Faber verschwand eines Tages so, wie er damals aufgetaucht war: plötzlich und geräuschlos. Mehr als zehn Jahre später erreicht seine beiden Jugendfreunde Madeleine und Basile ein Hilferuf - und nicht nur in ihren Köpfen beginnt die ganze Geschichte von vorn ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Nur der Zerstörer bleibt sich treu
Alternativen des intensiven Lebens: Der dauererregte Roman "Faber" des französischen Schriftstellers und Philosophen Tristan Garcia
Moderne Gesellschaften produzieren ihre Moden, überschreiben ihre Traditionen und erfinden diese aus heiterem Himmel neu. Der 1981 in Toulouse geborene Tristan Garcia verkörpert ein solches Episodenphänomen. Als Teil einer Denkmode, die zwischen Berlin und Paris angesiedelt ist, betreibt er "spekulativen Realismus". Das heißt, er beteiligt sich im Anschluss an Linguistic, Pictorial und sonstige Turns an altmodischen Ontologisierungen rund um den Themenkomplex Mensch/Ding/Sein/Bewusstsein. In seinem gerade bei Suhrkamp erschienenen Essay "Das intensive Leben - Eine moderne Obsession" spürt er einem der wiederkehrenden Imperative der transzendental verarmten Moderne nach: Wir lebten in "Hochspannungsgesellschaften", diagnostiziert Garcia. Da, wo der Soziologe Hartmut Rosa die Schraube der "Beschleunigung" sich durch unsere Biographien fräsen sieht, beschwört Garcia die Intensitätssteigerung, in der das moderne Individuum erst so richtig zu sich kommt - und warnt gleichzeitig vor ihr. Denn Intensität als Selbstzweck ist antiidentitär.
Dass davon keine unerhebliche Gefahr für das elektrifizierte Subjekt ausgeht, weiß Garcia natürlich. So schlingert er zwischen philosophischer Ekstase und pragmatischer Handreichung. Ein bisschen Passion ist gut, ein bisschen Mäßigung aber notwendig, damit das Leben nicht aus dem Gleisbett springt. Weniger begeisterte Rezensenten sahen in diesem Vermittlungskurs ein Einschwenken auf den bürgerlichen Mainstream, in dem die Revolution ins Private, also ins Berghain verschoben wird und die Work-Life-Balance des werktätigen Menschen in den Vordergrund sämtlicher Überlegungen zum "guten Leben" tritt. Das klingt so langweilig, wie es ist, wenn man damit rechnet, dass Denken ein Abenteuer sein kann. Jetzt hat Tristan Garcia einen Roman geschrieben, der ihm zum Ruhm des Thesenträgers gereicht.
Die Alternativen des intensiven Lebens heißen in Garcias Essay Erschöpfung oder religiöse Verheißung. Beides trifft auf Faber, die titelgebende Figur seines Romans, zu. Sie wird im Untertitel gleich als "der Zerstörer" gebrandmarkt. Natürlich handelt es sich bei diesem Unruhestifter um einen schöpferischen Menschen mit ausgeprägtem Todestrieb. Von Kindheit an umgibt ihn eine Aura. Kaum in der fiktiven Stadt Mornay angekommen (etymologisch klingen sowohl die französischen Adjektive morne für "trübsinnig" als auch mort-né[e] für "totgeboren" an), gelingt es dem hochbegabten Waisenkind, die Machtverhältnisse am Lycée zu unterwandern. Dem Bandenanführer Romuald wird das Handwerk gelegt. Die sensiblen Außenseiter Madeleine und Basile werden zu engsten Freunden (und späteren Jüngern) des Helden. Dieser rächt fortan die Schwachen und errichtet, wo auch immer er hinkommt, eine neue Ordnung.
