Shortlist Deutscher Buchpreis 2021/ Schweizer Literaturpreis 2022 für im vergangenen Jahr erschienene literarische Werke. »I'll see you in twenty-five years.« Laura Palmer. »Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Es war ganz schrecklich. Aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, dass ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muss ich sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun nicht mehr einfällt, >Faserland< genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.« Christian Krachts lange erwarteter neuer Roman beginnt mit einer Erinnerung: vor 25 Jahren irrte in »Faserland« ein namenloser Ich-Erzähler (war es Christian Kracht?) durch ein von allen Geistern verlassenes Deutschland, von Sylt bis über die Schweizer Grenze nach Zürich. In »Eurotrash« geht derselbe Erzähler erneut auf eine Reise - diesmal nicht nur ins Innere des eigenen Ichs, sondern in die Abgründe der eigenen Familie, deren Geschichte sich auf tragische, komische und bisweilen spektakuläre Weise immer wieder mit der Geschichte dieses Landes kreuzt. »Eurotrash« ist ein berührendes Meisterwerk von existentieller Wucht und sarkastischem Humor.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Falsche Fische
Die grotesken Filmszenen der Erinnerung: In seinem Roman "Eurotrash" betrachtet Christian Kracht die eigene Familiengeschichte in einem Zerrspiegel. So entsteht eine Parodie auf die Mode des autobiographischen Schreibens, die uns fragt: In welcher Fiktion wollen wir leben?
Von Jan Wiele
Kann man noch deutlicher machen, dass etwas eine Parodie ist? In seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 2018 sagte Christian Kracht: "Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie." Er meinte nicht zuletzt die Vorlesungsreihe, in der er sprach. Und schon damals entstand der Eindruck, Kracht parodiere die Textgattung, in der er sich äußert, indem er seine eigene Lebensgeschichte in grotesk überzeichneten Episoden erzählte und nach Schilderung einer Missbrauchserfahrung aus seiner Jugend sein ganzes literarisches Werk im Lichte dieser Erfahrung mit der Methode des Biographismus selbst auslegte. Er nannte dann explizit die Parodie eine "Heilung für den Missbrauch".
Nun erscheint Krachts neuer Roman. Er heißt "Eurotrash". Der Begriff bezeichnet oft eine triviale, obszöne Form der Popmusik - der Künstler Friedrich Liechtenstein sprach etwa gegenüber dieser Zeitung einmal von "Eurotrash der Skihütten". Aber laut dem für das Verständnis gegenwärtiger Kultur oft hilfreichen Online-Medium "Urban Dictionary" kann "Eurotrash" auch Menschen meinen, die sich durch zur Schau getragenen Wohlstand und gleichzeitig durch inszenierte Verlotterung, durch Modesucht in schmerzhaft empfundenem Ironiebewusstsein und durch Weltmüdigkeit auszeichnen.
Worauf also zielt die Parodie des Romans "Eurotrash"? Zum einen auf den konsumistischen, oberflächlichen Lebensstil, mit dem Kracht seit seinem Debüt "Faserland" (1995) wie kein anderer Gegenwartsautor in Verbindung gebracht wurde, weil er diesen Lebensstil darin vermeintlich affirmativ beschrieben hatte. Das war eine Fehlrezeption, allerdings eine äußerst produktive: Sie hängt der deutschsprachigen Popliteratur als Stigma bis heute an, teils auch nicht zu Unrecht. Im neuen Roman, der als Fortsetzung von "Faserland" beworben wird, malt Kracht in einer an Thomas Bernhard gemahnenden Spottlust die Schweiz als Hort des Eurotrashs aus. Und setzt sich mit der Frage auseinander, ob er und seine Familie vielleicht selbst "Eurotrash" sind.
Wenn man aber man den Titel auch als ironische Selbstdenunziation des Romans versteht, zielt die Parodie sogar auf dessen eigene Form: Seine zur Schau gestellte Mode wäre dann die des autobiographischen Erzählens, das seit ein paar Jahren nun zu einem regelrechten Kult vermeintlich authentischer Memoir-Literatur geführt hat. Ebenden hatte Kracht in seiner Vorlesung parodiert, und der Roman ist die konsequente Fortsetzung auch davon.
Sein Erzähler heißt Christian Kracht, und vieles dürfte damaligen Zuhörern der Vorlesung bekannt vorkommen: das Aufwachsen in kaltem Wohlstand, maximal entfremdet von den desinteressierten Eltern, die Hassliebe zur Schweizer Heimat, das angebliche Anzünden der Schule im Alter von sieben Jahren, der Vater, ein Manager im Verlag Axel Springers, als Parvenu im internationalen Jetset, der Expressionisten-Originalbilder unter dem Bett hortet, die nationalsozialistische Vergangenheit der Großeltern, ein kurioser Onkel. Neu allerdings ist nun die Geschichte der Mutter: Sie wird zum Zentrum des Romans, löst seine Handlung aus, indem sie den in Amerika lebenden Sohn zum Besuch in die Schweiz bittet, von dem man ahnt, es könnte der letzte sein. Diese Mutter ist es, die diesmal für die qualvolle Nabelschau sorgt, wenn erzählt wird, dass auch sie im Alter von elf Jahren missbraucht worden sei und doch nicht verhindern konnte, dass ihrem Sohn später das Gleiche geschah. "Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muss, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit", heißt es zu Beginn. Die Mutter wird beschrieben als stark trinkendes, tablettenabhängiges Wrack. Die Wiederbegegnung mit dem Sohn ist denkbar schmerzhaft für beide, und doch haben beide sie bitter nötig.
