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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vom Versagen der Demokratien und parlamentarischen Institutionen in den Jahren 1918 bis 1938
In der anschwellenden Literatur zum Ersten Weltkrieg nimmt das Buch des Konstanzer Historikers Boris Barth eine Sonderstellung ein. Nicht nur, weil er empfiehlt, vom "Großen Krieg" zu sprechen (wie es zumindest zeitgenössisch in England oder Frankreich üblich war), sondern auch, weil er sich mit der Nachkriegszeit befasst. Ob "Großer Krieg" oder "Erster Weltkrieg" - es handelt sich um einen "irreversiblen Einschnitt", der zur "Destabilisierung zahlreicher europäischer Gesellschaften" führte. Dass europaweit vorhandene Ansätze zur Demokratisierung politischer Systeme scheiterten, führt Boris Barth auf Probleme zurück, "die der Erste Weltkrieg hinterließ und die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht gelöst wurden". Um dem Scheitern der Demokratie in 16 mittel-, süd- und osteuropäischen Ländern und dem Anwachsen antidemokratischer Bewegungen auch in Westeuropa auf die Spur zu kommen, werden vier "Problemfelder" behandelt: die Pariser Weltordnung, die über das Kriegsende von 1918 hinaus andauernde Gewalt- und Kriegserfahrung, die an ethnischer Zugehörigkeit orientierten Nationenbildungen nebst damit verbundenen Vertreibungen und schließlich die unzulängliche Rekonstruktion der im Krieg zerrütteten europäischen Wirtschaft.
Schon die Darstellung der von den Siegermächten 1919 in Paris vereinbarten Neuordnung Europas lässt den weiten Blick erkennen, mit dem der Autor seine Thematik erfasst. Dem Versailler Vertrag kommt zweifelsohne auch in europäisch vergleichender Sicht eine Sonderstellung zu, doch versteht man die ganze Komplexität des Übergangs vom Waffenstillstand zum Friedensvertrag erst, wenn man - wie es hier geschieht - die fünf Pariser Vorortverträge in ihrer Gesamtheit betrachtet. Was unter Zeitdruck und angesichts schlechterdings unvereinbarer Erwartungen ausgehandelt wurde, erwies sich als das genaue Gegenteil einer auch nur halbwegs stabilen Friedensordnung.
Von Großbritannien und der eben aus der Taufe gehobenen Tschechoslowakei abgesehen, gab es bei Unterzeichnung der Friedensverträge "nur noch revisionistische Mächte". Diese nicht eben neue Einsicht verbindet Barth im Sinne seiner leitenden Fragestellung mit einer Fundamentalkritik. Insbesondere beim Versailler Vertrag wurde ein "entscheidender Aspekt" ausgeblendet, nämlich das "Problem der Demokratie". Wenn aus den Friedensverhandlungen "keine legitime globale Ordnung" hervorging, handelte es sich nicht nur um eine Frage der internationalen Beziehungen. Gleichzeitig wurde damit die "Etablierung von parlamentarisch stabilen Verhältnissen und zivilgesellschaftlichen Normen" blockiert, "ohne die Demokratien Belastungsproben nur schwer überstehen können".
Unter Umgehung der Frage, ob derartige Strukturfragen überhaupt am Pariser Verhandlungstisch zu lösen waren, zeichnet Barth höchst anschaulich das ganze Panorama des europäischen "Gewaltraums" nach. Er erstreckte sich vom russischen Bürgerkrieg über die Gewaltorgien der deutschen Freikorps, der österreichischen Heimwehren oder der ungarischen Milizen, die untereinander verbunden waren und eine "transnationale Zone paramilitärischer Gewalt" formten, bis hin zu den Kriegen in Ostmitteleuropa und im Nahen Osten. Der "Große" Krieg war vorbei, aber das Töten wollte kein Ende nehmen.
