In der Zeit zwischen den Weltkriegen geriet die Demokratie in die Krise. Kommunismus und Faschismus boten Modelle einer alternativen Moderne. Anders als der Niedergang des politischen Liberalismus vermuten lässt, gehören die damaligen intellektuellen Debatten über die Grundlagen der Demokratie zum essentiellen Bestand der politischen Theorie. Jens Hackes brillante ideengeschichtliche Studie führt vor Augen, wie seit den 1920er Jahren Ideen entwickelt wurden, die die Welt nach 1945 prägen sollten und im Lichte gegenwärtiger Krisenphänomene neue Aktualität beanspruchen: die Totalitarismustheorie, das Konzept der wehrhaften Demokratie und die Vorstellung von einem gezähmten Kapitalismus.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2018Wandel als Programm
Der Politikwissenschaftler Jens Hacke zeigt in einer sorgfältigen ideengeschichtlichen Studie,
was sich von den liberalen Denkern der Zwischenkriegszeit lernen lässt
VON DIRK LÜDDECKE
Wer gutes Klima schätze, könne ja den Himmel wählen, wer jedoch nach interessanter Gesellschaft suche, fahre besser zur Hölle. Mark Twains Empfehlung scheint auch lange Zeit für die Geschichtsschreibung politischer Ideen der Weimarer Republik gegolten zu haben. Das zeitgenössische Arsenal wilden antidemokratischen Denkens zog deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als die gar nicht so vereinzelten Verteidiger der liberalen Demokratie. Zumal mit dem Wissen um das schreckliche Ende schien es ein Leichtes zu sein, ihnen intellektuelle Schwäche und politische Wirkungslosigkeit nachzusagen im Vergleich zu dem Aufregenden und offenkundig Wirkungsvolleren, welches die radikalen Denker links wie rechts im politischen Spektrum zu bieten hatten. Sie nutzten die Modernitätskrisen dazu, sei es gedanklich, sei es gewaltsam, neue politische Räume zu erschließen und alternative Ordnungsmodelle zu propagieren.
Vor knapp sechzig Jahren habilitierte sich der spätere Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer mit einer Arbeit über das antidemokratische Denken der Weimarer Republik. Seit geraumer Zeit aber hat eine Umorientierung eingesetzt, die auch das demokratische Denken im „staatsrechtlichen Laboratorium Weimar“ (Kathrin Groh) besser ins Licht rückt. Dieses historische Interesse entwickelte sich etwa zur gleichen Zeit, in der die dritte Welle der Demokratisierungen nach 1990 abebbte und die Überzeugung von der unangefochtenen Überlegenheit der Demokratie in Europa zu erodieren begann.
Jens Hackes Buch, hervorgegangen aus seiner Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt Universität, ist eine exzellente Zusammenschau jenes politischen Denkens der Weimarer Republik, das sich die Verteidigung der liberalen Demokratie zum Ziel gesetzt hat. Es ist eine späte Ergänzung zu Sontheimers Klassiker.
Als sorgfältige ideenhistorische Studie ist es mit dieser Thematik zugleich unverkennbar ein Buch für die Gegenwart, in der die liberale Demokratie erneut in die Defensive gerät. Und das ist gelinde ausgedrückt, blickt man auf politische Neuerscheinungen der jüngeren Zeit, die Titel tragen wie: „Was auf dem Spiel steht“ (Philipp Blom), „Der Zerfall der Demokratie“ (Yascha Mounk), „How Democracy Ends“ (David Runciman) oder Wie Demokratien sterben (Steven Levitsky und Daniel Ziblatt).
Natürlich kommt auch Hacke nicht umhin die üblichen Verdächtigen der antidemokratischen und vor allem der verschärften antiparlamentarischen Polemik zu präsentieren. Denn die demokratischen Denker der Mitte trugen ihren intellektuellen Streit nicht nur untereinander aus, sondern auch mit den Vertretern extremer Positionen. Um vier Themenfelder hat Jens Hacke seine Darstellung geordnet. Da ist zunächst der prekäre Ausgangspunkt der Etablierung demokratischer Ordnung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einem drückenden Frieden.
Schwer wog das mitgeschleppte Erbe etwa in ökonomischer und politischer Hinsicht; schwer aber auch das gesellschaftliche Echo der Gewalt, wie es Hacke in seiner Darstellung mit Bezug auf einen seiner wichtigsten Protagonisten ausführt, den prominenten Nationalökonomen und Intellektuellen Moritz Julius Bonn. Dieser hat 1925 eine Abhandlung zur Krisis der europäischen Demokratie vorgelegt. Die Gewalterfahrung des Krieges habe sozialpsychologische Folgeschäden in der Nachkriegsgesellschaft hinterlassen und zur Verrohung der politischen Kultur geführt.
