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Eine nüchterne Bestandsaufnahme
Seit dem späten 19. Jahrhundert war es allgemeiner Konsens, dass Deutschland seine Industrie ausbauen und seine Ausfuhren erhöhen müsse. Es dauerte jedoch bis 1952, bis sich ein dauerhafter Handelsbilanzüberschuss und ein stetiges Wachstum der Warenexporte einstellten. Im Zuge der Globalisierungswelle im späten 20. Jahrhundert beschleunigte sich das Exportwachstum Deutschlands spektakulär, um seit der Finanzkrise auf hohem Niveau zu verharren. Von 1986 bis 1988 und von 2003 bis 2008 exportierte kein Land der Erde dem Wert nach mehr Waren als die Bundesrepublik. Der von den Medien vergebene Titel "Exportweltmeister" schmeichelte dem Nationalstolz, musste aber 2009 an China abgegeben werden. Die danach hartnäckig verteidigte "Vizeweltmeisterschaft" ist für ein relativ kleines Land wie die Bundesrepublik überaus bemerkenswert, wird aber selten zelebriert.
Die hohen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik gerieten wiederholt in die scharfe Kritik des Auslandes. Der Vorwurf lautete, dass Deutschland auf Kosten anderer wachse und im eigenen Land zu wenig investiere und konsumiere. Deutschland solle daher den Export zügeln und von der Politik der Preisstabilität, der Lohnmoderation und der Konsumzurückhaltung abweichen, um die Rolle als europäische oder globale Konjunkturlokomotive zu übernehmen. Sind zerfallende Brücken und marode Schulen also das Ergebnis einer ungesunden Exportobsession? Geht die Ausfuhrdynamik auf Kosten der sozial Schwachen?
Die Gründe für die deutsche Exportstärke sind mannigfaltig. Zunächst sind die Leistungskraft der Unternehmen und die große industrielle Basis zu erwähnen. Diversifizierte Qualitätsprodukte statt austauschbarer Massenware, Zuverlässigkeit und überlegener Service sind zentrale Stützpfeiler. Moderate Lohnanstiege und Preisstabilität begünstigen weiterhin den Export. Verstärkt seit den 1990er Jahren trat die geschickte Nutzung preiswerter Vorleistungen aus Drittländern durch Off- und Nearshoring hinzu, also die kluge Kostenreduktion durch globale Lieferketten.
Auch die Politik unterstützte den Export. Schon 1926 wurde die Hermes-Bürgschaft eingeführt, durch die der Staat zusammen mit privaten Versicherungen die Risiken von Kreditausfällen bei Exportgeschäften übernahm. Dieses System wurde nach 1945 ausgebaut und durch steuerliche Anreize für Exporte und Direktinvestitionen im Ausland ergänzt. Seit dem Kaiserreich gibt es weiterhin ein umfassendes System der Exportförderung von Musterausstellungen und Auslandsinformationsstellen (heute German Trade and Invest) bis hin zu den Auslandshandelskammern. Diese Institutionen sind in ihrer Effizienz und Breite weltweit einmalig. 2022 existierten in 93 Ländern 150 Standorte deutscher Auslandshandelskammern. Auch der diplomatische Dienst unterstützt die Exportwirtschaft auf vielfache Weise.
Zudem gab es in der Bundesrepublik lange eine währungspolitische Flankierung der Ausfuhren. Bis 1973 war die D-Mark stark unterbewertet. Exportwirtschaft und Politik zogen alle Register, um eine Aufwertung zu vermeiden oder zu verzögern. Nach dem Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods im Jahr 1973 entfiel dieser Vorteil, was aber der deutschen Exportdynamik keinen bleibenden Schaden zufügte.
Dem 1946 gegründeten Außenhandelsbeirat gehörten führende Vertreter der Exportwirtschaft an, die direkten Einfluss auf die Zoll- und Handelspolitik sowie auf Förderprogramme des Bundes nehmen konnten. Es entstand seit den 1950er Jahren ein großes Momentum in Richtung Handelsliberalisierung, wobei das Bekenntnis zum freien Welthandel letztlich immer auf die Erzielung nationaler Vorteile abzielte. Das Ideal wurde also - übrigens nicht nur in Deutschland - immer dann beschworen, wenn es dem eigenen Land nützte. Im Agrarsektor und etwa bei Textilien setzte man dagegen allen liberalen Lippenbekenntnissen zum Trotz auf selektiven Protektionismus.
Jede Kritik an der Exportorientierung stieß weitgehend auf taube Ohren. Die 1890 von Reichskanzler von Caprivi verkündete Überzeugung, dass Deutschland ohne industrielle Basis und ohne hohe Ausfuhren "nicht in der Lage" sei, "weiter zu leben", hat sich tief verwurzelt. Diese Auffassung wurde seitdem von Politikern und Unternehmern oft wiederholt und bildet bis heute eine der wirtschaftspolitischen Grundfesten der Bundesrepublik. In der Tat ist unbestreitbar, dass Deutschland seinen Wohlstand der intensiven Einbindung in die internationale Arbeitsteilung verdankt und 2018 über 11 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Export abhingen. Ob diese Zahlen Anlass zu Selbstzufriedenheit sein können oder aber ob die Exportorientierung am Ende über das Ziel hinausgeschossen ist, bleibt in dieser Studie jedoch offen.
Das Buch glänzt durch eine nüchterne Bestandsaufnahme vor allem der Außenwirtschaftspolitik der Bonner Republik. Die DDR und die Zeit nach 1990 bleiben leider wie auch die Dienstleistungsexporte ausgespart. Der reißerische Titel passt nicht zum ansonsten sachlichen Duktus des Buches. Es ist angenehm zu lesen und kommt ohne wissenschaftlichen Jargon aus. Es wirft viele grundsätzliche Fragen auf, ohne stets definitive Antworten zu liefern. Diese überaus anregende Studie rekonstruiert lange historische Pfadabhängigkeiten, die für das Verständnis der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik ein großes Gewicht besitzen. HARTMUT BERGHOFF
Jan-Otmar Hesse: Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession, Suhrkamp, Berlin 2023, 446 Seiten, 28 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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