Beide haben sich nämlich mit traumatischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man so will, Trauerarbeit zu leisten. Der Erzähler gibt ohnehin zu, er lebe seit Jahrzehnten nur in der "ewig präsenten" Vergangenheit. Und gibt dann noch einen bedeutsamen Hinweis: "Ich lebte in Filmen."
Damit ist etwas Entscheidendes über die Erzählstruktur von Kracht-Romanen gesagt: Denn oft werden darin, ausgehend von einem Stichwort, Szenen filmisch ausfabuliert - Stilprinzip auch seines Kino-Romans "Die Toten" (2016). Unmittelbar nach dem Filmhinweis folgt hier eine vorgestellte Erinnerung aus der Kriegskindheit der Mutter, in der Deserteure an Laternenpfählen aufgeknüpft sind, Körperteile aus zerbombtem Häusern hängen. Dann folgt eine Betrachtung über den Vater, der aus Angst vor seiner Provinzialität zum Snob zu werden versucht - und schwups, sehen wir ihn in Londoner
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Klubs zwischen Roastbeefwagen und weißen Schürzen, wie er verzweifelt versucht mitzuhalten. Es klappt leider nicht, vielleicht weil der Vater, wie es noch später heißt, als "sonderbarer kleiner Mann dem Schauspieler Louis de Funès sehr geähnelt hatte"? Auch die Erinnerung des Erzählers an seine eigene Kindheit ist filmgesteuert: "Meine Träume sahen ungefähr so aus wie die Schlußszene in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag", sagt er einmal: Stoff für Albträume.
Sein Hass-Bild der Schweiz wiederum scheint grundiert von Filmen des antikapitalistischen Revolutionärs Guy Debord, dessen Kritik an der "Gesellschaft des Spektakels" (1967) hier nicht nur gegen den Konsumismus der Eidgenossen, sondern auch gegen den der falsch verstandenen Popliteratur in Stellung gebracht wird: Die Barbourjacke aus "Faserland" weicht einem kratzigen Öko-Pullover.
Und doch besteht die Pointe des Romans "Eurotrash" darin, sich den vorgestanzten Film-Träumen nicht willenlos zu unterwerfen, sondern sie selbst zu gestalten: als Tagträume. Der sagenhafte Roadtrip, auf den sich der Erzähler darin mit seiner von Krankheit gezeichneten Mutter begibt, ist so eine Flucht in die Tagtraum-Realität.
Das dämmert dem Leser, wenn die Mutter den Sohn ständig bittet, Geschichten zu erzählen, und der bereitwillig losfabuliert. Aber immer deutlicher wird dann, dass auch die innerhalb der Romanfiktion als wahr ausgegebene Erzählung einer Taxifahrt kreuz und quer durch die Schweiz, bei der Mutter und Sohn mit Tausendfrankenscheinen aus Plastiktüten um sich werfen, bei Öko-Nazis übernachten, Borges' Grab besuchen, erst nach München und dann nach Afrika zu fliegen beschließen und doch am Ende wieder auf einem Klinikparkplatz landen, selbst eine solche Tagtraum-Fiktion sein könnte.
Die Schlüsselszene eines Fischessens wirkt wie ein poetologisches Emblem dieser Erkenntnis: "Im milchiggekochten Auge der Forelle", die vor den Protagonisten als "straff zusammengezogene hellblaue Leiche" unappetitlich auf dem Teller liegt, "spiegelte sich nichts", heißt es, und dann: "Was hätte sich auch spiegeln sollen?" Daraus erhellt nicht nur, dass die Figuren, die da am Tisch sitzen, gar nicht wirklich da sind. Sondern auch, da das lang herbeigesehnte Forellenmahl eine so drastische Enttäuschung ist: dass die falschen Fische der Fiktion eben oft schöner sind als die Wirklichkeit. Die Drastik dieser Wirklichkeit zu mildern durch steile Geschichten: das ist das Prinzip Christian Krachts, das er den aufrichtigen Memoir-Schreibern trotzig entgegenschleudert. Manchmal sogar mit Humor, wenn die Mutter etwa sagt, die Schweiz sei ja auch nur eine Erfindung der Engländer.
Das Ende des Romans schildert berührend die Übereinkunft von Mutter und Sohn, die Tagtraum-Welt gar nicht mehr zu verlassen. Und so landen beide am Ziel einer Reise, die sie nie angetreten haben: Heilung durch Fiktion.
