Über die Schlüsselgefühle unserer Zeit
Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva Illouz auf unsere aufgewühlte Zeit aus der Perspektive der Gefühle, die sie prägen. Angst, Enttäuschung und Wut, aber auch Scham oder Liebe sind fest in die sozialen Arrangements der westlichen Moderne eingebaut – und werden von ihrer Ökonomie, Politik und Kultur intensiv bewirtschaftet. Sie sind psychologisch relevant, moralisch bedeutsam, politisch wirksam – und hochgradig ambivalent. Das macht die Gegenwart, in der wir leben, so brisant, ja explosiv.
Illouz erhellt diese Phänomene in einer meisterlichen Komposition aus soziologischen Analysen, historischen Miniaturen und Lektüren ikonischer Werke der Weltliteratur. In präzisen Porträts der Emotionen, die Gesellschaft unter Hochspannung setzen, beleuchtet sie die Mechanismen ihres Wirkens sowie den Grund ihrer machtvollen Präsenz. Das Verblassen des amerikanischen Traums und die Fragilität der liberalen Demokratie, das Hamsterrad des Kapitalismus und die Konflikte rund um Identität, aber auch Antisemitismus, Rassismus und Misogynie: Ohne Bezug auf die Schlüsselgefühle der explosiven Moderne lassen sie sich weder verstehen noch einhegen oder bekämpfen. Das zeigt dieses so fesselnde wie zeitgemäße Buch.
Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva Illouz auf unsere aufgewühlte Zeit aus der Perspektive der Gefühle, die sie prägen. Angst, Enttäuschung und Wut, aber auch Scham oder Liebe sind fest in die sozialen Arrangements der westlichen Moderne eingebaut – und werden von ihrer Ökonomie, Politik und Kultur intensiv bewirtschaftet. Sie sind psychologisch relevant, moralisch bedeutsam, politisch wirksam – und hochgradig ambivalent. Das macht die Gegenwart, in der wir leben, so brisant, ja explosiv.
Illouz erhellt diese Phänomene in einer meisterlichen Komposition aus soziologischen Analysen, historischen Miniaturen und Lektüren ikonischer Werke der Weltliteratur. In präzisen Porträts der Emotionen, die Gesellschaft unter Hochspannung setzen, beleuchtet sie die Mechanismen ihres Wirkens sowie den Grund ihrer machtvollen Präsenz. Das Verblassen des amerikanischen Traums und die Fragilität der liberalen Demokratie, das Hamsterrad des Kapitalismus und die Konflikte rund um Identität, aber auch Antisemitismus, Rassismus und Misogynie: Ohne Bezug auf die Schlüsselgefühle der explosiven Moderne lassen sie sich weder verstehen noch einhegen oder bekämpfen. Das zeigt dieses so fesselnde wie zeitgemäße Buch.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Zu hundert Prozent ist Rezensent Jens Balzer noch nicht überzeugt von Eva Illouz' Buch über (enttäuschte) Gefühle im Kapitalismus: In drei Abschnitten wendet sie sich Gefühlen von Enttäuschung über Hoffnung bis Zorn und Liebe zu und erklärt, wie diese mit dem Kapitalismus zusammenhängen und aufgrund eines vorherrschenden Konsumsdrucks immer wieder Neid auslösen. Dass viele Hoffnungen im Liberalismus nicht erfüllt wurden, verursacht eine Nostalgie, die sich die Rechten zunutze machen, lernt Balzer. Ihm gefällt zwar, dass Illouz sich vieler literarischer Beispiele von Kleist bis Proust bedient, aber vielleicht ist die suggestive Wirkung dieser Texte doch zu stark, und die "Komplexität unserer Gegenwart" lässt sich damit nur bedingt darstellen, überlegt der Kritiker, dem Illouz, so gern er sie liest, hier zu pessimistisch ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2024Nichts ist okay
Die Soziologin Eva Illouz sieht nur einen Ausweg aus der Krise: Wir
müssen verstehen, dass Gefühle nicht unser Privatproblem sind.
Jetzt ist es so, dass Gefühle im politischen Diskurs einen miesen Ruf haben. Emotionen sind der natürliche Feind unseres Verstandes. Wir nutzen sie nur dann, wenn wir den politischen Gegner diskreditieren möchten („besorgter Bürger“, „Wutbürger“). Die Gründe für die Misere müssen doch mit dem Verstand erfassbar sein. Und so diskutieren wir mit ernsten Minen über das lasche Politpersonal, den Haushaltsstreit, die Grünen, die abgehobene SPD, über Nazis. Ein rührender Irrtum.
