Inflation, Energiekrise, steigende Staatsverschuldung, sinkende Wettbewerbsfähigkeit, löchrige Außengrenzen: Der wirtschaftliche Zustand Europas wirkt düster, obwohl gerade in geopolitisch gefährlichen Zeiten ein starkes, dynamisches Europa der beste Garant für Prosperität und Sicherheit der Mitgliedstaaten ist. Dazu kommt der Eindruck, europäische Politik sei bürokratisch und bürgerfern, gefangen in Streitereien über Verteilungsfragen. Starökonom Gabriel Felbermayr zeigt in seiner pointierten Analyse Europas, seiner Wirtschaft und seiner Rolle in der Welt: Wir stehen besser da, als viele meinen. Um aber weiterhin Wohlstand und Sicherheit zu garantieren, muss die EU spürbare Vorteile für die Bürger*innen und für die Länder bringen. Das heißt: Die Europäische Union muss sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und das, was sie tut, besser machen. Nur so findet sie im Inneren ausreichend Zustimmung und nach außen Gehör. Warum der Schlüssel dazu in der Vollendung der Wirtschaftsunion liegt und wir uns zu einer Union der gemeinsamen öffentlichen Güter weiterentwickeln müssen, zeigt dieses eindrucksvolle, realistische Plädoyer für ein zukunftsfähiges Europa.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2024Plädoyer für Europa
Kann die EU vom Deutschen Zollverein lernen?
Gabriel Felbermayr gehört zu den aktuell wortmächtigsten Wirtschaftserklärern deutscher Sprache. Der 47 Jahre alte Außenhandelsexperte ist seit 2021 Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung, zuvor war er Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. In politischen Zirkeln ist der Hochschullehrer als Ratgeber gefragt wie im Fernsehen als eloquenter Interviewpartner. Was lag näher, als ihn um einen Beitrag zur Europawahl zu bitten?
Der liegt nun vor. Es ist ein schmaler Band, auf 152 Seiten luftig gedruckt und groß gesetzt, eingekleidet in schreiendes Neongrün. "Auf den Punkt" heißt die vom Wiener Verlag Brandstätter herausgegebene Reihe, deren Themen einen Mix aktueller politischer Befindlichkeiten widerspiegeln. Nun also aus naheliegendem (Wahl-)Grund "Europa muss sich rechnen". Der Text richtet sich an politisch interessierte, aber nicht volkswirtschaftlich vorgebildete Leser. Die zwölf Kapitel sind kurz gehalten, zentrale Sätze werden ganzseitig in Fettdruck wiederholt. Das soll wohl helfen, flüchtige Leser bei der Stange zu halten.
Das zentrale Anliegen des luzide geschriebenen Essays beschreibt Felbermayr so: "Die EU sollte sich darauf konzentrieren, Mehrwert zu schaffen." Daraus leitet sich sein profundes Plädoyer für eine vertiefte Integration im gemeinsamen Markt ab, dessen Potential lange nicht gehoben sei. En passant rechnet er vor, dass der gemeinsame Markt einen Mehrwert von 500 Milliarden Euro im Jahr erziele, was mehr sei als das österreichische Bruttoinlandsprodukt. Das EU-Budget sehe groß aus, sei in Wahrheit aber (zu) klein, weshalb er dem Parlament in Straßburg ein eigenes Budgetrecht für den Ausbau von Infrastruktur zugestehen will. Den Austritt der Briten nennt er einen Schadensfall für die Gemeinschaft. Denn größer und nicht kleiner müsse der gemeinsame Markt werden, sei der doch gerade in "geoökonomisch turbulenten Zeiten ein wichtiger Hebel". Warum also nicht ein "Zollparlament" schaffen, in dem neben der EU auch Staaten an ihrer Peripherie (Westbalkan, Ukraine, Türkei) Sitz und Stimme bekämen. So neu wäre das auch nicht. "Eine vergleichbare Institution existierte seit 1868 im Deutschen Zollverein, der bis zur Errichtung des deutschen Kaiserreiches nur sehr wenige Elemente der politischen Integration enthielt." ANDREAS MIHM
Gabriel Felbermayr: Europa muss sich rechnen, Verlag Brandstätter, Wien 2024, 152 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann die EU vom Deutschen Zollverein lernen?