Er ist ein Umwerter aller Werte und damit eine Art Christusfigur mit teuflischen Anteilen. Nicht nur einen ungerechten Lehrer treibt er in die Depression. Auch ein Holocaust-Überlebender, der die Gymnasiasten mit Geschichten aus dem KZ erregt, wird öffentlich erniedrigt. Am Ende des Romans zettelt Faber einen Generalstreik an, der desaströs endet für das Freundestrio. Nebenbei gibt es den Exorzismus einer afrikanischstämmigen Geliebten zu goutieren, einen Ziehvatermord zu beklagen, und Rückblenden legen einen Tötungsakt im Alter von sechs Jahren nahe.
Alle drei Freunde blicken am Ende des Romans auf ein aus je anderen Gründen verfehltes Leben, das sich im Falle von Madeleine und Basile im gesellschaftlichen Mittelmaß, im Bereich der Todsünde also, abspielt. Ausgerechnet Basile wird Französischlehrer am verhassten Gymnasium. Dabei hatte Faber doch stets die Rebellion, später die totale Anarchie gepredigt. Nur der Zerstörer bleibt seiner ursprünglichen Mission treu und zerstört sich am Ende des Romans mit geradezu onanistischer Hingabe selbst.
Wie Tristan Garcia, der sich auf den letzten Seiten des Romans als Biograph (und Nachlassverwalter) des Teufels zu erkennen gibt, seine Figur schildert, ist mitreißend. Man will doch zu gerne wissen, worin das Geheimnis dieses monströsen Kindes besteht. Weshalb seine Eltern umgekommen sind. Und wieso alle, die je mit ihm in Berührung kommen, als von einem Vampir ausgesaugte Menschenhüllen enden. Faber lebt zu Beginn des Romans in den Pyrenäen eine Pennerexistenz. Er wird von seinen einstigen Freunden aufgrund eines codierten Briefs, den die drei in ihrer Kindheit als Hilferuf vereinbart hatten, zurück nach Mornay gebracht. Um dort was zu tun? Sich an Faber zu rächen? Und wer ist überhaupt dieser Faber? Ein geistiger Verführer mit - Achtung! - opak maghrebinischem Hintergrund. Messias oder Demagoge, zwischen diesen beiden Polen glimmt der Draht dieser Erzählung. Und er glimmt durchaus intensiv!
An dieser Stelle sollte man allerdings auch darauf hinweisen, dass es in Frankreich eine Tradition der geistigen Selbstverausgabung gibt. Man darf erwarten, dass Tristan Garcia diese Tradition kennt. Sie reicht von Marat über Sade, Bataille und die von ihm am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mitbegründete antifaschistische Acéphale-Bewegung bis hin zu den ideologisch abgewirtschafteten Helden Michel Houellebecqs. Das Problem mit den geistigen Brandstiftern im Namen der Freiheit ist nämlich, dass sie immer schon auf dem Grat zwischen Anarchie und Totalitarismus agitierten.
Leider begeht Tristan Garcia den Fehler, diese schöne Ambivalenz seiner Figur am Ende auszulöschen, indem er seinen Erzähler (mehr wirr als wirkungsvoll) die Faber-Figur ausdeuten lässt. Und zwar im Namen einer Kohorte. "Wir waren Mittelschichtskinder eines durchschnittlichen westlichen Landes, zwei Generationen nach einem gewonnenen Krieg, eine Generation nach einer fehlgeschlagenen Revolution. Wir waren weder arm noch reich, wir sehnten uns weder nach der Aristokratie zurück, noch träumten wir von irgendeiner Utopie, und die Demokratie war uns gleichgültig geworden." Hier ist er also wieder, der Wunsch nach dem intensiven Leben, die Unfähigkeit, ihm höhere Ziele abzuringen. Dann die literarische Koketterie mit dem Terror, am Ende das versöhnliche Einschwenken auf die bürgerliche Behaglichkeit. Man kann ja immer noch Schriftsteller werden. Oder Philosoph. Wahrscheinlich sogar Lehrer an einem französischen Lycée. Et alors?