Denn nach der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz übersehen wir dabei etwas Elementares. In ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ zeigt Illouz, wie stark unseren Entscheidungen und Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen eben nicht nur an der Vernunft geschärfte Gedanken zugrunde liegen, sondern vielmehr Hoffnung, Angst, Scham, Stolz, Zorn, Neid, Enttäuschung. Seit rund zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Illouz mit der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und persönlichen Gefühlen, schrieb Bestseller über die Konsumkultur und die Liebe, zuletzt das Buch „Undemokratische Emotionen“, in dem sie vor allem am Beispiel Israel den Aufstieg von Rechtsnationalen erklärte. In ihrem neuen Buch geht sie noch einen Schritt weiter: Sie zeichnet das große Bild, verwebt historische Momente, soziologische Forschung, Studien und Figuren aus der Kunst miteinander. Frei von moralischem Alarmismus seziert sie Gefühle in sämtlichen politischen Lagern und stellt die erstaunlicherweise immer wieder in Vergessenheit geratende Frage: Wie genau hat sich die Moderne „in unserem Gefühlsleben entfaltet“?
Denn während wir an polierten Tischen über die Ampelkoalition diskutieren, knautschen wir Stressbälle, wachen nachts um drei Uhr mit feinen Schweißperlen auf der Stirn auf, wenn das Cortisol kickt, schleppen Geldsorgen in der Magengrube so lange neben dem Fertigessen in uns herum, bis wir Geschwüre bekommen. Die Dinge, die wir kaufen, reichen nicht, der Glaube an die kommenden Jahre fehlt, das Vertrauen in den gegenwärtigen Staatszustand sowieso, wir stecken die Körper in Eiswannen, meditieren, treiben Sport, reden über uns, fühlen uns seltsam verloren. Gehen zum Therapeuten und hoffen, dass wir mit unseren eigenen, kleinen Problemen klarkommen. Wir kommen nicht klar.
Nur eine der erschreckenden Zahlen, mit denen Illouz die Psyche – vor allem in den Vereinigten Staaten – umreißt: Zwischen den Jahren 2000 und 2021 ist die Suizidrate in den USA um 36 Prozent gestiegen. Die psychischen Probleme bei jungen Menschen nehmen in den westlichen Gesellschaften zu, die Zahl der an Depressionen erkrankten Jugendlichen ist dramatisch gestiegen. Weitere Parallelentwicklung: Die soziale Demokratie leidet an Bedeutungsverlust, die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen sprießt in sämtlichen Ländern diffus. Alle wollen irgendwie, dass sich etwas ändert. Man weiß das alles, aber vielleicht tut es gut, das jetzt einmal zu fühlen, statt immer nur zu wissen, und in Erinnerung an den immer so schön verzweifelnden Dramatiker René Pollesch zu seufzen: Ja, nichts ist okay.
Illouz beschreibt diesen Zustand in dem Kapitel „Das Unbehagen in der Gefühlskultur“ und lehnt sich schon mit dem Titel selbstbewusst an Sigmund Freud, den sie in ihrem Buch gewissermaßen umkehrt – ihrer Beobachtung nach sind unsere Gefühle alles andere als intim, sondern eine Verlängerung der Gesellschaft in uns selbst. Wo wir glauben, hochpersönlich zu empfinden, sieht Illouz in unseren Emotionen „gesellschaftliche Mechanismen“. Das Faszinierende in ihrer Analyse ist nicht nur die Entschlüsselung dieser Mechanismen, sondern die Erkenntnis, dass der Fehler unweigerlich im System angelegt ist. Denn ausgerechnet unsere liberale Demokratie ist wie gemacht für Enttäuschung, Furcht, Zorn, Neid und Scham.
