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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Spiegel kollektiver Ängste, Wertvorstellungen und Weltbilder: Ein Band präsentiert Fabeltiere in Modellen und historischen Illustrationen.
Warnung vor dem Hötzelstier! Das kalbsgroße Wesen mit Eselskopf, Schweineschnauze, scharfen Zähnen und langen Krallen hat es vor allem auf junge Mädchen abgesehen, die abends allein unterwegs sind. Das Monster beißt ihnen die Zöpfe ab, mitunter skalpiert es seine Opfer sogar. Immerhin - im Westerwälder Wiedtal, wo das Hötzelstier sein Revier hat, herrscht Geschlechtergerechtigkeit. Dafür sorgt der Tholm, eine Kombination aus Mensch und Jagdhund mit einem Schwanz wie ein Ochsenziemer. Mit ihm versohlt er übergriffige Jungmachos so sehr, dass ihnen Hören, Sehen und Sitzen vergehen.
Tholm und Hötzelstier sind nur zwei aus einer riesigen Menagerie bizarrer Kreaturen, die man im Band "Fabeltiere" in Text und vor allem auch Bild kennenlernen kann. Die Tierdämonen präsentieren sich nicht nur in historischen Illustrationen, sondern auch in Modellen, die das Autorenteam anhand von zeitgenössischen Augenzeugenberichten angefertigt und in ihre natürlichen Umgebungen platziert hat. Das knüpft, wie man im Buch nachlesen kann, an die Tradition der frühneuzeitlichen Wunderkammern an, in denen Fabelwesen ausgestellt wurden, die aus Gips und den Knochen unterschiedlicher Tiere montiert waren und die Betrachter zwischen Staunen und Skepsis schwanken ließen.
Doch bei aller Freude am Phantastischen und Kuriosen, die das Buch durchzieht - es geht den Autoren nicht darum, die Ausgeburten des Aberglaubens als bloße Monstrositätenschau vorzuführen. Sie nehmen die geflügelten Schlangen, raubtierköpfigen Kälber und kinderfressenden Nachtraben ernst als Spiegel kollektiver Weltbilder, Ängste und Wertvorstellungen. Akribisch verfolgen sie die Genese der Fabelwesen in Sagen, Märchen, Legenden und Reiseberichten, lokalisieren ihre Ursprünge und zeichnen die regionalen Verbreitungen, unterschiedlichen Benennungen und vielfältigen Metamorphosen nach.
Exkurse widmen sich Spezialthemen wie dämonischen Würmern, Ungeheuern als Randverzierungen in mittelalterlichen Büchern oder den pfälzischen Elwedritschen, die eine hühnerähnliche Gestalt haben sollen. Sonst weiß man nicht viel über sie, außer dass sie wie der thüringische Rasselbock und der bayerische Wolpertinger zu den Neckgestalten gehören, die erfunden wurden, um Ortsfremde zu foppen. Bei aller Informationsfülle ist das Buch in einem klaren und unterhaltsamen Stil geschrieben. Für lebendige Schilderungen mit Lokalkolorit sorgen zudem die Quellen - vielfach Sagensammlungen aus dem neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert -, die von den Autoren ausgiebig zitiert werden.
Zu den porträtierten Fabeltieren gehören auch Klassiker wie das Einhorn, der Drache, der Werwolf oder der Basilisk, der mit seinem tödlichen Giftblick zwar der König der Schlangen ist, aber von einem Wiesel bezwungen werden kann. Zwei andere prominente Fabeltiere, der Greif und der Phönix, kommen hingegen nur am Rande vor, denn in den Volkserzählungen des deutschsprachigen Raums, auf die sich das Buch konzentriert, spielen sie kaum eine Rolle. Da zudem der Fokus auf Mischwesen liegt, deren animalische Anteile im Aussehen und Verhalten die menschlichen überwiegen, sind auch die stark humanoiden Nixen und ihre Verwandten ausgeschlossen.
Dafür wird der Leser mitgenommen auf eine Safari durch Sagen- und Märchenlandschaften, deren Fauna an Exotik nichts zu wünschen übrig lässt. Zu den Spezies, die man dort beobachten kann, gehört zum Beispiel die Habergeiß, die sich in dreibeiniger Vogelgestalt mit krächzender Ziegenstimme zeigt, die Roggenkatze, die Kindern ins Gesicht springt, oder das Aachener Bahkauv, auch Bachkalb genannt, das mit glühenden Augen, bärenartigen Tatzen und schuppigem Schweif nachts aus den Thermalquellen der Kaiserstadt emporsteigt, mit schweren Ketten rasselt und Betrunkene anspringt. Diese Gewohnheit macht es wie Habergeiß, Krötenalp oder Werwolf zu einem "Aufhocker", dessen Gewicht mit jedem Schritt, den der Heimgesuchte tut, zunimmt, bis dieser zusammenbricht.
Nicht alle tierischen Fabelwesen sind indes Chimären. Die Muhkälber, Grauelkatzen, Bullkater oder Erbsenböcke, die mit feurigen Augen und in wechselnder Form die Menschen erschrecken, sind dämonische Vertreter häuslicher Tierarten. Oft verbergen sich in ihrer Gestalt menschliche Wiedergänger, auf denen ein Fluch lastet. Am häufigsten unter diesen in der Sagenforschung anheimelnd "Dorftiere" genannten Kreaturen ist der schwarze Geisterhund, den man in Ostfriesland als Talwiespudel, im Münsterland als Swatte Rüen, im Rheinischen als Zubbelsdeer und in Bayern und Österreich als Wauggl kennt. Hier wie bei anderen Fabeltieren zeigen Karten die genaue geographische Verteilung der oft mundartlichen Namen.
Die Tier-Ungeheuer, einst Schreckenselemente eines lebendigen Volksglaubens, sind weitgehend in Vergessenheit geraten oder als Marktplatz-Standbilder und Comicfiguren zur Touristenfolklore geworden. Mit ihrem Buch haben die Autoren nun einen würdigen Schutzraum geschaffen, der Mümmelkater, Knüppelhund, Totenkopfspinne und all ihre Mitmonster vor der restlosen Verniedlichung bewahrt. Aber werden sie auch ruhig in ihrem papierenen Fabeltierpark bleiben? Bei Untoten weiß man nie. WOLFGANG KRISCHKE
Florian Schäfer, Janin Pisarek und Hannah Gritsch: "Fabeltiere". Tierische Fabelwesen der deutschsprachigen Mythen, Märchen und Sagen.
Böhlau Verlag, Köln 2023. 256 S., Abb., geb., 39,- Euro.
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Dr. Anna Joisten, DAMALS 05/2024