Christian Kracht: "Eurotrash". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 210 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die grotesken Filmszenen der Erinnerung: In seinem Roman "Eurotrash" betrachtet Christian Kracht die eigene Familiengeschichte in einem Zerrspiegel. So entsteht eine Parodie auf die Mode des autobiographischen Schreibens, die uns fragt: In welcher Fiktion wollen wir leben?
Von Jan Wiele
Kann man noch deutlicher machen, dass etwas eine Parodie ist? In seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 2018 sagte Christian Kracht: "Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie." Er meinte nicht zuletzt die Vorlesungsreihe, in der er sprach. Und schon damals entstand der Eindruck, Kracht parodiere die Textgattung, in der er sich äußert, indem er seine eigene Lebensgeschichte in grotesk überzeichneten Episoden erzählte und nach Schilderung einer Missbrauchserfahrung aus seiner Jugend sein ganzes literarisches Werk im Lichte dieser Erfahrung mit der Methode des Biographismus selbst auslegte. Er nannte dann explizit die Parodie eine "Heilung für den Missbrauch".
Nun erscheint Krachts neuer Roman. Er heißt "Eurotrash". Der Begriff bezeichnet oft eine triviale, obszöne Form der Popmusik - der Künstler Friedrich Liechtenstein sprach etwa gegenüber dieser Zeitung einmal von "Eurotrash der Skihütten". Aber laut dem für das Verständnis gegenwärtiger Kultur oft hilfreichen Online-Medium "Urban Dictionary" kann "Eurotrash" auch Menschen meinen, die sich durch zur Schau getragenen Wohlstand und gleichzeitig durch inszenierte Verlotterung, durch Modesucht in schmerzhaft empfundenem Ironiebewusstsein und durch Weltmüdigkeit auszeichnen.
Worauf also zielt die Parodie des Romans "Eurotrash"? Zum einen auf den konsumistischen, oberflächlichen Lebensstil, mit dem Kracht seit seinem Debüt "Faserland" (1995) wie kein anderer Gegenwartsautor in Verbindung gebracht wurde, weil er diesen Lebensstil darin vermeintlich affirmativ beschrieben hatte. Das war eine Fehlrezeption, allerdings eine äußerst produktive: Sie hängt der deutschsprachigen Popliteratur als Stigma bis heute an, teils auch nicht zu Unrecht. Im neuen Roman, der als Fortsetzung von "Faserland" beworben wird, malt Kracht in einer an Thomas Bernhard gemahnenden Spottlust die Schweiz als Hort des Eurotrashs aus. Und setzt sich mit der Frage auseinander, ob er und seine Familie vielleicht selbst "Eurotrash" sind.
Wenn man aber man den Titel auch als ironische Selbstdenunziation des Romans versteht, zielt die Parodie sogar auf dessen eigene Form: Seine zur Schau gestellte Mode wäre dann die des autobiographischen Erzählens, das seit ein paar Jahren nun zu einem regelrechten Kult vermeintlich authentischer Memoir-Literatur geführt hat. Ebenden hatte Kracht in seiner Vorlesung parodiert, und der Roman ist die konsequente Fortsetzung auch davon.
Sein Erzähler heißt Christian Kracht, und vieles dürfte damaligen Zuhörern der Vorlesung bekannt vorkommen: das Aufwachsen in kaltem Wohlstand, maximal entfremdet von den desinteressierten Eltern, die Hassliebe zur Schweizer Heimat, das angebliche Anzünden der Schule im Alter von sieben Jahren, der Vater, ein Manager im Verlag Axel Springers, als Parvenu im internationalen Jetset, der Expressionisten-Originalbilder unter dem Bett hortet, die nationalsozialistische Vergangenheit der Großeltern, ein kurioser Onkel. Neu allerdings ist nun die Geschichte der Mutter: Sie wird zum Zentrum des Romans, löst seine Handlung aus, indem sie den in Amerika lebenden Sohn zum Besuch in die Schweiz bittet, von dem man ahnt, es könnte der letzte sein. Diese Mutter ist es, die diesmal für die qualvolle Nabelschau sorgt, wenn erzählt wird, dass auch sie im Alter von elf Jahren missbraucht worden sei und doch nicht verhindern konnte, dass ihrem Sohn später das Gleiche geschah. "Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muss, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit", heißt es zu Beginn. Die Mutter wird beschrieben als stark trinkendes, tablettenabhängiges Wrack. Die Wiederbegegnung mit dem Sohn ist denkbar schmerzhaft für beide, und doch haben beide sie bitter nötig.
Beide haben sich nämlich mit traumatischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man so will, Trauerarbeit zu leisten. Der Erzähler gibt ohnehin zu, er lebe seit Jahrzehnten nur in der "ewig präsenten" Vergangenheit. Und gibt dann noch einen bedeutsamen Hinweis: "Ich lebte in Filmen."