KATHARINA TEUTSCH
Tristan Garcia: "Faber". Der Zerstörer. Roman.
Aus dem Französischen von Birgit Leib. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 424 S., geb., 24,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alternativen des intensiven Lebens: Der dauererregte Roman "Faber" des französischen Schriftstellers und Philosophen Tristan Garcia
Moderne Gesellschaften produzieren ihre Moden, überschreiben ihre Traditionen und erfinden diese aus heiterem Himmel neu. Der 1981 in Toulouse geborene Tristan Garcia verkörpert ein solches Episodenphänomen. Als Teil einer Denkmode, die zwischen Berlin und Paris angesiedelt ist, betreibt er "spekulativen Realismus". Das heißt, er beteiligt sich im Anschluss an Linguistic, Pictorial und sonstige Turns an altmodischen Ontologisierungen rund um den Themenkomplex Mensch/Ding/Sein/Bewusstsein. In seinem gerade bei Suhrkamp erschienenen Essay "Das intensive Leben - Eine moderne Obsession" spürt er einem der wiederkehrenden Imperative der transzendental verarmten Moderne nach: Wir lebten in "Hochspannungsgesellschaften", diagnostiziert Garcia. Da, wo der Soziologe Hartmut Rosa die Schraube der "Beschleunigung" sich durch unsere Biographien fräsen sieht, beschwört Garcia die Intensitätssteigerung, in der das moderne Individuum erst so richtig zu sich kommt - und warnt gleichzeitig vor ihr. Denn Intensität als Selbstzweck ist antiidentitär.
Dass davon keine unerhebliche Gefahr für das elektrifizierte Subjekt ausgeht, weiß Garcia natürlich. So schlingert er zwischen philosophischer Ekstase und pragmatischer Handreichung. Ein bisschen Passion ist gut, ein bisschen Mäßigung aber notwendig, damit das Leben nicht aus dem Gleisbett springt. Weniger begeisterte Rezensenten sahen in diesem Vermittlungskurs ein Einschwenken auf den bürgerlichen Mainstream, in dem die Revolution ins Private, also ins Berghain verschoben wird und die Work-Life-Balance des werktätigen Menschen in den Vordergrund sämtlicher Überlegungen zum "guten Leben" tritt. Das klingt so langweilig, wie es ist, wenn man damit rechnet, dass Denken ein Abenteuer sein kann. Jetzt hat Tristan Garcia einen Roman geschrieben, der ihm zum Ruhm des Thesenträgers gereicht.
Die Alternativen des intensiven Lebens heißen in Garcias Essay Erschöpfung oder religiöse Verheißung. Beides trifft auf Faber, die titelgebende Figur seines Romans, zu. Sie wird im Untertitel gleich als "der Zerstörer" gebrandmarkt. Natürlich handelt es sich bei diesem Unruhestifter um einen schöpferischen Menschen mit ausgeprägtem Todestrieb. Von Kindheit an umgibt ihn eine Aura. Kaum in der fiktiven Stadt Mornay angekommen (etymologisch klingen sowohl die französischen Adjektive morne für "trübsinnig" als auch mort-né[e] für "totgeboren" an), gelingt es dem hochbegabten Waisenkind, die Machtverhältnisse am Lycée zu unterwandern. Dem Bandenanführer Romuald wird das Handwerk gelegt. Die sensiblen Außenseiter Madeleine und Basile werden zu engsten Freunden (und späteren Jüngern) des Helden. Dieser rächt fortan die Schwachen und errichtet, wo auch immer er hinkommt, eine neue Ordnung.
Er ist ein Umwerter aller Werte und damit eine Art Christusfigur mit teuflischen Anteilen. Nicht nur einen ungerechten Lehrer treibt er in die Depression. Auch ein Holocaust-Überlebender, der die Gymnasiasten mit Geschichten aus dem KZ erregt, wird öffentlich erniedrigt. Am Ende des Romans zettelt Faber einen Generalstreik an, der desaströs endet für das Freundestrio. Nebenbei gibt es den Exorzismus einer afrikanischstämmigen Geliebten zu goutieren, einen Ziehvatermord zu beklagen, und Rückblenden legen einen Tötungsakt im Alter von sechs Jahren nahe.