Da ist zweitens die Begründung einer „wehrhaften“ parlamentarischen Demokratie angesichts einer kaum ausgeprägten parlamentarischen Tradition. Der Historiker Peter Gay nannte die Weimarer Republik einmal „eine Idee auf der Suche nach ihrer Verwirklichung“. Derart im Provisorischen sich haltend, waren Stabilität oder die Vorstellung einer „militant democracy“, wie sie der Jurist Karl Loewenstein entwickelte, Ziele, die „noch gar nicht in Reichweite“ zu sein schienen.
Und so zeigte drittens auch die liberale Auseinandersetzung speziell mit dem Feind von rechts und der Ideologie des Faschismus ein notorisches Defizit. Mochten die Liberalen auch faschistische Ideenlosigkeit oder inhaltliche Inkohärenz diagnostizieren oder die Brutalität und „illegalen Methoden der Herrschaftsetablierung“ anprangern – intellektuelle Überlegenheit allein, darauf verweist Hacke zu Recht, ergibt noch keine politische Strategie der wirksamen Eindämmung. Ein heutiges Echo und eine Fortsetzung findet die liberale Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Buch der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright „Faschismus. Eine Warnung“.
Schließlich erörtert Hacke die liberale Reformdiskussion zur Einhegung des Kapitalismus. Insbesondere mit diesem vierten Aspekt werden auch längerfristige strukturelle und sozio-ökonomische Bedingungen benannt, die die Etablierung parlamentarisch-demokratischer Ordnungsformen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit erschwert haben. Sie lassen sich allgemein unter dem Stichwort einer Modernitätskrise fassen, die psychopolitisch durch Symptome der Komplexitätsverweigerung auffällt. Im Kontext gegenwärtiger Krisendiskurse und der populistischen Herausforderung liberaler Demokratien klingt das recht vertraut.
Auch die liberale Selbstkritik wird verhandelt, und das ist gut so. Denn einerseits erwiesen sich liberale Autoren in ihrer Furcht vor der „Massendemokratie“ selbst als gefährlich empfänglich für autoritäre Lösungen, anderseits liegt in solcher liberalen Selbstkritik ein hoffnungsgeleitetes Motiv: Es gibt etwas, das liberale Demokratien besser können als die Freunde des durchsetzungsstarken Autoritären oder die Protagonisten der illiberalen Demokratie. Obgleich es ihnen kurzfristig den Anschein von Schwäche gibt, begründet es die mittelfristige Stärke liberaler Demokratien: Selbstkritik üben und dadurch Anschlussfähigkeit einüben an neue politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen.
Wechsel der Regierenden bedeutet keine Legitimitätskrise, Kompromissfähigkeit kein fehlendes Rückgrat, Neues erhält eine Chance und der Wandel wird zum politischen Programm. Das Moment der Selbstverbesserung und Reformbereitschaft, so Hacke, sei einer liberalen politischen Ordnung eingeschrieben. Das heißt indes nicht, dass jeder Problemstau auch rechtzeitig erkannt und aufgelöst wird. Hackes Hauptvorwurf gegen den mit viel Sympathie und wohlformuliert präsentierten Liberalismus der Zwischenkriegszeit lautet denn auch, sein Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie nicht ausreichend geklärt zu haben und seine ökonomische Krisendiagnose des Kapitalismus nicht durch gesellschaftstheoretische Analysen geschärft sowie um sozialpolitische Reformen ergänzt zu haben. Anders gesagt, war der Liberalismus zu zögerlich darin, sozialdemokratische Reflexionen und Programmatik „in einen liberalen Diskurs einzugemeinden“.
Ideengeschichtlich sensibel sollen aus der Weimarer Erfahrung einerseits zwar keine unmittelbaren Parallelen zur Gegenwart gezogen und schon gar keine politischen Patentrezepte abgeleitet werden. Andererseits ist es doch auch zum Verzweifeln: Zwar wandeln sich die Herausforderungen liberaler Demokratien mit der Zeit erheblich. Waren es in Weimar traumatische Nachkriegserfahrungen und Gewaltbereitschaft, Weltwirtschaftskrise und eine traditionell zu wenig gefestigte parlamentarische Demokratie mit verfassungsrechtlichen Webfehlern, so sind es gegenwärtig Globalisierung und Migration, Europäisierung und Individualisierung sowie ein technisch-revolutionärer Strukturumbruch der Öffentlichkeit durch soziale Medien und Internetkonzerne.
Wie verschieden die Herausforderungen aber auch sein mögen, die antiliberalen Antworten scheinen, erbärmlich wie sie sind, immer dieselben zu bleiben: Homogenisierungsdruck und nationaler Eigensinn, gesellschaftliche Entdifferenzierung, Aushöhlung von Gewaltenteilung, Abbau individueller Bürgerrechte, ökonomische Abschottung und nicht zuletzt eine Neigung zu autoritären Herrschaftsformen, gespeist aus der Verachtung für Parteien und die mitunter schwierigen Prozeduren parlamentarischer Demokratie. Sie werden als Antworten auf gegenwärtige Herausforderungen auch nicht besser, als sie es in der Weimarer Republik waren.
