Diagramme, Zeitreihen, Netzwerke, Histogramme… Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren hätte man in Artikeln über das Kino und die Musik, die Literatur und die bildende Kunst noch nichts davon gefunden. Die Visualisierung kultureller Daten ist es, was die digital humanities auf den ersten Blick von den älteren geisteswissenschaftlichen Verfahren unterscheidet. In seinem neuen Buch reflektiert Franco Moretti einige der stillschweigend geteilten, manchmal vielleicht nur unbewusst mitgeführten Prämissen dieser neuen Untersuchungspraxis – geleitet von der Überzeugung, dass diese Praxis sehr starke theoretische Voraussetzungen mit sich führt, die offen gelegt werden müssen. "Falsche Bewegung" bietet eine ebenso ehrliche wie anspruchsvoll-kritische Einschätzung der sogenannten "quantitativen" Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, zu der der Autor selbst mit der Gründung des Literary Lab 2010 in Stanford einen entscheidenden Impuls gegeben hat. Seine Synthese, die die Wegmarken abschreitet, die nach und nach auf der Forschungsroute der hier versammelten Beiträge erreicht wurden, eröffnet neue Perspektiven auf das, was für die humanities an diesem strategischen Wendepunkt auf dem Spiel steht: Was hat der quantitative Ansatz erreicht, welche Erwartungen wurden (nicht) erfüllt und was geschieht mit der wissenschaftlichen Vorstellungskraft in den humanities, wenn Probleme der Statistik und Programmierung Fragen nach der Form in den Hintergrund drängen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Lesen Sie doch mehr über Lektüren der Lektüre
Er war der Wegbereiter, nun zeigt er sich als Skeptiker: Franco Morettis ernüchternde Bilanz zur von ihm selbst vor zwanzig Jahren propagierten digitalen Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften.
Von Sigrid Weigel
Als Aby Warburg im Frühjahr 1897 eine erste systematische Summe seines Versuchs, eine Symboltheorie auf Grundlage naturwissenschaftlicher Konzepte zu entwickeln, in ein eigens dafür angelegtes Notizheft eintrug, versah er sie mit der Bemerkung "Husarenstimmung aus Californien grämlichem Preußentum gewichen". Zwar liegt dem italoamerikanischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti das Preußentum gewiss fern, doch spricht aus seinem neuen Buch eine ähnliche Enttäuschung. Enthusiasmus und hochfliegende Erwartungen, das Fach mit distant reading und "quantitativer Literaturwissenschaft" radikal umzukrempeln, sind einer ernüchternden Bilanz gewichen.
Zur Jahrtausendwende hatte Moretti eine Kehrtwende der Literaturwissenschaft propagiert, um den nationalliterarischen Blick und exklusiv europäischen Kanon zur "planetarischen" Dimension der "Weltliteratur" hin zu öffnen. Da diese aber allein der schieren Textmenge wegen von keinem menschlichen Leser zu überblicken, geschweige denn zu analysieren ist, empfahl er distant reading - nach ihm nichts weniger als "Bedingung der Erkenntnis". Mit der computergestützten Erfassung umfangreicher Textmengen und deren automatisierter Auswertung anhand einzelner Kriterien (so etwa Titellängen, Absätze, Dialoge, lexikalische Vielfalt) zielte Morettis quantitative Analyse auf eine Literaturgeschichte der longue durée nach dem Vorbild der Annales-Schule. Je ambitionierter das Projekt, umso größer die Distanz zum Text, so Moretti seinerzeit.
Zwei Jahrzehnte später und nach einer ganzen Reihe quantitativer Studien im von ihm begründeten Stanford Literary Lab liest man nun: "Ein absurdes Ergebnis: Die Literaturforschung wurde mathematisiert - und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen." Am Anfang stand der Gestus der Rettung des "great unread", der unendlichen Menge vergessener Literatur; doch zeigt sich nun, dass das Vermessen des Vergessenen nicht unbedingt der Königsweg zu neuem Wissen ist. Dafür steht der Titel "Falsche Bewegung", nach Wim Wenders' Film von 1975 und dessen Schlussstatement, jede neue Bewegung bringe ein weiteres Versäumnis hervor. Mit Goethes Rede vom "Versäumten" beklagt Moretti vor allem den Verlust von Theorie bei wachsender Dominanz von Statistik und "datengetriebenen" Studien auf dem Wege von der quantitativen Literaturanalyse zu den digital humanities, deren jüngster Siegeszug von der Drittmittelpolitik der Digitalisierungsagenda getriggert ist.