Damit ist etwas Entscheidendes über die Erzählstruktur von Kracht-Romanen gesagt: Denn oft werden darin, ausgehend von einem Stichwort, Szenen filmisch ausfabuliert - Stilprinzip auch seines Kino-Romans "Die Toten" (2016). Unmittelbar nach dem Filmhinweis folgt hier eine vorgestellte Erinnerung aus der Kriegskindheit der Mutter, in der Deserteure an Laternenpfählen aufgeknüpft sind, Körperteile aus zerbombtem Häusern hängen. Dann folgt eine Betrachtung über den Vater, der aus Angst vor seiner Provinzialität zum Snob zu werden versucht - und schwups, sehen wir ihn in Londoner
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Klubs zwischen Roastbeefwagen und weißen Schürzen, wie er verzweifelt versucht mitzuhalten. Es klappt leider nicht, vielleicht weil der Vater, wie es noch später heißt, als "sonderbarer kleiner Mann dem Schauspieler Louis de Funès sehr geähnelt hatte"? Auch die Erinnerung des Erzählers an seine eigene Kindheit ist filmgesteuert: "Meine Träume sahen ungefähr so aus wie die Schlußszene in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag", sagt er einmal: Stoff für Albträume.
Sein Hass-Bild der Schweiz wiederum scheint grundiert von Filmen des antikapitalistischen Revolutionärs Guy Debord, dessen Kritik an der "Gesellschaft des Spektakels" (1967) hier nicht nur gegen den Konsumismus der Eidgenossen, sondern auch gegen den der falsch verstandenen Popliteratur in Stellung gebracht wird: Die Barbourjacke aus "Faserland" weicht einem kratzigen Öko-Pullover.
Und doch besteht die Pointe des Romans "Eurotrash" darin, sich den vorgestanzten Film-Träumen nicht willenlos zu unterwerfen, sondern sie selbst zu gestalten: als Tagträume. Der sagenhafte Roadtrip, auf den sich der Erzähler darin mit seiner von Krankheit gezeichneten Mutter begibt, ist so eine Flucht in die Tagtraum-Realität.
Das dämmert dem Leser, wenn die Mutter den Sohn ständig bittet, Geschichten zu erzählen, und der bereitwillig losfabuliert. Aber immer deutlicher wird dann, dass auch die innerhalb der Romanfiktion als wahr ausgegebene Erzählung einer Taxifahrt kreuz und quer durch die Schweiz, bei der Mutter und Sohn mit Tausendfrankenscheinen aus Plastiktüten um sich werfen, bei Öko-Nazis übernachten, Borges' Grab besuchen, erst nach München und dann nach Afrika zu fliegen beschließen und doch am Ende wieder auf einem Klinikparkplatz landen, selbst eine solche Tagtraum-Fiktion sein könnte.
Die Schlüsselszene eines Fischessens wirkt wie ein poetologisches Emblem dieser Erkenntnis: "Im milchiggekochten Auge der Forelle", die vor den Protagonisten als "straff zusammengezogene hellblaue Leiche" unappetitlich auf dem Teller liegt, "spiegelte sich nichts", heißt es, und dann: "Was hätte sich auch spiegeln sollen?" Daraus erhellt nicht nur, dass die Figuren, die da am Tisch sitzen, gar nicht wirklich da sind. Sondern auch, da das lang herbeigesehnte Forellenmahl eine so drastische Enttäuschung ist: dass die falschen Fische der Fiktion eben oft schöner sind als die Wirklichkeit. Die Drastik dieser Wirklichkeit zu mildern durch steile Geschichten: das ist das Prinzip Christian Krachts, das er den aufrichtigen Memoir-Schreibern trotzig entgegenschleudert. Manchmal sogar mit Humor, wenn die Mutter etwa sagt, die Schweiz sei ja auch nur eine Erfindung der Engländer.
Das Ende des Romans schildert berührend die Übereinkunft von Mutter und Sohn, die Tagtraum-Welt gar nicht mehr zu verlassen. Und so landen beide am Ziel einer Reise, die sie nie angetreten haben: Heilung durch Fiktion.
Christian Kracht: "Eurotrash". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 210 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Wiele zieht den Hut vor Christian Krachts etwas anderer Memoiren-Kunst. Wie der Autor und sein Erzähler diesmal antreten, die dunklen Ecken ihrer Familiengeschichte mit Fiktion zu überkleistern, findet Wiele schon lesenswert. Parodistisch, mit der Spottlust eines Thomas Bernhard geht das laut Wiele vor sich. Wiele folgt dem Erzähler und dessen Mutter durch eine Pappmaché-Schweiz, die der Roman filmisch und (alp-)träumerisch ausstaffiert. Das ist manchmal sogar witzig, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschenke
für
den Kopf
Die Tage werden kürzer,
und es droht eine noch stillere Zeit
als sonst um Weihnachten.
Höchste Zeit für Bücher, Filme, Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Moritz Baumstieger
EIN GROSSER SPASS
Ist er’s? Ist er’s nicht? 25 Jahre nachdem ein namenloser Autor in „Faserland“ einen Roadtrip nach Zürich unternahm, begibt sich in „Eurotrash“ ein „Faserland“-Autor namens Christian Kracht mit seiner Mutter auf eine Reise durch die Schweiz – und gleichzeitig durch die eigene Familiengeschichte.
Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch. 224 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Wenn sich ein 1,84 Meter großer Schreiber und ein 1,92 Meter großer Fotograf in einen Cinquecento quetschen und damit 7000 Kilometer abfahren, müssen sie von irrationalen Gefühlen geleitet sein. Im Falle der amici Marco Maurer und Daniel Etter war es die Liebe zu Italien, gutem Essen und Geschichten. Ihr Buch verführt zu einer Reise im Kopf – ein Konzept, das angesichts der Inzidenzen wieder in Mode kommt. Marco Maurer: Meine italienische Reise. Prestel Verlag. 240 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor Copy & Paste war Ausschneiden & Kleben – und nichts machte das Basteln von Einladungen, Collagen und Kinderquatsch lustiger als das anarchische „Schnippelbuch“: Tausende kleiner Bilder in einem Wälzer, den man mit der Schere traktieren durfte. Man darf es immer noch: Ein zweiter Band wurde 2015 neu aufgelegt, inklusive einem Text von Christian Ude zum Urheberrecht. Schnippelbuch 2: Schwarz-weißes Bilderarchiv. 503 Seiten, 40 Euro. www.schnippelbuch.de.
Hilmar Klute
EIN LIEBESBEWEIS
Wo rührt unsere Italiensehnsucht her? Richtig: Goethe hat sie entfacht! Aber was für Tricks und Heimlichkeiten waren nötig, bis der für beinahe alles zuständige Geheime Rat sich vom Weimarer Fürstenhof stehlen und die Tour seines Lebens machen konnte. Fein ironisch und mit großer Kennerschaft erzählt Golo Maurer diese klassische Aussteigergeschichte als Blaupause für spätere Romfahrten. Ohne Goethes Flucht ins Zitronenland wären weder Rudolf Borchardt noch Ernst Robert Curtius Gelegenheitsrömer geworden, noch wäre Ingeborg Bachmann dort „zum Schauen erwacht“ und aus Rolf Dieter Brinkmanns Klassikerzorn („Man müsste es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden“) wäre nichts geworden.
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt. 539 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Pong ist wieder da. Er hat ein bisschen geschlafen, schlecht geträumt, und jetzt will eine Frau, die Pong bald „meine Johanna“ nennt, die Wohnung über ihm mieten. Sibylle Lewitscharoff, die große, höllenkomische Stilistin, hat ihren weltkritischen, in Fremdheit und Scheu verpuppten Helden zeitgerecht mit der „Corona-Mütze“ ausgestattet und in eine kleine, abgründige Liaison mit der grässlichen Wirklichkeit getrieben. Ein poetisches Kleinod – zauberhaft, komisch, anrührend.
Sibylle Lewitscharoff: Pong am Abgrund. Insel-Bücherei. 137 Seiten, 14 Euro.
Johanna Adorján
EINE HILFE
Helene Hegemann hat ein Buch geschrieben, das Patti Smith benutzt, um in Wahrheit von etwas ganz anderem zu erzählen. Es handelt von einer 13-Jährigen (ihr selbst), deren Mutter sich gerade totgesoffen hat und deren Vater sie zu Theaterproben mitnimmt, bei denen sie erkennt, welche Kühnheit, Kraft und Freiheit Kunst einem zu schenken vermag und welche Magie sich entfaltet, wenn man Ja zum Leben sagt.
Helene Hegemann: Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. KiWi Musikbibliothek. 112 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Nur weil jemand Johann Wolfgang von Goethe war, heißt das nicht, dass er nicht auch schlechte Gedichte geschrieben hat. Die schlechtesten (subjektive Auswahl des Herausgebers, aber sie sind wirklich sehr schlecht) sind nun in einem Band versammelt, okay, einem Bändchen, mit sehr schönen Illustrationen von Hauck & Bauer versehen.
Goethes schlechteste Gedichte. Mit Cartoons von Hauck & Bauer. Jung und Jung. 64 Seiten, 12 Euro.
Alex Rühle
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bov Bjergs Debütroman „Deadline“, der wegen eines Druckereibrandes verschollen war, in einer Neuauflage. Der Tod und die Eltern, die Sprache und die Unmöglichkeit, die richtigen Worte zu finden, alles im Kopf einer Übersetzerin, die aus Boston ins Schwäbische zurückkommt. Sperrig, dicht wie Lyrik und abgrundtief grotesk. Bov Bjerg: Deadline. Kanon. 176 Seiten, 22 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Wenn man dieses Buch durchhat, will man sofort zum Bahnhof, egal wohin, Hauptsache los: Jaroslav Rudiš’ „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ ist eine enthusiastische Liebeserklärung an die Eisenbahn, das Unterwegssein und die europäische Geschichte. Rudiš erzählt mit großer Fabulierlust von seiner tschechischen Eisenbahnerfamilie, den besten Speisewagen und den schönsten Nachtzügen – ein Vergnügen erster Klasse. Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Piper. 256 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Timothy Snyder veröffentlichte 2017 nach dem Trump-Schock „Über Tyrannei, 20 Lektionen für den Widerstand“, eine Verhaltenslehre für politisch schwere Zeiten und die Frage nach dem richtigen Leben und demokratischem Engagement. Nora Krug hat diese Thesen nun mit großartigen Illustrationen, Fotocollagen und Comicpassagen angereichert. Timothy Snyder: Über Tyrannei. Illustriert von Nora Krug. C.H. Beck. 128 Seiten, 20 Euro.