Man könnte noch einmal an einen Satz Mark Twains denken: Geschichte wiederhole sich zwar nicht, aber sie reime sich. Und so gibt es über die Zeit hinweg doch mehr als ein fabula docet. Die Debatten der Zwischenkriegszeit, so Hacke, hätten etwa den demokratischen Staat als Akteur mit hoher sozialer Verantwortung und einem hoch eingeschätzten Gestaltungsspielraum hervortreten lassen. Liberalismus plus Sozialdemokratie also.
Allerdings scheint auch der hier gewiesene Ausweg in die Gefahr politischer Überforderung zu führen. Mehr zu versprechen, als Politik zu halten imstande ist, führt zu Enttäuschungen und in nicht wenigen Fällen zum antiparlamentarischen Ressentiment – auch das ist eine Erkenntnis, die Jens Hacke aus der Erfahrung mit dem liberalen demokratischen Denken Weimars gezogen hat: Der als sozialer Leistungsträger erhoffte Staat habe sich angesichts einer ausbleibenden wirtschaftlichen Konsolidierung zum Sündenbock gewandelt.
Jens Hacke hat ein kluges Buch zur politischen Ideengeschichte der liberalen Demokratie geschrieben und dadurch ein unbedingt lesenswertes zur antidemokratischen und illiberalen Bedrohung der Gegenwart.
Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 455 Seiten, 26 Euro.
Dirk Lüddecke lehrt Politische Theorie an der Universität der Bundeswehr in München.
Intellektuelle Überlegenheit
ergibt noch keine politische
Strategie gegen Extremisten
Vieles klingt heute, im Kontext der
populistischen Herausforderung,
sehr vertraut
Die antiliberalen Antworten
scheinen in ihrer Erbärmlichkeit
immer dieselben zu bleiben
Geschäftsleute vor der Berliner Börse, die wegen der Bankenkrise 1931 für mehrere Monate geschlossen wurde.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/scherl
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Der Politikwissenschaftler Jens Hacke zeigt in einer sorgfältigen ideengeschichtlichen Studie,
was sich von den liberalen Denkern der Zwischenkriegszeit lernen lässt
VON DIRK LÜDDECKE
Wer gutes Klima schätze, könne ja den Himmel wählen, wer jedoch nach interessanter Gesellschaft suche, fahre besser zur Hölle. Mark Twains Empfehlung scheint auch lange Zeit für die Geschichtsschreibung politischer Ideen der Weimarer Republik gegolten zu haben. Das zeitgenössische Arsenal wilden antidemokratischen Denkens zog deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als die gar nicht so vereinzelten Verteidiger der liberalen Demokratie. Zumal mit dem Wissen um das schreckliche Ende schien es ein Leichtes zu sein, ihnen intellektuelle Schwäche und politische Wirkungslosigkeit nachzusagen im Vergleich zu dem Aufregenden und offenkundig Wirkungsvolleren, welches die radikalen Denker links wie rechts im politischen Spektrum zu bieten hatten. Sie nutzten die Modernitätskrisen dazu, sei es gedanklich, sei es gewaltsam, neue politische Räume zu erschließen und alternative Ordnungsmodelle zu propagieren.
Vor knapp sechzig Jahren habilitierte sich der spätere Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer mit einer Arbeit über das antidemokratische Denken der Weimarer Republik. Seit geraumer Zeit aber hat eine Umorientierung eingesetzt, die auch das demokratische Denken im „staatsrechtlichen Laboratorium Weimar“ (Kathrin Groh) besser ins Licht rückt. Dieses historische Interesse entwickelte sich etwa zur gleichen Zeit, in der die dritte Welle der Demokratisierungen nach 1990 abebbte und die Überzeugung von der unangefochtenen Überlegenheit der Demokratie in Europa zu erodieren begann.
Jens Hackes Buch, hervorgegangen aus seiner Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt Universität, ist eine exzellente Zusammenschau jenes politischen Denkens der Weimarer Republik, das sich die Verteidigung der liberalen Demokratie zum Ziel gesetzt hat. Es ist eine späte Ergänzung zu Sontheimers Klassiker.
Als sorgfältige ideenhistorische Studie ist es mit dieser Thematik zugleich unverkennbar ein Buch für die Gegenwart, in der die liberale Demokratie erneut in die Defensive gerät. Und das ist gelinde ausgedrückt, blickt man auf politische Neuerscheinungen der jüngeren Zeit, die Titel tragen wie: „Was auf dem Spiel steht“ (Philipp Blom), „Der Zerfall der Demokratie“ (Yascha Mounk), „How Democracy Ends“ (David Runciman) oder Wie Demokratien sterben (Steven Levitsky und Daniel Ziblatt).