Das Sympathische des Buches ist, dass Morettis Reflexionen über die begrenzten Erkenntnisse und reduktionistischen Effekte quantitativer Analysen das eigene mit Verve begonnene Unternehmen nicht ausschließt. Doch fragt man sich, ob es wirklich des Einsatzes so umfangreicher Ressourcen brauchte, um festzustellen, "dass große Zahlen im Bereich der Kultur nicht genauso funktionieren wie im Bereich der Ökonomie". Zumal sein kritischer Rückblick den Effekt hat, dass der Funke jener Leidenschaft, die Studien und Pamphlete des Literary Lab befeuert habe (so Moretti), beim Lesen nicht so recht überspringen mag.
Besonders die ersten drei Kapitel, in denen die Wege und Umwege zur Erkenntnis, "dass sich bestimmte Forschungsrichtungen hartnäckig gegenseitig ausschließen", en détail nachgezeichnet werden, sind eher mühsam zu lesen. Tatsächlich handelt das Buch nämlich von zweierlei Enttäuschung. Neben der kritischen Bilanz der digitalen Wende, deren Programme literarische Texte oft wie "Wortsäcke" behandeln und die Form ignorieren, so Moretti, geht es um das Scheitern eines zweiten, ehrgeizigeren Vorhabens, das aus der Enttäuschung des ersteren entstand: eine theoretische Synthese aus Hermeneutik und Quantifizierung beziehungsweise der "Traum" einer "zukünftigen Literaturtheorie". Doch auch dieser Traum ist zerstoben, da wegen der Inkompatibilität der Zugangsweisen "offenbar keine Synthese möglich ist". Irritierend, dass diese für ein dialektisch geschultes Denken wenig überraschende Erkenntnis von Moretti als "erstaunliche Entdeckung" präsentiert wird. Im Nachvollzug der Genese dieser Einsicht schwankt die Darstellung sichtlich zwischen Rechtfertigung und Desillusionierung. Denn aufgeben will Moretti weder sein distant reading noch den Traum "schöner Theorien". Deren Entwurf wird im Schlusswort der "intellektuellen Verwegenheit" und "wissenschaftlichen Phantasie" künftiger Geister überantwortet.
Es empfiehlt sich, das Buch vom Ende her zu lesen. Das letzte Kapitel über "das Quantitative als Verheißung und Problem" ist besonders interessant, weil darin eine Reihe exemplarischer Untersuchungen aus dem Literary Lab zusammenfassend referiert, deren Befunde befragt und diese Auswertung in eine kritische Bestandsaufnahme der "quantitativen Wende" und der Entwicklung der digital humanities eingebettet werden. Die Diagnose zu letzterer: "eine Lawine kleinerer Studien ohne jede geistige Synthese". Und diese Lawine ist offensichtlich auch über das distant reading und über Morettis an der Morphologie orientiertem "quantitativen Formalismus" geschwappt und hat dabei die theoretischen Ambitionen mitgerissen.
Aus den theoretischen Vorbildern seiner eigenen quantitativen Studien stechen zwei Schlüsselreferenzen heraus, indem diese gleichlautend mehrfach zitiert werden: Vladimir Propps "Morphologie des Märchens" und die einzige Zeichnung in Charles Darwins "Natural Selection", das Baumdiagramm zum "Ursprung der Arten". Propps Zerlegung unzähliger Märchen in Handlungseinheiten und Darwins Genealogie der Arten standen Pate für Morettis "quantitative Morphologie" literarischer Texte. Indem Texte auf "grundlegende formale Elemente reduziert" werden, sei man mit einer "Form zweiten Grades" konfrontiert, die, so der Autor, ungewöhnliche analytische Erkenntnisse ermögliche - sogar die Entstehung einer neuen Form in der longue durée nachzuzeichnen. Dennoch muss Moretti einräumen, dass seine Idee, "die Annales der Literatur zu schaffen", zwar ein "kristallklares", aber "ziemlich unmögliches Ziel" war.