Zum Beispiel das Leistungsversprechen: Illouz exerziert das Gefühl der Enttäuschung und des Neids am amerikanischen Traum, der fundamental auf der Hoffnung aufbaut. Die Hoffnung, es zu schaffen, die Hoffnung, Geschäftsführer zu werden, die Hoffnung, aufzusteigen. Die Hoffnung als allgemeine Kraft, mit der man sich sein Leben erzählt. Nur war diese Hoffnung einst begründeter als heute. Illouz bezieht sich beispielsweise auf den Rechtswissenschaftler David Markovitz, der feststellte, dass im Jahr 1939 „fast alle Bereichsleiter der amerikanischen Einzelhandelskette Safeway ihren Berufsweg an der Kasse begonnen“ hatten. Heute gelangen an diese Positionen Hochschulabsolventen, Management-Ausgebildete. Heißt: Das Aufstiegsversprechen gilt nur noch für den akademisierten Teil der Gesellschaft. Und auch die konkurrieren um immer weniger attraktive Positionen. Was das Gefühl des Neids bedingt: „Eine Anspruchs- und Leistungskultur steht im Widerspruch zum immer begrenzteren Zugang zu lukrativen oder angesehenen Berufen.“ Was auch erklärt, warum sich der Neid selten gegen Superreiche richtet, sondern gegen diejenigen, mit denen wir uns selbst vergleichen. Und das sind eben selten Donald Trump oder Angelina Jolie, sondern „Akademiker“, Minderheiten, die an einem vorbeiziehen, der Nachbar, der kaum arbeitet, aber zwei Autos fährt.
Gleichzeitig sinkt die Zufriedenheit mit der Arbeit, in zahlreichen Studien zeigt Illouz, wie sich die Enttäuschung über den Arbeitsplatz in der Mittel- und Unterschicht verbreitet hat. Gefüttert von Filmen, von Konsumkultur, Werbung und Medien, versprechen sich die Menschen immer mehr von der Welt, die allerdings immer weniger einlösen kann. Das moderne Selbst, so Illouz, schwanke „zwischen dem Gefühl endloser Möglichkeiten und dem Eindruck hartnäckiger Beschränktheit, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Ermächtigung und Selbstbezichtigung“.
Am beeindruckendsten ist ihre Analyse zur Furcht. Eigentlich wollte der Liberalismus nichts fürchten außer die Furcht selbst, schreibt Illouz, „doch ist ihm das im Großen und Ganzen misslungen“. Denn genau weil in liberalen Demokratien der Staat seinen Bürgern Schutz verspricht, vervielfacht er Ängste: „Terrorismus, Straßengewalt, Schulmassaker, die Macht Chinas, Klimawandel sowie Pandemien“. Der McCarthyismus zeichnete sich durch eine breit angelegte Furcht vor dem Kommunismus aus, Bush legitimierte unter anderem mit der (im Nachhinein sich als unbegründet herausstellenden) Angst vor Massenvernichtungswaffen den Krieg im Irak 2003. Deutschland „fürchtete“ sich 1914 vor der Vernichtung durch seine Nachbarn, in Japan glaubte man in den Dreißigern, dass Amerikaner, Briten, Chinesen und Niederländer mit einer „ABCD-Einkreisung“ Japan beherrschen wollten.
Furcht ist vor allem deswegen so ein gefährliches Gefühl, weil es so stark ist. Mit Studien belegt Illouz, wie wir uns von den aufgeklärten Geisteswesen, die wir glaubten zu sein, verabschieden, wenn in unserer Amygdala eine Angstreaktion ausgelöst wird. Etwa durch das schlichte Wörtchen „Terrorismus“. Wir können uns noch so oft vorrechnen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, jemals an einem Terroranschlag zu sterben – allein das Wort besitzt eine so große emotionale Macht, dass es unser restliches Denken überlagert. Wer die Furcht kontrolliert, kontrolliert „die gesamte politische Arena“, schreibt Illouz. (Und vielleicht auch die deutschen Außengrenzen.)
Bestimmt kann man einwenden, Illouz Ideen wären nicht völlig neu. Dafür scheinen sie allerdings sehr vergessen zu sein. Oder warum hat man in den Hunderten Analysen zu den Wahlerfolgen der AfD kein einziges Mal das Wort „Amygdala“ gelesen? Warum glaubt man, links wie rechts, politisch erhaben zu sein über Emotionen? Schaut man auf die gegenwärtigen politischen Entscheidungen, wirkt es teils, als sei man sturzbesoffen und setzt sich trotzdem überzeugt von seiner Geisteskraft hinters Steuer. Illouz webt ihre Großanalyse durch die Geschichte, Länder und Parteien hindurch und zielt damit auf die Wunden unserer Zeit, aus denen Revolutionen, Kriege, autoritäre Machtwechsel, neue Wirklichkeiten gedeihen können. Deprimierenderweise verzichtet Illouz auf konkrete Handlungsanweisungen, ihr Blick bleibt analytisch und frei von falschen Hoffnungen (im Gegenteil betont sie, und das tut ja mal ganz gut in dieser traumtrunkenen Zeit, dass die allermeisten Hoffnungen und Träume niemals in Erfüllung gehen werden).