Natürlich kommt auch Hacke nicht umhin die üblichen Verdächtigen der antidemokratischen und vor allem der verschärften antiparlamentarischen Polemik zu präsentieren. Denn die demokratischen Denker der Mitte trugen ihren intellektuellen Streit nicht nur untereinander aus, sondern auch mit den Vertretern extremer Positionen. Um vier Themenfelder hat Jens Hacke seine Darstellung geordnet. Da ist zunächst der prekäre Ausgangspunkt der Etablierung demokratischer Ordnung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einem drückenden Frieden.
Schwer wog das mitgeschleppte Erbe etwa in ökonomischer und politischer Hinsicht; schwer aber auch das gesellschaftliche Echo der Gewalt, wie es Hacke in seiner Darstellung mit Bezug auf einen seiner wichtigsten Protagonisten ausführt, den prominenten Nationalökonomen und Intellektuellen Moritz Julius Bonn. Dieser hat 1925 eine Abhandlung zur Krisis der europäischen Demokratie vorgelegt. Die Gewalterfahrung des Krieges habe sozialpsychologische Folgeschäden in der Nachkriegsgesellschaft hinterlassen und zur Verrohung der politischen Kultur geführt.
Da ist zweitens die Begründung einer „wehrhaften“ parlamentarischen Demokratie angesichts einer kaum ausgeprägten parlamentarischen Tradition. Der Historiker Peter Gay nannte die Weimarer Republik einmal „eine Idee auf der Suche nach ihrer Verwirklichung“. Derart im Provisorischen sich haltend, waren Stabilität oder die Vorstellung einer „militant democracy“, wie sie der Jurist Karl Loewenstein entwickelte, Ziele, die „noch gar nicht in Reichweite“ zu sein schienen.
Und so zeigte drittens auch die liberale Auseinandersetzung speziell mit dem Feind von rechts und der Ideologie des Faschismus ein notorisches Defizit. Mochten die Liberalen auch faschistische Ideenlosigkeit oder inhaltliche Inkohärenz diagnostizieren oder die Brutalität und „illegalen Methoden der Herrschaftsetablierung“ anprangern – intellektuelle Überlegenheit allein, darauf verweist Hacke zu Recht, ergibt noch keine politische Strategie der wirksamen Eindämmung. Ein heutiges Echo und eine Fortsetzung findet die liberale Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Buch der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright „Faschismus. Eine Warnung“.
Schließlich erörtert Hacke die liberale Reformdiskussion zur Einhegung des Kapitalismus. Insbesondere mit diesem vierten Aspekt werden auch längerfristige strukturelle und sozio-ökonomische Bedingungen benannt, die die Etablierung parlamentarisch-demokratischer Ordnungsformen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit erschwert haben. Sie lassen sich allgemein unter dem Stichwort einer Modernitätskrise fassen, die psychopolitisch durch Symptome der Komplexitätsverweigerung auffällt. Im Kontext gegenwärtiger Krisendiskurse und der populistischen Herausforderung liberaler Demokratien klingt das recht vertraut.
Auch die liberale Selbstkritik wird verhandelt, und das ist gut so. Denn einerseits erwiesen sich liberale Autoren in ihrer Furcht vor der „Massendemokratie“ selbst als gefährlich empfänglich für autoritäre Lösungen, anderseits liegt in solcher liberalen Selbstkritik ein hoffnungsgeleitetes Motiv: Es gibt etwas, das liberale Demokratien besser können als die Freunde des durchsetzungsstarken Autoritären oder die Protagonisten der illiberalen Demokratie. Obgleich es ihnen kurzfristig den Anschein von Schwäche gibt, begründet es die mittelfristige Stärke liberaler Demokratien: Selbstkritik üben und dadurch Anschlussfähigkeit einüben an neue politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen.
Wechsel der Regierenden bedeutet keine Legitimitätskrise, Kompromissfähigkeit kein fehlendes Rückgrat, Neues erhält eine Chance und der Wandel wird zum politischen Programm. Das Moment der Selbstverbesserung und Reformbereitschaft, so Hacke, sei einer liberalen politischen Ordnung eingeschrieben. Das heißt indes nicht, dass jeder Problemstau auch rechtzeitig erkannt und aufgelöst wird. Hackes Hauptvorwurf gegen den mit viel Sympathie und wohlformuliert präsentierten Liberalismus der Zwischenkriegszeit lautet denn auch, sein Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie nicht ausreichend geklärt zu haben und seine ökonomische Krisendiagnose des Kapitalismus nicht durch gesellschaftstheoretische Analysen geschärft sowie um sozialpolitische Reformen ergänzt zu haben. Anders gesagt, war der Liberalismus zu zögerlich darin, sozialdemokratische Reflexionen und Programmatik „in einen liberalen Diskurs einzugemeinden“.
