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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Stefanie Arndt berichtet über ihre Forschung in den Polargebieten und erklärt deren Rolle im Klimawandel
Leser von Stefanie Arndts Buch über ihre "Expeditionen in eine schwindende Welt" werden immer wieder ein schlechtes Gewissen bekommen, sich aber bereitwillig und ohne Groll als Klimasünder enttarnen lassen. Die am Alfred-Wegener-Institut angestellte Meereisphysikerin hat nämlich gar nicht erst versucht, eine Gebrauchsanweisung des Typs "Was wir jetzt unternehmen müssen" zu schreiben. Sie verzichtet auf Anklagen und spart sich den in Abhandlungen zur Lage der Welt nicht unüblichen Gängelungston. Lieber liefert sie Fakten: Für jedes neue T-Shirt, das wir uns zulegen, fallen zum Beispiel vier Kilo an Treibhausgasen an. Etwa 0,2 Gramm Kohlendioxid verursacht eine Google-Suche. Täglich verschicken wir eine Milliarde E-Mails in Deutschland, was einen Ausstoß von tausend Tonnen CO2 nach sich zieht.
Rein rechnerisch ist jeder Bundesbürger dafür verantwortlich, dass jährlich 23,4 Quadratmeter Meereis schmelzen. Durchaus überschaubar, aber bei 83 Millionen Menschen ergibt das eine Fläche, die so groß ist wie 272 000 Fußballfelder. Keine andere Gegend der Welt ist vom Klimawandel stärker betroffen als die Polargebiete. Arndt zufolge zeigen Klimamodelle in genau diesen Regionen allerdings zugleich "die größten Unsicherheiten". Die Landmasse der Antarktis - übrigens der kälteste und trockenste Ort der Welt - umfasst rund 13,5 Millionen Quadratkilometer. Daran schließt sich das Eis des Südpolarmeers an. Zwischen 1979 und 1990 hat die Antarktis jedes Jahr vierzig Milliarden Tonnen davon eingebüßt. Seit 2009 sind es jährlich 252 Milliarden Tonnen.
In vier Teilen erläutert Arndt nicht nur, warum es unter Polarforschern inzwischen als ausgemacht gilt, dass die Arktis bis September 2050 mindestens einmal fast eisfrei sein wird, wieso das Meer langsam versauert und was den Pinguinen im Süden und Eisbären im Norden bevorsteht. Sie erinnert auch an Erich von Drygalski, der die erste deutsche Expedition in die Antarktis leitete, Fridtjof Nansen, der sich drei Jahre lang durchs Eis der Arktis driften ließ, und Ernest Shackleton, der den antarktischen Kontinent durchquerte.
Zusammen mit ihrer Ko-Autorin Andy Hartard präsentiert sie außerdem einen Erlebnisbericht von der Feldforschungsfront: Wie arbeitet es sich eigentlich bei minus vierzig und gefühlten minus sechzig Grad? Welche Soundkulisse erwartet den Reisenden, der sich ins bald nicht mehr ewige Eis wagt? Und was geht einem so durch den Kopf, wenn man in einem Whiteout festsitzt und nicht mehr weiß, wo oben und unten ist? Dieses Wetterphänomen entsteht bei verhangenem Himmel, wenn es schneit oder der Wind den Schnee am Boden aufwirbelt.
Erzählendes Sachbuch, Zahlenreferat und Forschungsabriss greifen immer wieder ineinander, was auch einem Trend geschuldet sein dürfte, dessen Adepten allzu trockene Kost fürchten und nüchterne Erörterungen durch literarische oder doch wenigstens plaudernde Passagen veredelt sehen wollen. Auch im vorliegenden Fall ist die Bewertung der Register letztlich Geschmackssache. Gleichwohl zeigt sich die Autorin besonders stilsicher und konzentriert, sobald sie über wissenschaftliche Erkenntnisse schreibt und meteorologische Zusammenhänge erläutert.
Eines ihrer Forschungsgebiete ist die Schneedecke auf dem Eis der Ozeane. Deren Bedeutung ist deswegen immens, weil sie das "Meereis vor den vorherrschenden Veränderungen in der Atmosphäre schützt, aber auch zuerst genau darauf reagiert und damit einen Wandel für das darunter liegende Meereis einläutet". Eigentlich gibt es in Arktis und Antarktis verhältnismäßig wenig Niederschläge. Daten der vergangenen Jahre zeigen jedoch, dass der Wasserdampfanteil in beiden Regionen zunimmt - und mithin auch die Niederschlagsmenge. Grund dafür ist ein Temperaturanstieg in der Atmosphäre. Eine Kettenreaktion: Es wird wärmer, die Luft an den Polen kann mehr Wasserdampf aufnehmen, was wiederum den Treibhauseffekt fördert, wodurch es noch wärmer wird, sodass die Luft abermals mehr Wasserdampf speichert, was weitere Niederschläge verursacht.
Oder der Jetstream. Dieser rasante Wind weht zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Breitengrad in einer Höhe zwischen acht- und zehntausend Metern und mit einer Geschwindigkeit von bis zu 500 Kilometern pro Stunde. Sein Tempo verdankt sich den Temperaturunterschieden zwischen den Tropen und der Arktis. Er dient als eine Art "Motor für den ständigen Luftaustausch zwischen den Polen und dem Äquator". Steigt die Temperatur auf der Erde, verlangsamt sich der Jetstream, er "gerät leichter als sonst aus der Bahn, und statt der üblicherweise gering ausgeprägten Mäander verläuft er immer häufiger in mächtigen Schleifen, die mal weit nach Norden, mal weit nach Süden ausschlagen".
So wird zum einen die Folge regelmäßiger Hochs und Tiefs, die in unseren Breiten bislang vollkommen normal gewesen ist, deutlich seltener. Dafür häufen sich stationäre Wetterlagen, die man als "Blocking" bezeichnet: Ein Hochdruckgebiet liegt eingeschlossen und nahezu unbeweglich zwischen zwei Tiefdruckgebieten. Die Folge sind beispielsweise anhaltender Regen oder strenge Hitze über mehrere Wochen.
Zum anderen kann kalte Luft aus der Arktis bis zu uns oder, wie im Oktober 2018, an die Ostküste der Vereinigten Staaten vorstoßen, was zu einem scheinbar paradoxen Effekt führt: Die Erderwärmung sorgt für Eiseskälte. Wer also denkt, der Klimawandel sei nicht ernst zu nehmen, weil wir auch extrem frostige Winter erleben, dem sei ein Blick in Stefanie Arndts Buch empfohlen. KAI SPANKE
Stefanie Arndt: "Expeditionen in eine schwindende Welt". Wie das Abschmelzen der Polkappen unseren Planeten für immer verändern wird.
Rowohlt Polaris Verlag, Hamburg 2022. 224 S., Abb., br., 17,- Euro.
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