Gabriel Felbermayr gehört zu den aktuell wortmächtigsten Wirtschaftserklärern deutscher Sprache. Der 47 Jahre alte Außenhandelsexperte ist seit 2021 Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung, zuvor war er Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. In politischen Zirkeln ist der Hochschullehrer als Ratgeber gefragt wie im Fernsehen als eloquenter Interviewpartner. Was lag näher, als ihn um einen Beitrag zur Europawahl zu bitten?
Der liegt nun vor. Es ist ein schmaler Band, auf 152 Seiten luftig gedruckt und groß gesetzt, eingekleidet in schreiendes Neongrün. "Auf den Punkt" heißt die vom Wiener Verlag Brandstätter herausgegebene Reihe, deren Themen einen Mix aktueller politischer Befindlichkeiten widerspiegeln. Nun also aus naheliegendem (Wahl-)Grund "Europa muss sich rechnen". Der Text richtet sich an politisch interessierte, aber nicht volkswirtschaftlich vorgebildete Leser. Die zwölf Kapitel sind kurz gehalten, zentrale Sätze werden ganzseitig in Fettdruck wiederholt. Das soll wohl helfen, flüchtige Leser bei der Stange zu halten.
Das zentrale Anliegen des luzide geschriebenen Essays beschreibt Felbermayr so: "Die EU sollte sich darauf konzentrieren, Mehrwert zu schaffen." Daraus leitet sich sein profundes Plädoyer für eine vertiefte Integration im gemeinsamen Markt ab, dessen Potential lange nicht gehoben sei. En passant rechnet er vor, dass der gemeinsame Markt einen Mehrwert von 500 Milliarden Euro im Jahr erziele, was mehr sei als das österreichische Bruttoinlandsprodukt. Das EU-Budget sehe groß aus, sei in Wahrheit aber (zu) klein, weshalb er dem Parlament in Straßburg ein eigenes Budgetrecht für den Ausbau von Infrastruktur zugestehen will. Den Austritt der Briten nennt er einen Schadensfall für die Gemeinschaft. Denn größer und nicht kleiner müsse der gemeinsame Markt werden, sei der doch gerade in "geoökonomisch turbulenten Zeiten ein wichtiger Hebel". Warum also nicht ein "Zollparlament" schaffen, in dem neben der EU auch Staaten an ihrer Peripherie (Westbalkan, Ukraine, Türkei) Sitz und Stimme bekämen. So neu wäre das auch nicht. "Eine vergleichbare Institution existierte seit 1868 im Deutschen Zollverein, der bis zur Errichtung des deutschen Kaiserreiches nur sehr wenige Elemente der politischen Integration enthielt." ANDREAS MIHM
Gabriel Felbermayr: Europa muss sich rechnen, Verlag Brandstätter, Wien 2024, 152 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Österreicher Gabriel Felbermayr ist aktuell einer der profiliertesten Wirtschaftsexperten, weiß Rezensent Andreas Mihm, anlässlich der bevorstehenden Europawahl hat er jetzt einen "luziden" Essay über die wirtschaftliche Situation der EU geschrieben. Die Wichtigkeit des Themas wird Mihm schon typographisch, durch Fett- und Großdruck, klar, auch inhaltlich überzeugt ihn Felbermayr mit seinem Plädoyer für einen besser organisierten, besser funktionierenden, ertragreicheren europäischen Markt, der auch die Länder an seiner "Peripherie" miteinbezieht. Überzeugend und fundiert, urteilt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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