Ideengeschichtlich sensibel sollen aus der Weimarer Erfahrung einerseits zwar keine unmittelbaren Parallelen zur Gegenwart gezogen und schon gar keine politischen Patentrezepte abgeleitet werden. Andererseits ist es doch auch zum Verzweifeln: Zwar wandeln sich die Herausforderungen liberaler Demokratien mit der Zeit erheblich. Waren es in Weimar traumatische Nachkriegserfahrungen und Gewaltbereitschaft, Weltwirtschaftskrise und eine traditionell zu wenig gefestigte parlamentarische Demokratie mit verfassungsrechtlichen Webfehlern, so sind es gegenwärtig Globalisierung und Migration, Europäisierung und Individualisierung sowie ein technisch-revolutionärer Strukturumbruch der Öffentlichkeit durch soziale Medien und Internetkonzerne.
Wie verschieden die Herausforderungen aber auch sein mögen, die antiliberalen Antworten scheinen, erbärmlich wie sie sind, immer dieselben zu bleiben: Homogenisierungsdruck und nationaler Eigensinn, gesellschaftliche Entdifferenzierung, Aushöhlung von Gewaltenteilung, Abbau individueller Bürgerrechte, ökonomische Abschottung und nicht zuletzt eine Neigung zu autoritären Herrschaftsformen, gespeist aus der Verachtung für Parteien und die mitunter schwierigen Prozeduren parlamentarischer Demokratie. Sie werden als Antworten auf gegenwärtige Herausforderungen auch nicht besser, als sie es in der Weimarer Republik waren.
Man könnte noch einmal an einen Satz Mark Twains denken: Geschichte wiederhole sich zwar nicht, aber sie reime sich. Und so gibt es über die Zeit hinweg doch mehr als ein fabula docet. Die Debatten der Zwischenkriegszeit, so Hacke, hätten etwa den demokratischen Staat als Akteur mit hoher sozialer Verantwortung und einem hoch eingeschätzten Gestaltungsspielraum hervortreten lassen. Liberalismus plus Sozialdemokratie also.
Allerdings scheint auch der hier gewiesene Ausweg in die Gefahr politischer Überforderung zu führen. Mehr zu versprechen, als Politik zu halten imstande ist, führt zu Enttäuschungen und in nicht wenigen Fällen zum antiparlamentarischen Ressentiment – auch das ist eine Erkenntnis, die Jens Hacke aus der Erfahrung mit dem liberalen demokratischen Denken Weimars gezogen hat: Der als sozialer Leistungsträger erhoffte Staat habe sich angesichts einer ausbleibenden wirtschaftlichen Konsolidierung zum Sündenbock gewandelt.
Jens Hacke hat ein kluges Buch zur politischen Ideengeschichte der liberalen Demokratie geschrieben und dadurch ein unbedingt lesenswertes zur antidemokratischen und illiberalen Bedrohung der Gegenwart.
Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 455 Seiten, 26 Euro.
Dirk Lüddecke lehrt Politische Theorie an der Universität der Bundeswehr in München.
Intellektuelle Überlegenheit
ergibt noch keine politische
Strategie gegen Extremisten
Vieles klingt heute, im Kontext der
populistischen Herausforderung,
sehr vertraut
Die antiliberalen Antworten
scheinen in ihrer Erbärmlichkeit
immer dieselben zu bleiben
Geschäftsleute vor der Berliner Börse, die wegen der Bankenkrise 1931 für mehrere Monate geschlossen wurde.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/scherl
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2018Sie legten das Bekenntnis zur Demokratie ab
Individuelle Freiheit und politische Ordnung: Jens Hacke würdigt die liberalen Denker der Weimarer Republik
Eine Besonderheit der deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts besteht darin, dass es in ihr keine Phase gibt, die man als Regierungszeit des Liberalismus bezeichnen könnte. Auch das Zweckbündnis Bismarcks mit den Liberalen zerbrach, ehe sie sich darüber verständigen konnten, was es bedeutete, im Besitz der Macht zu sein.
Der Politikwissenschaftler Jens Hacke formuliert das in seiner höchst lesenswerten Untersuchung über die politische Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit so: "Es hatte die klassische bürgerliche Demokratie in Deutschland bis dato gar nicht gegeben, allenfalls demokratische Elemente; trotzdem galt die Weimarer Republik bereits als demokratische Staatsform einer postbürgerlichen Epoche." Was für den politischen Liberalismus eine folgenreiche Belastung war, begründet zugleich eine eigentümliche theoretische Spannung, von der das Buch lebt. Schließlich sollte eine politische Theorie in der Opposition halbwegs systematisch ausfallen. Den englischen Pragmatismus hat der deutsche Liberalismus immer bewundert, aber selbst nie erreicht.
