die parlamentarische Grundrechtsdemokratie in der Bundesrepublik vollendet war, trat Europa auf den Plan und gab die Richtung vor: den Binnenmarkt. Es bliebe aber zu ergänzen, dass dieses taktisch nützliche Amalgam von staatlichem und europäischem Recht, von europäischer Wirtschafts- und nationaler Sozialpolitik gerade auch immer das Ziel der von großen Mehrheiten getragenen deutschen Politik war. Die Bundesrepublik verdankt diesem institutionellen Arrangement und seinen ökonomischen Effekten ihre herausragende Stellung in Europa. Wo es Verfassungen gibt, sind Recht und Politik eben nie scharf zu unterscheiden. Für den historischen Konstitutionalismus verdanken wir diese Einsicht nicht zuletzt Dieter Grimm.
FLORIAN MEINEL
Dieter Grimm: "Europa ja - aber welches?" Zur Verfassung der europäischen Demokratie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 288 S., br., 24,95 [Euro].
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Thomas Assheuer, ZEIT, 8. Juni 2017