Was das Buch nahelegt, ist eine Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension unserer Gefühle, statt uns individuell auszutherapieren. Illouz erinnert an die Gefahr der Verleugnung, gerade Intellektuelle seien bereit gewesen, „die schlimmsten Verbrechen (Stalins Massaker) zu tolerieren, solange sie im Namen der richtigen Begriffe (Revolution, Proletariat, die Linke) begangen wurden“. Im Gegensatz zu den vielen geopolitischen Weckruf-Sachbüchern, die uns erklären, was jetzt dringend zu tun ist, hält Illouz’ Buch dazu an, kurz stehenzubleiben. Sich zu fragen, warum wir fühlen, was wir denken. Nichts daran ist banal, nichts daran weniger wichtig, als den Zustand der SPD zu analysieren. Denken ist Tun, hat Adorno gesagt, den Illouz in diesem Sinne um das „Fühlen“ erweitert. Es geht nicht um Befindlichkeiten, nicht um Seelenschau der dauerseufzenden Wohlstandsgesellschaft. Es geht kurz darum, nicht zu wissen, was zu tun ist. Es geht, und dieses Verständnis geht in jüngster Zeit hie und da verloren, um die Wirklichkeit.
MARLENE KNOBLOCH
Sich zu fragen,
warum wir fühlen,
was wir denken
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz wurde 1961 in Fès, Marokko, geboren und ist Soziologie-Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der École des hautes études en sciences sociales in Paris.
Foto: Corinna Kern / laif
Eva Illouz: Explosive Moderne. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 447 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Soziologin Eva Illouz sieht nur einen Ausweg aus der Krise: Wir
müssen verstehen, dass Gefühle nicht unser Privatproblem sind.
Jetzt ist es so, dass Gefühle im politischen Diskurs einen miesen Ruf haben. Emotionen sind der natürliche Feind unseres Verstandes. Wir nutzen sie nur dann, wenn wir den politischen Gegner diskreditieren möchten („besorgter Bürger“, „Wutbürger“). Die Gründe für die Misere müssen doch mit dem Verstand erfassbar sein. Und so diskutieren wir mit ernsten Minen über das lasche Politpersonal, den Haushaltsstreit, die Grünen, die abgehobene SPD, über Nazis. Ein rührender Irrtum.
Denn nach der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz übersehen wir dabei etwas Elementares. In ihrem neuen Buch „Explosive Moderne“ zeigt Illouz, wie stark unseren Entscheidungen und Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen eben nicht nur an der Vernunft geschärfte Gedanken zugrunde liegen, sondern vielmehr Hoffnung, Angst, Scham, Stolz, Zorn, Neid, Enttäuschung. Seit rund zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Illouz mit der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und persönlichen Gefühlen, schrieb Bestseller über die Konsumkultur und die Liebe, zuletzt das Buch „Undemokratische Emotionen“, in dem sie vor allem am Beispiel Israel den Aufstieg von Rechtsnationalen erklärte. In ihrem neuen Buch geht sie noch einen Schritt weiter: Sie zeichnet das große Bild, verwebt historische Momente, soziologische Forschung, Studien und Figuren aus der Kunst miteinander. Frei von moralischem Alarmismus seziert sie Gefühle in sämtlichen politischen Lagern und stellt die erstaunlicherweise immer wieder in Vergessenheit geratende Frage: Wie genau hat sich die Moderne „in unserem Gefühlsleben entfaltet“?
Denn während wir an polierten Tischen über die Ampelkoalition diskutieren, knautschen wir Stressbälle, wachen nachts um drei Uhr mit feinen Schweißperlen auf der Stirn auf, wenn das Cortisol kickt, schleppen Geldsorgen in der Magengrube so lange neben dem Fertigessen in uns herum, bis wir Geschwüre bekommen. Die Dinge, die wir kaufen, reichen nicht, der Glaube an die kommenden Jahre fehlt, das Vertrauen in den gegenwärtigen Staatszustand sowieso, wir stecken die Körper in Eiswannen, meditieren, treiben Sport, reden über uns, fühlen uns seltsam verloren. Gehen zum Therapeuten und hoffen, dass wir mit unseren eigenen, kleinen Problemen klarkommen. Wir kommen nicht klar.