Dass dieses Kapitel der politischen Ideengeschichte Deutschlands vergleichsweise vergessen war, ist im Grunde verblüffend. Denn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs machte der Liberalismus eine ganz ähnliche Erfahrung wie der Konservativismus: Er verlor die Wirklichkeiten, auf die er sich zu beziehen pflegte. Den Liberalismus trafen die Zäsuren der Jahre 1914 und 1918, wie Hacke zeigt, sogar besonders hart: Das allgemeine Wahlrecht erledigte den Liberalismus als Legitimationsideologie einer bürgerlichen Klassenherrschaft und zwang seine Verfechter, ihre Affekte gegen die Massendemokratie zu überdenken.
Die staatliche Wirtschaftslenkung der Kriegs- und Nachkriegszeit und die stetig expandierende Sozialpolitik demonstrierten die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von staatlicher Intervention. Die staatliche Wirtschaftslenkung der Kriegs- und Nachkriegszeit, die stetig expandierende Sozialpolitik und die faktische Aufhebung des Goldstandards demonstrierten die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von staatlicher Intervention. Die Erfahrungswelt des Jahres 1918 besaß wenig liberale Evidenz.
Der Zufall wollte es dann, dass die liberalen Heroen der Weimarer Gründungsjahre ohne Ausnahme früh starben: Max Weber ebenso wie der Verfassungsvater Hugo Preuß, Ernst Troeltsch, Walther Rathenau und Gustav Stresemann. Mitte der zwanziger Jahre wird die Geschichte, die Hacke erzählt, deshalb kleinteiliger, aber gerade darum originell. Manchen Denker holt Hacke überhaupt erst aus dem Schatten der großen fünf heraus.
Das gilt etwa für Karl Loewenstein und seine bahnbrechenden Überlegungen zur "wehrhaften Demokratie" oder die frühen Analysen der faschistischen Herrschaftstechnik und des Korporatismus der deutschen Volkswirtschaft durch Moritz Julius Bonn, in gewisser Weise Hackes Schlüsselautor.
Die Hegemonie des Antiliberalismus machte die liberalen Denker zu scharfsinnigen Beobachtern ihrer Zeit. Doch Hacke schreibt dem Liberalismus zwischen den Kriegen zugleich eine bedeutende theoriegeschichtliche Leistung zu. Sie bestand darin, das Prinzip der individuellen Freiheit mit den Institutionen der Weimarer Demokratie zusammenzudenken. Liberalismus sollte sich nicht mehr in Eigentumsschutz und Gesetzmäßigkeit erschöpfen, sondern im Kern liberale Demokratie sein. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg lange keine Liberalen mehr gab, die die parlamentarische Demokratie nicht akzeptierten, war demnach eine Errungenschaft der Zwischenkriegszeit und nicht erst, wie man es ein ums andere Mal erzählt hat, Folge der NS-Zeit.
Als eine theoretische Leistung wird man diese Entwicklung allerdings nur bedingt würdigen können. Dass individuelle Freiheit und politische Ordnung nur über vernünftige Institutionen dauerhaft vermittelt werden können, war den englischen und französischen Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts recht geläufig. Ökonomische ohne politische Freiheit war vielmehr das höchst spezielle Arrangement des deutschen liberalen Bürgertums mit dem Kaiserreich. Diese fragwürdige Vorgeschichte des deutschen Liberalismus kommt bei Hacke in ihrer langfristigen Bedeutung vielleicht etwas zu kurz.
Die Frage ist aber: Trägt der ausgebreitete Quellenbefund eigentlich die These? Das Beharren auf Ausgleich, Kompromiss und Verfahren ist noch keine Theorie des Parlamentarismus im Wohlfahrtsstaat und in der Massendemokratie. Eine präzise Konzeption von parlamentarischer Herrschaft besaß von Hackes Autoren vor allem Max Weber, der dann aber überraschend schlecht wegkommt. Außerdem der Staatsrechtslehrer Richard Thoma, der Webers Theorie parlamentarischer Herrschaft in eine bis heute faszinierende Interpretation des Weimarer Regierungsgefüges goss.
Dagegen stand der Staatsrechtler Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen und politischen Schriften der zwanziger Jahre zwar sicherlich "dem heutigen Verständnis einer pluralistischen Parteiendemokratie mit parlamentarischem Repräsentativsystem am nächsten", doch stand auch er für eine Verfassungsordnung, die jenseits der Weimarer Institutionen lag.