Besonders lesenswert ist auch das vorletzte Kapitel, in dem die theoretischen Implikationen der Visualisierungspraxis quantitativer Studien beleuchtet werden. In einer Art Metaanalyse zahlreicher Artikel zur quantitativen Literatur- und Kulturanalyse arbeitet Moretti heraus, wie die Reduktion der untersuchten Gegenstände auf einzelne Kategorien auf einer zweiten Ebene gleichsam verdoppelt wird: durch die Abstraktion der Datenvisualisierung. Zentrales Beispiel sind die vorherrschenden chronographischen Diagramme, mit deren Hilfe die vermessenen Merkmale im Zeitverlauf sichtbar gemacht werden, um das Ergebnis dann als "Trend" zu lesen. In diesem Zusammenhang beobachtet er zudem ein Überangebot an Studien zum neunzehnten Jahrhundert, das sich aus der schlichten Tatsache digitaler Verfügbarkeit erklärt: Ältere Bücher sind selten automatisch lesbar, jüngere aus Urheberrechtsgründen nicht online zugänglich. So wird der Trend zu dem Schlüsselwort digitaler Kulturgeschichte, eine "Art statistisches Phantom", so Moretti.
Zwischen der desillusionierten Synthese und der Kritik der digitalen Wende steht - einer Zentraltafel im Triptychon des Buches gleich - ein Kapitel zur Operationalisierung von Aby Warburgs "Pathosformeln", für Moretti ein eher gelungenes Beispiel der Laborforschung. Um der Frage nach dem Formelcharakter der Pathosgebärden nachzugehen, wurden die Körperbewegungen auf Bildern des Mnemosyne-Atlas in "Gerippe-Vektoren" verwandelt, um mithilfe der automatisierten Analyse Cluster ähnlicher Bewegungen zu identifizieren. Im Ergebnis konnten die Pathosformeln, Warburgs "Superlative der Gebärdensprache", von den übrigen Bewegungen unterschieden werden. Dass hier "Quantität und Qualität einander erhellen", wie Moretti resümiert, ist allerdings wenig plausibel. Denn in den Strichmännchen wird ja im Grunde die Abstraktion von malerischen Qualitäten (wie Farbe und Format) in den von Warburg genutzten Schwarz-Weiß-Reproduktionen, die die Gebärden hervortreten lässt, weiter forciert. Und während die kulturwissenschaftliche Forschung zur Pathosformel durch die Feststellung, dass diese sich von den übrigen Bewegungen unterscheiden, keine neuen Einsichten gewinnt, greift Moretti, um dem Ergebnis der algorithmischen Vermessung einen Sinn zu geben, auf kulturwissenschaftliche Arbeiten zu den Pathosformeln und deren psychohistorische Bedeutung zurück. Die Erhellung ist da eher einseitig.
Im abschließenden Rückblick erläutert Moretti noch einmal sein ursprüngliches Motiv, als Marxist nach einer materialistischen Geschichtsschreibung gesucht zu haben. Im Rückblick wird sein Vorhaben des distant reading damit aus dem Klima poststrukturalistischer Theoriediskurse an amerikanischen Literatur-Departments vor der Jahrtausendwende verständlich, deren Lektürepraxis sich nicht selten in Endlosschleifen von Lektüren-der-Lektüren-der-Lektüren verlor. Heimgesucht von der digitalen Wende wirkt der Autor nun jedoch wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Von hier aus lohnt sich ein Blick zurück auf die Weggabelung zur "Falschen Bewegung", an der 2013, im selben Jahr wie "Distant Reading", auch Morettis großartiges Buch "Der Bourgeois" erschien: Darin entsteht aus der genauen Lektüre europäischer Romanliteratur eine Mentalitätsgeschichte des Bürgertums.
Franco Moretti: "Falsche Bewegung". Die digitale Wende in den Literatur-und Kulturwissenschaften.
Aus dem Englischen von Bettina Engels. Konstanz University Press, Göttingen 2022. 175 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er war der Wegbereiter, nun zeigt er sich als Skeptiker: Franco Morettis ernüchternde Bilanz zur von ihm selbst vor zwanzig Jahren propagierten digitalen Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften.