David Steinitz
EIN LIEBESBEWEIS
Der Trost, den große Romane spenden, weil man mit dem Menschsein nicht mehr ganz so allein ist, findet sich in Jonathan Franzens „Crossroads“ in Hülle und Fülle. Ein Epos über eine Pastorenfamilie im Chicago der Siebzigerjahre. Über Geschwisterbande, Elternliebe, Einsamkeit, Obsessionen und Liebeskummer. So schnell und so gierig hat man lange keinen 800-Seiter mehr verschlungen.
Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt. 832 Seiten, 28 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Niederländer Chas Gerretsen war eigentlich Kriegsfotograf, er dokumentierte Vietnam und den Militärputsch in Chile. Als er genug von Gewalt und Gefahr hatte, ging er nach Hollywood, träumte von einem entspannten Leben als Setfotograf – und landete ausgerechnet bei Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Seine Bilder von den vermutlich wahnsinnigsten Dreharbeiten der Filmgeschichte lagen jahrzehntelang im Archiv. Jetzt hat der 78-Jährige sie in einem opulenten Bildband herausgegeben.
Chas Gerretsen: Apocalypse Now. The Lost Photo Archive. Prestel. 256 Seiten, 45 Euro.
Carolin Gasteiger
EINE WIEDERENTDECKUNG
In ihrem Erstlingswerk von 1931 schildert Gabriele Tergit, wie der Volkssänger Georg Käsebier im Berlin der Dreißigerjahre von heute auf morgen zum Star hochgeschrieben wird. Ein liebevoll-bissiger Blick auf die Zeitungsbranche, nicht nur für diejenigen, die zu ihr gehören. Pointiert geschrieben – und, wenn auch bereits vor neunzig Jahren erschienen, nach wie vor aktuell.
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Btb Verlag. 400 Seiten, 11 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Hart, rotzig, tiefgründig – das zweite Album der Rapperin Shirin David erwischt einen mit voller Wucht. Was die 26-Jährige auf „Bitches brauchen Rap“ abliefert, ist ein einziger treffsicherer, feministischer Kommentar. Da frage noch mal jemand, wer im Deutsch-Rap jetzt eigentlich was zu sagen hat.
Shirin David: Bitches brauchen Rap. Universal.
EINE HERAUSFORDERUNG
Achatz von Müller legt zu Dantes 700. Todestag dar, was der italienische Nationaldichter und Autor der „Divina Commedia“ mit unserer Moderne zu tun hat. Ein nicht immer einfacher, aber grandioser Abriss auf gut 200 Seiten, inklusive Ezra Pound und Hannah Arendt.
Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne. Wallstein. 222 Seiten, 22 Euro.
Christiane Lutz
EIN LIEBESBEWEIS
Diesen Roman sollte man wirklich nur ausgewählten Menschen schenken, weil er so berührend ist. Gut, dass wir hier unter uns sind: „Die Vögel“ von dem norwegischen Autor Tarjei Vesaas wurde schon 1957 veröffentlicht, der Guggolz-Verlag hat 2020 eine wunderbare Neuübersetzung herausgebracht. Der Roman betrachtet die Welt durch die Augen von Mattis, einem „Dussel“, wie ihn die anderen nennen. Mattis sieht den Himmel, die Schnepfen und findet das Glück an dem Tag, als er zwei Mädchen über den See rudert. Mattis ist pur in seiner Liebe zur Natur und zu seiner Schwester, und vielleicht ist Mattis der einzige, der klarsieht. Eine Geschichte, schlicht und überreich an Schönheit.
Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz Verlag. 276 Seiten, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wenn Menschen in die Natur eingreifen, um Probleme zu lösen, schaffen sie oft neue. Etwa südöstlich von New Orleans, wo der Kontinent nur noch aus ein paar Landzungen besteht. Dort bauten die Siedler einst Dämme gegen drohende Überflutung. Doch dadurch fehlte dem Boden der durchs Wasser angespülte Sand, so muss das Land dort heute künstlich und systematisch geflutet werden. Das Beispiel stammt aus einem Essay der Journalistin Elizabeth Kolbert. Eindrucksvoll und erschreckend logisch schlüsselt sie in „Under a White Sky“ das große Versagen des Menschen im Anthropozän auf.
Elizabeth Kolbert: Under a White Sky. Bodley Head. 256 Seiten, 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für
den Kopf
Die Tage werden kürzer,
und es droht eine noch stillere Zeit
als sonst um Weihnachten.
Höchste Zeit für Bücher, Filme, Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Moritz Baumstieger
EIN GROSSER SPASS
Ist er’s? Ist er’s nicht? 25 Jahre nachdem ein namenloser Autor in „Faserland“ einen Roadtrip nach Zürich unternahm, begibt sich in „Eurotrash“ ein „Faserland“-Autor namens Christian Kracht mit seiner Mutter auf eine Reise durch die Schweiz – und gleichzeitig durch die eigene Familiengeschichte.
Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch. 224 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Wenn sich ein 1,84 Meter großer Schreiber und ein 1,92 Meter großer Fotograf in einen Cinquecento quetschen und damit 7000 Kilometer abfahren, müssen sie von irrationalen Gefühlen geleitet sein. Im Falle der amici Marco Maurer und Daniel Etter war es die Liebe zu Italien, gutem Essen und Geschichten. Ihr Buch verführt zu einer Reise im Kopf – ein Konzept, das angesichts der Inzidenzen wieder in Mode kommt. Marco Maurer: Meine italienische Reise. Prestel Verlag. 240 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor Copy & Paste war Ausschneiden & Kleben – und nichts machte das Basteln von Einladungen, Collagen und Kinderquatsch lustiger als das anarchische „Schnippelbuch“: Tausende kleiner Bilder in einem Wälzer, den man mit der Schere traktieren durfte. Man darf es immer noch: Ein zweiter Band wurde 2015 neu aufgelegt, inklusive einem Text von Christian Ude zum Urheberrecht. Schnippelbuch 2: Schwarz-weißes Bilderarchiv. 503 Seiten, 40 Euro. www.schnippelbuch.de.
Hilmar Klute
EIN LIEBESBEWEIS
Wo rührt unsere Italiensehnsucht her? Richtig: Goethe hat sie entfacht! Aber was für Tricks und Heimlichkeiten waren nötig, bis der für beinahe alles zuständige Geheime Rat sich vom Weimarer Fürstenhof stehlen und die Tour seines Lebens machen konnte. Fein ironisch und mit großer Kennerschaft erzählt Golo Maurer diese klassische Aussteigergeschichte als Blaupause für spätere Romfahrten. Ohne Goethes Flucht ins Zitronenland wären weder Rudolf Borchardt noch Ernst Robert Curtius Gelegenheitsrömer geworden, noch wäre Ingeborg Bachmann dort „zum Schauen erwacht“ und aus Rolf Dieter Brinkmanns Klassikerzorn („Man müsste es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden“) wäre nichts geworden.
Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst. Rowohlt. 539 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Pong ist wieder da. Er hat ein bisschen geschlafen, schlecht geträumt, und jetzt will eine Frau, die Pong bald „meine Johanna“ nennt, die Wohnung über ihm mieten. Sibylle Lewitscharoff, die große, höllenkomische Stilistin, hat ihren weltkritischen, in Fremdheit und Scheu verpuppten Helden zeitgerecht mit der „Corona-Mütze“ ausgestattet und in eine kleine, abgründige Liaison mit der grässlichen Wirklichkeit getrieben. Ein poetisches Kleinod – zauberhaft, komisch, anrührend.
Sibylle Lewitscharoff: Pong am Abgrund. Insel-Bücherei. 137 Seiten, 14 Euro.
Johanna Adorján
EINE HILFE
Helene Hegemann hat ein Buch geschrieben, das Patti Smith benutzt, um in Wahrheit von etwas ganz anderem zu erzählen. Es handelt von einer 13-Jährigen (ihr selbst), deren Mutter sich gerade totgesoffen hat und deren Vater sie zu Theaterproben mitnimmt, bei denen sie erkennt, welche Kühnheit, Kraft und Freiheit Kunst einem zu schenken vermag und welche Magie sich entfaltet, wenn man Ja zum Leben sagt.
Helene Hegemann: Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. KiWi Musikbibliothek. 112 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Nur weil jemand Johann Wolfgang von Goethe war, heißt das nicht, dass er nicht auch schlechte Gedichte geschrieben hat. Die schlechtesten (subjektive Auswahl des Herausgebers, aber sie sind wirklich sehr schlecht) sind nun in einem Band versammelt, okay, einem Bändchen, mit sehr schönen Illustrationen von Hauck & Bauer versehen.
Goethes schlechteste Gedichte. Mit Cartoons von Hauck & Bauer. Jung und Jung. 64 Seiten, 12 Euro.
Alex Rühle
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bov Bjergs Debütroman „Deadline“, der wegen eines Druckereibrandes verschollen war, in einer Neuauflage. Der Tod und die Eltern, die Sprache und die Unmöglichkeit, die richtigen Worte zu finden, alles im Kopf einer Übersetzerin, die aus Boston ins Schwäbische zurückkommt. Sperrig, dicht wie Lyrik und abgrundtief grotesk. Bov Bjerg: Deadline. Kanon. 176 Seiten, 22 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Wenn man dieses Buch durchhat, will man sofort zum Bahnhof, egal wohin, Hauptsache los: Jaroslav Rudiš’ „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ ist eine enthusiastische Liebeserklärung an die Eisenbahn, das Unterwegssein und die europäische Geschichte. Rudiš erzählt mit großer Fabulierlust von seiner tschechischen Eisenbahnerfamilie, den besten Speisewagen und den schönsten Nachtzügen – ein Vergnügen erster Klasse. Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Piper. 256 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Timothy Snyder veröffentlichte 2017 nach dem Trump-Schock „Über Tyrannei, 20 Lektionen für den Widerstand“, eine Verhaltenslehre für politisch schwere Zeiten und die Frage nach dem richtigen Leben und demokratischem Engagement. Nora Krug hat diese Thesen nun mit großartigen Illustrationen, Fotocollagen und Comicpassagen angereichert. Timothy Snyder: Über Tyrannei. Illustriert von Nora Krug. C.H. Beck. 128 Seiten, 20 Euro.