Politische Ideologien entwickeln an ihrer eigenen Geschichte vornehmlich in Phasen der Schwäche Interesse. Hacke will sein Buch, eine Gegenerzählung zu der inzwischen sehr intensiv erforschten Geschichte des politischen Extremismus in der Zwischenkriegszeit, explizit als Beitrag zur theoretischen Erneuerung des Liberalismus verstanden wissen. Doch während der Rechts- und Linksradikalismus mit Theoremen der Zwischenkriegszeit immer noch üppige Erträge erwirtschaftet, ist das in diesem Fall schwieriger.
Ob die Ideengeschichte zur Erneuerung politischer Ideologien überhaupt etwas Ernsthaftes beitragen kann, sei dahingestellt. Vor allem aber ist die Situation des Weimarer Liberalismus mit der des heutigen nicht vergleichbar: Denn Ersterer hatte den Liberalismus des Kalten Krieges - das heißt: den Prozess der Liberalisierung der westlichen Gesellschaften - noch vor sich.
FLORIAN MEINEL
Jens Hacke: "Existenzkrise der Demokratie". Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2018.
455 S., br., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Individuelle Freiheit und politische Ordnung: Jens Hacke würdigt die liberalen Denker der Weimarer Republik
Eine Besonderheit der deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts besteht darin, dass es in ihr keine Phase gibt, die man als Regierungszeit des Liberalismus bezeichnen könnte. Auch das Zweckbündnis Bismarcks mit den Liberalen zerbrach, ehe sie sich darüber verständigen konnten, was es bedeutete, im Besitz der Macht zu sein.
Der Politikwissenschaftler Jens Hacke formuliert das in seiner höchst lesenswerten Untersuchung über die politische Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit so: "Es hatte die klassische bürgerliche Demokratie in Deutschland bis dato gar nicht gegeben, allenfalls demokratische Elemente; trotzdem galt die Weimarer Republik bereits als demokratische Staatsform einer postbürgerlichen Epoche." Was für den politischen Liberalismus eine folgenreiche Belastung war, begründet zugleich eine eigentümliche theoretische Spannung, von der das Buch lebt. Schließlich sollte eine politische Theorie in der Opposition halbwegs systematisch ausfallen. Den englischen Pragmatismus hat der deutsche Liberalismus immer bewundert, aber selbst nie erreicht.
Dass dieses Kapitel der politischen Ideengeschichte Deutschlands vergleichsweise vergessen war, ist im Grunde verblüffend. Denn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs machte der Liberalismus eine ganz ähnliche Erfahrung wie der Konservativismus: Er verlor die Wirklichkeiten, auf die er sich zu beziehen pflegte. Den Liberalismus trafen die Zäsuren der Jahre 1914 und 1918, wie Hacke zeigt, sogar besonders hart: Das allgemeine Wahlrecht erledigte den Liberalismus als Legitimationsideologie einer bürgerlichen Klassenherrschaft und zwang seine Verfechter, ihre Affekte gegen die Massendemokratie zu überdenken.
Die staatliche Wirtschaftslenkung der Kriegs- und Nachkriegszeit und die stetig expandierende Sozialpolitik demonstrierten die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von staatlicher Intervention. Die staatliche Wirtschaftslenkung der Kriegs- und Nachkriegszeit, die stetig expandierende Sozialpolitik und die faktische Aufhebung des Goldstandards demonstrierten die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von staatlicher Intervention. Die Erfahrungswelt des Jahres 1918 besaß wenig liberale Evidenz.
Der Zufall wollte es dann, dass die liberalen Heroen der Weimarer Gründungsjahre ohne Ausnahme früh starben: Max Weber ebenso wie der Verfassungsvater Hugo Preuß, Ernst Troeltsch, Walther Rathenau und Gustav Stresemann. Mitte der zwanziger Jahre wird die Geschichte, die Hacke erzählt, deshalb kleinteiliger, aber gerade darum originell. Manchen Denker holt Hacke überhaupt erst aus dem Schatten der großen fünf heraus.
Das gilt etwa für Karl Loewenstein und seine bahnbrechenden Überlegungen zur "wehrhaften Demokratie" oder die frühen Analysen der faschistischen Herrschaftstechnik und des Korporatismus der deutschen Volkswirtschaft durch Moritz Julius Bonn, in gewisser Weise Hackes Schlüsselautor.
Die Hegemonie des Antiliberalismus machte die liberalen Denker zu scharfsinnigen Beobachtern ihrer Zeit. Doch Hacke schreibt dem Liberalismus zwischen den Kriegen zugleich eine bedeutende theoriegeschichtliche Leistung zu. Sie bestand darin, das Prinzip der individuellen Freiheit mit den Institutionen der Weimarer Demokratie zusammenzudenken. Liberalismus sollte sich nicht mehr in Eigentumsschutz und Gesetzmäßigkeit erschöpfen, sondern im Kern liberale Demokratie sein. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg lange keine Liberalen mehr gab, die die parlamentarische Demokratie nicht akzeptierten, war demnach eine Errungenschaft der Zwischenkriegszeit und nicht erst, wie man es ein ums andere Mal erzählt hat, Folge der NS-Zeit.