Alle drei Freunde blicken am Ende des Romans auf ein aus je anderen Gründen verfehltes Leben, das sich im Falle von Madeleine und Basile im gesellschaftlichen Mittelmaß, im Bereich der Todsünde also, abspielt. Ausgerechnet Basile wird Französischlehrer am verhassten Gymnasium. Dabei hatte Faber doch stets die Rebellion, später die totale Anarchie gepredigt. Nur der Zerstörer bleibt seiner ursprünglichen Mission treu und zerstört sich am Ende des Romans mit geradezu onanistischer Hingabe selbst.
Wie Tristan Garcia, der sich auf den letzten Seiten des Romans als Biograph (und Nachlassverwalter) des Teufels zu erkennen gibt, seine Figur schildert, ist mitreißend. Man will doch zu gerne wissen, worin das Geheimnis dieses monströsen Kindes besteht. Weshalb seine Eltern umgekommen sind. Und wieso alle, die je mit ihm in Berührung kommen, als von einem Vampir ausgesaugte Menschenhüllen enden. Faber lebt zu Beginn des Romans in den Pyrenäen eine Pennerexistenz. Er wird von seinen einstigen Freunden aufgrund eines codierten Briefs, den die drei in ihrer Kindheit als Hilferuf vereinbart hatten, zurück nach Mornay gebracht. Um dort was zu tun? Sich an Faber zu rächen? Und wer ist überhaupt dieser Faber? Ein geistiger Verführer mit - Achtung! - opak maghrebinischem Hintergrund. Messias oder Demagoge, zwischen diesen beiden Polen glimmt der Draht dieser Erzählung. Und er glimmt durchaus intensiv!
An dieser Stelle sollte man allerdings auch darauf hinweisen, dass es in Frankreich eine Tradition der geistigen Selbstverausgabung gibt. Man darf erwarten, dass Tristan Garcia diese Tradition kennt. Sie reicht von Marat über Sade, Bataille und die von ihm am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mitbegründete antifaschistische Acéphale-Bewegung bis hin zu den ideologisch abgewirtschafteten Helden Michel Houellebecqs. Das Problem mit den geistigen Brandstiftern im Namen der Freiheit ist nämlich, dass sie immer schon auf dem Grat zwischen Anarchie und Totalitarismus agitierten.
Leider begeht Tristan Garcia den Fehler, diese schöne Ambivalenz seiner Figur am Ende auszulöschen, indem er seinen Erzähler (mehr wirr als wirkungsvoll) die Faber-Figur ausdeuten lässt. Und zwar im Namen einer Kohorte. "Wir waren Mittelschichtskinder eines durchschnittlichen westlichen Landes, zwei Generationen nach einem gewonnenen Krieg, eine Generation nach einer fehlgeschlagenen Revolution. Wir waren weder arm noch reich, wir sehnten uns weder nach der Aristokratie zurück, noch träumten wir von irgendeiner Utopie, und die Demokratie war uns gleichgültig geworden." Hier ist er also wieder, der Wunsch nach dem intensiven Leben, die Unfähigkeit, ihm höhere Ziele abzuringen. Dann die literarische Koketterie mit dem Terror, am Ende das versöhnliche Einschwenken auf die bürgerliche Behaglichkeit. Man kann ja immer noch Schriftsteller werden. Oder Philosoph. Wahrscheinlich sogar Lehrer an einem französischen Lycée. Et alors?
KATHARINA TEUTSCH
Tristan Garcia: "Faber". Der Zerstörer. Roman.
Aus dem Französischen von Birgit Leib. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 424 S., geb., 24,- [Euro]
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