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Emanzipation unter Laborbedingungen: Christoph Paret taucht berühmte Experimente in ein neues Licht
Dissertationen versuchen sich eher selten an "schwindelerregenden Fragen". Der Philosoph Christoph Paret hat sich in seinem Buch über "emanzipatorische Menschenversuche" darauf eingelassen. Paret will "einige unserer liebgewordenen Grundüberzeugungen" umstürzen, insbesondere die Annahme, dass "Emanzipation und Aufklärung notwendigerweise Hand in Hand gehen". Dieser gemeinsame Gang ist zwar spätestens seit der "Dialektik der Aufklärung" abgesagt worden, aber man kann ja mal so tun, als hielten die beiden noch Händchen. "Womöglich", mutmaßt Paret nämlich, sei die Verbindung zwischen Emanzipation und Aufklärung doch nicht so "festgefügt, wie man gerne glauben will".
Glauben wir das mal. Für den Umsturz dieses Glaubens müsse man einige "halb vergessene Geschehnisse" des zwanzigsten Jahrhunderts in Augenschein nehmen. Darunter fallen für Paret die "emanzipatorischen Menschenversuche" eines Solomon Asch, Stanley Milgram und Arthur Cohen. Warum aber nimmt diese Studie ihren Ausgangspunkt ausgerechnet von Experimenten, in denen die Versuchspersonen ihre Freiheit "in spektakulärer Weise preisgegeben haben"?
Parets Frage ist berechtigt, schließlich werden in seiner Rede von "emanzipativen Menschenversuchen" Wörter miteinander verbunden, die kategorial nicht zusammenzugehören scheinen. Üblicherweise würden solche Experimente lediglich als Ausdruck einer vorherrschenden Tendenz problematisiert, Individuen und moderne Gesellschaften zu kontrollieren. Paret jedoch will zeigen, dass man die "Vorstellung des Liberalismus" aufgeben müsse, dass die Mehrzahl der Menschen in der Lage sei, sich in ihrem Handeln an ihren eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zu orientieren, sofern sie nur keinen größeren Versuchungen oder Zwängen ausgesetzt seien.
Es gebe keine unvoreingenommene Bestandsaufnahme dieser Experimente, keiner habe bisher ihre philosophischen Implikationen erwogen. Ihrem hohen Bekanntheitsgrad entspreche auch ihr Verkanntsein, meint Paret. Ihre Erfinder wollten gar nicht die soziale Welt im Labor kopieren, sondern diese Welt einem "Generalverdacht" aussetzen: Die Experimente seien "Kontingenzmaschinen", schreibt Paret, die aus einem "Exzess an Wahlakten" bestünden. Der Versuch von Milgram - der Proband als Exekutor eines "Versuchsleiters", der die Bestrafung eines "Schülers" durch elektrische Schläge anordnet - und Aschs Konformitätsexperiment seien gar keine autoritären Settings gewesen. Sie hätten vielmehr versucht, den Probanden geradezu zu zwingen, frei zu sein, zu seinen moralischen Überzeugungen zu stehen. Aber die meisten ergriffen diese Freiheit nicht. Und das werfe die Frage auf, warum sie im wahren Leben mehr Beharrungsstärke an den Tag legen sollten.
Parets Bestandsaufnahme dieser Experimente ist in ihrer Unvoreingenommenheit durchaus lesenswert. Man erfährt, dass in Milgrams Experiment der Versuchsleiter gar keinen Zwang ausgeübt hatte; und trotzdem seien die meisten Teilnehmer bis zum Äußersten gegangen. Paret gelingt es, den "Milgram-Schock" noch einmal spüren zu lassen. Das kann man durchaus schwindelerregend nennen. Aber es wird einfach nicht evident, was diese Experimente anderes lehren sollten als einmal mehr die Kritik von Machtstrukturen - oder umgekehrt die Verteidigung von sozialen Arrangements, in denen Menschen frei, also gemäß ihren Überzeugungen, handeln können.
Wohlgemerkt: Paret weiß, dass Milgram zwei Drittel seiner Versuchspersonen mühelos dazu brachte, "himmelschreiend abscheuliche" Dinge zu tun. Aber er will uns gleichzeitig den leichten Ausweg verbauen, dass wir damit nicht gemeint seien, weil wir in einer sozialen Wirklichkeit lebten, die niemals jemanden zu solchen Dingen zwingen würde. Falsch, mahnt Paret, Milgrams Experiment errege vielmehr den Verdacht, dass wir uns auch in unserem Alltag "in seiner unablässigen Wiederaufführung" befänden.
Wenn es also stimmt, dass Milgram nicht die Ausnahme lehrt, sondern die Regel, dann stehe zu befürchten, dass "Normalmenschen" sich in der Welt jenseits des Labors erst recht verbiegen ließen. Kurz: Milgram und Asch lieferten keine Ideen, wie man das Labor als freier Mensch verlassen könne; sie raubten uns allerdings die Illusion, ohne das Labor auskommen zu können, und schickten uns darum zurück in dasselbe. Paret scheint also nicht an die Kritik der Strukturen zu glauben. Er setzt auf die Übung. Geht ins Labor, lasst euch testen! Paret will die Experimente von Milgram und Asch nicht interpretieren oder moralisieren, er will sie offenbar tatsächlich nachmachen. Es gehe ihm um das Projekt, "emanzipative Ökosysteme" zu konstruieren, nämlich unter der Prämisse, dass die meisten Menschen nur unter deren künstlichen Bedingungen Freiheit erlangten - oder gar nicht.
Mal abgesehen davon, dass Experimente wie die von Milgram nur funktionieren können, wenn die Versuchspersonen vorher noch nie etwas über dieses Experiment gehört haben. Das Experiment kann also nur ein Selbstversuch sein. Aber was ist das anderes als eine permanente Gewissensprüfung? Bin ich zu folgsam? Akzeptiere ich Autorität, ohne diese zunächst auf ihre Legitimität zu überprüfen? Bin ich etwa ein biegsamer Normalmensch? Am Ende der Lektüre beschleicht den Leser der Verdacht, dass diese Quintessenz auch leichter zu haben gewesen wäre. GERALD WAGNER
Christoph Paret: "Fabrikation der Freiheit". Über die Konstruktion emanzipativer Settings.
Konstanz University Press, Konstanz 2021. 376 S., br., 34,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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