Als eine theoretische Leistung wird man diese Entwicklung allerdings nur bedingt würdigen können. Dass individuelle Freiheit und politische Ordnung nur über vernünftige Institutionen dauerhaft vermittelt werden können, war den englischen und französischen Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts recht geläufig. Ökonomische ohne politische Freiheit war vielmehr das höchst spezielle Arrangement des deutschen liberalen Bürgertums mit dem Kaiserreich. Diese fragwürdige Vorgeschichte des deutschen Liberalismus kommt bei Hacke in ihrer langfristigen Bedeutung vielleicht etwas zu kurz.
Die Frage ist aber: Trägt der ausgebreitete Quellenbefund eigentlich die These? Das Beharren auf Ausgleich, Kompromiss und Verfahren ist noch keine Theorie des Parlamentarismus im Wohlfahrtsstaat und in der Massendemokratie. Eine präzise Konzeption von parlamentarischer Herrschaft besaß von Hackes Autoren vor allem Max Weber, der dann aber überraschend schlecht wegkommt. Außerdem der Staatsrechtslehrer Richard Thoma, der Webers Theorie parlamentarischer Herrschaft in eine bis heute faszinierende Interpretation des Weimarer Regierungsgefüges goss.
Dagegen stand der Staatsrechtler Hans Kelsen in seinen demokratietheoretischen und politischen Schriften der zwanziger Jahre zwar sicherlich "dem heutigen Verständnis einer pluralistischen Parteiendemokratie mit parlamentarischem Repräsentativsystem am nächsten", doch stand auch er für eine Verfassungsordnung, die jenseits der Weimarer Institutionen lag.
Politische Ideologien entwickeln an ihrer eigenen Geschichte vornehmlich in Phasen der Schwäche Interesse. Hacke will sein Buch, eine Gegenerzählung zu der inzwischen sehr intensiv erforschten Geschichte des politischen Extremismus in der Zwischenkriegszeit, explizit als Beitrag zur theoretischen Erneuerung des Liberalismus verstanden wissen. Doch während der Rechts- und Linksradikalismus mit Theoremen der Zwischenkriegszeit immer noch üppige Erträge erwirtschaftet, ist das in diesem Fall schwieriger.
Ob die Ideengeschichte zur Erneuerung politischer Ideologien überhaupt etwas Ernsthaftes beitragen kann, sei dahingestellt. Vor allem aber ist die Situation des Weimarer Liberalismus mit der des heutigen nicht vergleichbar: Denn Ersterer hatte den Liberalismus des Kalten Krieges - das heißt: den Prozess der Liberalisierung der westlichen Gesellschaften - noch vor sich.
FLORIAN MEINEL
Jens Hacke: "Existenzkrise der Demokratie". Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2018.
455 S., br., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Florian Meinel hat Jens Hackes Studie zum Liberalismus in den Zwischenkriegsjahren mit Gewinn gelesen. Schon dass der Politikwissenschaftler ein fast vergessenes Kapitel der politischen Ideengeschichte Deutschlands beleuchtet, rechnet ihm der Kritiker hoch an. Vor allem aber lobt er, wie anschaulich ihm Hacke den Mangel an liberaler Evidenz darlegt, denn auf das Kaiserreich folgt gleich eine das Bürgertum verschreckende "Massendemokratie". Dass die liberalen Theoretiker der Weimarer Republik - Max Weber, Hugo Preuß, Ernst Toreltsch - aus einer Position der Schwäche heraus ihre scharfsinnigen Analysen verfassten, macht Hacke dem Rezensenten klar, auch dass ihre Konzepte der wehrhaften Demokratie und der liberalen Demokratie die Nachkriegszeit prägte. Mit Interesse liest Meinel zudem Hackes Exkurse zu weniger bekannten, aber originellen Denkern wie Karl Loewenstein oder Moritz Julius Bonn. Die Vorgeschichte des deutschen Liberalismus kommt dem Kritiker indes ein klein wenig zu kurz.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Die Ideengeschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert hält auch nach Hackes Studie keine Patentrezepte bereit, wie man mit Krisen umgehen könnte und welches die geeigneten Massnahmen sein könnten, um Gefährdungen der liberalen Demokratie zu begegnen. Daher führt ihr hier geschildertes Schicksal in der Zwischenkriegszeit umso stärker vor Augen, dass die Kontingenz von Krisendynamiken, aus denen neue Bedrohungen erwachsen können, nie unterschätzt werden sollte.« Thomas Speckmann Neue Zürcher Zeitung 20180815