David Steinitz
EIN LIEBESBEWEIS
Der Trost, den große Romane spenden, weil man mit dem Menschsein nicht mehr ganz so allein ist, findet sich in Jonathan Franzens „Crossroads“ in Hülle und Fülle. Ein Epos über eine Pastorenfamilie im Chicago der Siebzigerjahre. Über Geschwisterbande, Elternliebe, Einsamkeit, Obsessionen und Liebeskummer. So schnell und so gierig hat man lange keinen 800-Seiter mehr verschlungen.
Jonathan Franzen: Crossroads. Rowohlt. 832 Seiten, 28 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Der Niederländer Chas Gerretsen war eigentlich Kriegsfotograf, er dokumentierte Vietnam und den Militärputsch in Chile. Als er genug von Gewalt und Gefahr hatte, ging er nach Hollywood, träumte von einem entspannten Leben als Setfotograf – und landete ausgerechnet bei Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Seine Bilder von den vermutlich wahnsinnigsten Dreharbeiten der Filmgeschichte lagen jahrzehntelang im Archiv. Jetzt hat der 78-Jährige sie in einem opulenten Bildband herausgegeben.
Chas Gerretsen: Apocalypse Now. The Lost Photo Archive. Prestel. 256 Seiten, 45 Euro.
Carolin Gasteiger
EINE WIEDERENTDECKUNG
In ihrem Erstlingswerk von 1931 schildert Gabriele Tergit, wie der Volkssänger Georg Käsebier im Berlin der Dreißigerjahre von heute auf morgen zum Star hochgeschrieben wird. Ein liebevoll-bissiger Blick auf die Zeitungsbranche, nicht nur für diejenigen, die zu ihr gehören. Pointiert geschrieben – und, wenn auch bereits vor neunzig Jahren erschienen, nach wie vor aktuell.
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Btb Verlag. 400 Seiten, 11 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Hart, rotzig, tiefgründig – das zweite Album der Rapperin Shirin David erwischt einen mit voller Wucht. Was die 26-Jährige auf „Bitches brauchen Rap“ abliefert, ist ein einziger treffsicherer, feministischer Kommentar. Da frage noch mal jemand, wer im Deutsch-Rap jetzt eigentlich was zu sagen hat.
Shirin David: Bitches brauchen Rap. Universal.
EINE HERAUSFORDERUNG
Achatz von Müller legt zu Dantes 700. Todestag dar, was der italienische Nationaldichter und Autor der „Divina Commedia“ mit unserer Moderne zu tun hat. Ein nicht immer einfacher, aber grandioser Abriss auf gut 200 Seiten, inklusive Ezra Pound und Hannah Arendt.
Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne. Wallstein. 222 Seiten, 22 Euro.
Christiane Lutz
EIN LIEBESBEWEIS
Diesen Roman sollte man wirklich nur ausgewählten Menschen schenken, weil er so berührend ist. Gut, dass wir hier unter uns sind: „Die Vögel“ von dem norwegischen Autor Tarjei Vesaas wurde schon 1957 veröffentlicht, der Guggolz-Verlag hat 2020 eine wunderbare Neuübersetzung herausgebracht. Der Roman betrachtet die Welt durch die Augen von Mattis, einem „Dussel“, wie ihn die anderen nennen. Mattis sieht den Himmel, die Schnepfen und findet das Glück an dem Tag, als er zwei Mädchen über den See rudert. Mattis ist pur in seiner Liebe zur Natur und zu seiner Schwester, und vielleicht ist Mattis der einzige, der klarsieht. Eine Geschichte, schlicht und überreich an Schönheit.
Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz Verlag. 276 Seiten, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wenn Menschen in die Natur eingreifen, um Probleme zu lösen, schaffen sie oft neue. Etwa südöstlich von New Orleans, wo der Kontinent nur noch aus ein paar Landzungen besteht. Dort bauten die Siedler einst Dämme gegen drohende Überflutung. Doch dadurch fehlte dem Boden der durchs Wasser angespülte Sand, so muss das Land dort heute künstlich und systematisch geflutet werden. Das Beispiel stammt aus einem Essay der Journalistin Elizabeth Kolbert. Eindrucksvoll und erschreckend logisch schlüsselt sie in „Under a White Sky“ das große Versagen des Menschen im Anthropozän auf.
Elizabeth Kolbert: Under a White Sky. Bodley Head. 256 Seiten, 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Krachts 'Dichtung und Wahrheit' (...) wird zu einem großen, heiteren Abenteuerroman, bestimmt dem herzlichsten, den es von Kracht bislang zu lesen gab.« Felix Stephan Süddeutsche Zeitung 20210304