Nur eine der erschreckenden Zahlen, mit denen Illouz die Psyche – vor allem in den Vereinigten Staaten – umreißt: Zwischen den Jahren 2000 und 2021 ist die Suizidrate in den USA um 36 Prozent gestiegen. Die psychischen Probleme bei jungen Menschen nehmen in den westlichen Gesellschaften zu, die Zahl der an Depressionen erkrankten Jugendlichen ist dramatisch gestiegen. Weitere Parallelentwicklung: Die soziale Demokratie leidet an Bedeutungsverlust, die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen sprießt in sämtlichen Ländern diffus. Alle wollen irgendwie, dass sich etwas ändert. Man weiß das alles, aber vielleicht tut es gut, das jetzt einmal zu fühlen, statt immer nur zu wissen, und in Erinnerung an den immer so schön verzweifelnden Dramatiker René Pollesch zu seufzen: Ja, nichts ist okay.
Illouz beschreibt diesen Zustand in dem Kapitel „Das Unbehagen in der Gefühlskultur“ und lehnt sich schon mit dem Titel selbstbewusst an Sigmund Freud, den sie in ihrem Buch gewissermaßen umkehrt – ihrer Beobachtung nach sind unsere Gefühle alles andere als intim, sondern eine Verlängerung der Gesellschaft in uns selbst. Wo wir glauben, hochpersönlich zu empfinden, sieht Illouz in unseren Emotionen „gesellschaftliche Mechanismen“. Das Faszinierende in ihrer Analyse ist nicht nur die Entschlüsselung dieser Mechanismen, sondern die Erkenntnis, dass der Fehler unweigerlich im System angelegt ist. Denn ausgerechnet unsere liberale Demokratie ist wie gemacht für Enttäuschung, Furcht, Zorn, Neid und Scham.
Zum Beispiel das Leistungsversprechen: Illouz exerziert das Gefühl der Enttäuschung und des Neids am amerikanischen Traum, der fundamental auf der Hoffnung aufbaut. Die Hoffnung, es zu schaffen, die Hoffnung, Geschäftsführer zu werden, die Hoffnung, aufzusteigen. Die Hoffnung als allgemeine Kraft, mit der man sich sein Leben erzählt. Nur war diese Hoffnung einst begründeter als heute. Illouz bezieht sich beispielsweise auf den Rechtswissenschaftler David Markovitz, der feststellte, dass im Jahr 1939 „fast alle Bereichsleiter der amerikanischen Einzelhandelskette Safeway ihren Berufsweg an der Kasse begonnen“ hatten. Heute gelangen an diese Positionen Hochschulabsolventen, Management-Ausgebildete. Heißt: Das Aufstiegsversprechen gilt nur noch für den akademisierten Teil der Gesellschaft. Und auch die konkurrieren um immer weniger attraktive Positionen. Was das Gefühl des Neids bedingt: „Eine Anspruchs- und Leistungskultur steht im Widerspruch zum immer begrenzteren Zugang zu lukrativen oder angesehenen Berufen.“ Was auch erklärt, warum sich der Neid selten gegen Superreiche richtet, sondern gegen diejenigen, mit denen wir uns selbst vergleichen. Und das sind eben selten Donald Trump oder Angelina Jolie, sondern „Akademiker“, Minderheiten, die an einem vorbeiziehen, der Nachbar, der kaum arbeitet, aber zwei Autos fährt.
Gleichzeitig sinkt die Zufriedenheit mit der Arbeit, in zahlreichen Studien zeigt Illouz, wie sich die Enttäuschung über den Arbeitsplatz in der Mittel- und Unterschicht verbreitet hat. Gefüttert von Filmen, von Konsumkultur, Werbung und Medien, versprechen sich die Menschen immer mehr von der Welt, die allerdings immer weniger einlösen kann. Das moderne Selbst, so Illouz, schwanke „zwischen dem Gefühl endloser Möglichkeiten und dem Eindruck hartnäckiger Beschränktheit, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Ermächtigung und Selbstbezichtigung“.