Auch Staatenkriege wie der Griechisch-Türkische Krieg oder die Grenzkriege Polens gegen seine Nachbarn fanden noch statt. Überwiegend aber befand sich der Feind im eigenen Land. In Russland forderte der Bürgerkrieg, verglichen mit den Kriegstoten zuvor, ein Fünffaches an Menschenleben. In Deutschland spielten sich die Kämpfe in einem "Klima von Gewalt" ab, das von zwei entgegengesetzten Polen befeuert wurde, von der breiten Anhängerschaft einer Gegenrevolution und von den Verfechtern eines "deutschen Oktober" nach russischem Vorbild. Die während des Kriegs eingetretene "Brutalisierung von Teilen der politischen Kultur" setzte sich nach 1918 häufig fort.
Gewaltförmig verlief auch vielfach die territoriale Neuordnung, die nach der Auflösung der Vorkriegsimperien unter dem Vorzeichen der Nationenbildung in Paris beschlossen wurde. An die Stelle von multiethnischen Gebieten traten Nationalstaaten, die Minderheiten als Konfliktherd entstehen ließen und ethnisch motivierte Vertreibungen sowie Flüchtlingsströme auslösten. Bis Mitte der 1920er Jahre waren zehn Millionen Europäer davon betroffen, davon mehr als zwei Millionen Russen und Ukrainer, und über eine Million im griechisch-türkischen Kampfgebiet. Weit über eine Million Deutsche, die im Elsass, in den Kolonien, in Polen oder Russland gelebt hatten, zogen ins Reichsgebiet, während etwa neun Millionen Deutsche jenseits seiner Grenzen lebten. Jüdische Minderheiten wurden wiederholt Opfer von Pogromen.
Schließlich die wirtschaftliche Entwicklung: Auch hier ergibt sich ein negativer Befund. Ungeachtet der vorsichtigen Erholung in der Mitte der 1920er Jahre trugen die Nachkriegsinflation, die dauerhafte Agrarkrise und die brüchig bleibenden internationalen Finanzbeziehungen dazu bei, dass keine Rückkehr zu Vertrauen einflößender Normalität erfolgte und der Ruf nach dem starken Staat oder gar Mann weithin zu vernehmen war. Die Weltwirtschaftskrise verstärkte diesen Trend noch einmal auf dramatische Weise.
Bei einem Vergleich der von den globalen Verwerfungen betroffenen Gesellschaften stellt Barth bei seiner Suche nach den Bedingungen für das Funktionieren parlamentarischer Systeme freilich gravierende Unterschiede fest. In den Vereinigten Staaten etwa - und, wie hinzuzufügen ist, in Westeuropa - finden sich keine Anzeichen für eine Gefährdung der Demokratie. In Deutschland dagegen wurden die "Weichen hin zu einem autoritären Regime" schon vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gestellt.
Entgegen dem Titel des Buches handelte es sich weniger um eine Krise der Demokratie in weiten Teilen Kontinentaleuropas als um deren Fragilität von Anfang an. Aus gutem Grund hütet sich Barth vor generalisierenden Aussagen, mit denen man Erfolg oder Scheitern von Demokratien erklären könnte. Aber er spricht dezidiert davon, dass das Versagen der Demokratien und der parlamentarischen Institutionen auf deren Schwäche zurückzuführen sei und nicht auf die Stärke ihrer Gegner, die dann die "Offensive gegen den Parlamentarismus" erfolgreich gestalteten.
An manchen Stellen dieses auch im Lichte gegenwärtiger Problemlagen anregenden Werks wäre es angebracht gewesen, demokratiepolitische Optionen stärker zu beleuchten, die von den Demokraten entschiedener hätten ergriffen werden können. Wenn es um die Demokratie geht, sind die Demokraten gefragt. Barth erinnert darüber hinaus daran, dass es zureichender Rahmenbedingungen bedarf, damit genügend Bürger für die demokratische Freiheit eintreten.
GOTTFRIED NIEDHART
Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016. 361 S., 34,95 [Euro]
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