Am beeindruckendsten ist ihre Analyse zur Furcht. Eigentlich wollte der Liberalismus nichts fürchten außer die Furcht selbst, schreibt Illouz, „doch ist ihm das im Großen und Ganzen misslungen“. Denn genau weil in liberalen Demokratien der Staat seinen Bürgern Schutz verspricht, vervielfacht er Ängste: „Terrorismus, Straßengewalt, Schulmassaker, die Macht Chinas, Klimawandel sowie Pandemien“. Der McCarthyismus zeichnete sich durch eine breit angelegte Furcht vor dem Kommunismus aus, Bush legitimierte unter anderem mit der (im Nachhinein sich als unbegründet herausstellenden) Angst vor Massenvernichtungswaffen den Krieg im Irak 2003. Deutschland „fürchtete“ sich 1914 vor der Vernichtung durch seine Nachbarn, in Japan glaubte man in den Dreißigern, dass Amerikaner, Briten, Chinesen und Niederländer mit einer „ABCD-Einkreisung“ Japan beherrschen wollten.
Furcht ist vor allem deswegen so ein gefährliches Gefühl, weil es so stark ist. Mit Studien belegt Illouz, wie wir uns von den aufgeklärten Geisteswesen, die wir glaubten zu sein, verabschieden, wenn in unserer Amygdala eine Angstreaktion ausgelöst wird. Etwa durch das schlichte Wörtchen „Terrorismus“. Wir können uns noch so oft vorrechnen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, jemals an einem Terroranschlag zu sterben – allein das Wort besitzt eine so große emotionale Macht, dass es unser restliches Denken überlagert. Wer die Furcht kontrolliert, kontrolliert „die gesamte politische Arena“, schreibt Illouz. (Und vielleicht auch die deutschen Außengrenzen.)
Bestimmt kann man einwenden, Illouz Ideen wären nicht völlig neu. Dafür scheinen sie allerdings sehr vergessen zu sein. Oder warum hat man in den Hunderten Analysen zu den Wahlerfolgen der AfD kein einziges Mal das Wort „Amygdala“ gelesen? Warum glaubt man, links wie rechts, politisch erhaben zu sein über Emotionen? Schaut man auf die gegenwärtigen politischen Entscheidungen, wirkt es teils, als sei man sturzbesoffen und setzt sich trotzdem überzeugt von seiner Geisteskraft hinters Steuer. Illouz webt ihre Großanalyse durch die Geschichte, Länder und Parteien hindurch und zielt damit auf die Wunden unserer Zeit, aus denen Revolutionen, Kriege, autoritäre Machtwechsel, neue Wirklichkeiten gedeihen können. Deprimierenderweise verzichtet Illouz auf konkrete Handlungsanweisungen, ihr Blick bleibt analytisch und frei von falschen Hoffnungen (im Gegenteil betont sie, und das tut ja mal ganz gut in dieser traumtrunkenen Zeit, dass die allermeisten Hoffnungen und Träume niemals in Erfüllung gehen werden).
Was das Buch nahelegt, ist eine Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension unserer Gefühle, statt uns individuell auszutherapieren. Illouz erinnert an die Gefahr der Verleugnung, gerade Intellektuelle seien bereit gewesen, „die schlimmsten Verbrechen (Stalins Massaker) zu tolerieren, solange sie im Namen der richtigen Begriffe (Revolution, Proletariat, die Linke) begangen wurden“. Im Gegensatz zu den vielen geopolitischen Weckruf-Sachbüchern, die uns erklären, was jetzt dringend zu tun ist, hält Illouz’ Buch dazu an, kurz stehenzubleiben. Sich zu fragen, warum wir fühlen, was wir denken. Nichts daran ist banal, nichts daran weniger wichtig, als den Zustand der SPD zu analysieren. Denken ist Tun, hat Adorno gesagt, den Illouz in diesem Sinne um das „Fühlen“ erweitert. Es geht nicht um Befindlichkeiten, nicht um Seelenschau der dauerseufzenden Wohlstandsgesellschaft. Es geht kurz darum, nicht zu wissen, was zu tun ist. Es geht, und dieses Verständnis geht in jüngster Zeit hie und da verloren, um die Wirklichkeit.
MARLENE KNOBLOCH
Sich zu fragen,
warum wir fühlen,
was wir denken
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz wurde 1961 in Fès, Marokko, geboren und ist Soziologie-Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der École des hautes études en sciences sociales in Paris.
Foto: Corinna Kern / laif
Eva Illouz: Explosive Moderne. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 447 Seiten, 32 Euro.
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»Es gibt in diesen Tagen kaum eine andere Intellektuelle, die so fundamental über die Krise der Gegenwart nachgedacht hat wie ... Eva Illouz.« Meike Feßmann Der Tagesspiegel 20241115