Von Sigrid Weigel
Als Aby Warburg im Frühjahr 1897 eine erste systematische Summe seines Versuchs, eine Symboltheorie auf Grundlage naturwissenschaftlicher Konzepte zu entwickeln, in ein eigens dafür angelegtes Notizheft eintrug, versah er sie mit der Bemerkung "Husarenstimmung aus Californien grämlichem Preußentum gewichen". Zwar liegt dem italoamerikanischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti das Preußentum gewiss fern, doch spricht aus seinem neuen Buch eine ähnliche Enttäuschung. Enthusiasmus und hochfliegende Erwartungen, das Fach mit distant reading und "quantitativer Literaturwissenschaft" radikal umzukrempeln, sind einer ernüchternden Bilanz gewichen.
Zur Jahrtausendwende hatte Moretti eine Kehrtwende der Literaturwissenschaft propagiert, um den nationalliterarischen Blick und exklusiv europäischen Kanon zur "planetarischen" Dimension der "Weltliteratur" hin zu öffnen. Da diese aber allein der schieren Textmenge wegen von keinem menschlichen Leser zu überblicken, geschweige denn zu analysieren ist, empfahl er distant reading - nach ihm nichts weniger als "Bedingung der Erkenntnis". Mit der computergestützten Erfassung umfangreicher Textmengen und deren automatisierter Auswertung anhand einzelner Kriterien (so etwa Titellängen, Absätze, Dialoge, lexikalische Vielfalt) zielte Morettis quantitative Analyse auf eine Literaturgeschichte der longue durée nach dem Vorbild der Annales-Schule. Je ambitionierter das Projekt, umso größer die Distanz zum Text, so Moretti seinerzeit.
Zwei Jahrzehnte später und nach einer ganzen Reihe quantitativer Studien im von ihm begründeten Stanford Literary Lab liest man nun: "Ein absurdes Ergebnis: Die Literaturforschung wurde mathematisiert - und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen." Am Anfang stand der Gestus der Rettung des "great unread", der unendlichen Menge vergessener Literatur; doch zeigt sich nun, dass das Vermessen des Vergessenen nicht unbedingt der Königsweg zu neuem Wissen ist. Dafür steht der Titel "Falsche Bewegung", nach Wim Wenders' Film von 1975 und dessen Schlussstatement, jede neue Bewegung bringe ein weiteres Versäumnis hervor. Mit Goethes Rede vom "Versäumten" beklagt Moretti vor allem den Verlust von Theorie bei wachsender Dominanz von Statistik und "datengetriebenen" Studien auf dem Wege von der quantitativen Literaturanalyse zu den digital humanities, deren jüngster Siegeszug von der Drittmittelpolitik der Digitalisierungsagenda getriggert ist.
Das Sympathische des Buches ist, dass Morettis Reflexionen über die begrenzten Erkenntnisse und reduktionistischen Effekte quantitativer Analysen das eigene mit Verve begonnene Unternehmen nicht ausschließt. Doch fragt man sich, ob es wirklich des Einsatzes so umfangreicher Ressourcen brauchte, um festzustellen, "dass große Zahlen im Bereich der Kultur nicht genauso funktionieren wie im Bereich der Ökonomie". Zumal sein kritischer Rückblick den Effekt hat, dass der Funke jener Leidenschaft, die Studien und Pamphlete des Literary Lab befeuert habe (so Moretti), beim Lesen nicht so recht überspringen mag.
Besonders die ersten drei Kapitel, in denen die Wege und Umwege zur Erkenntnis, "dass sich bestimmte Forschungsrichtungen hartnäckig gegenseitig ausschließen", en détail nachgezeichnet werden, sind eher mühsam zu lesen. Tatsächlich handelt das Buch nämlich von zweierlei Enttäuschung. Neben der kritischen Bilanz der digitalen Wende, deren Programme literarische Texte oft wie "Wortsäcke" behandeln und die Form ignorieren, so Moretti, geht es um das Scheitern eines zweiten, ehrgeizigeren Vorhabens, das aus der Enttäuschung des ersteren entstand: eine theoretische Synthese aus Hermeneutik und Quantifizierung beziehungsweise der "Traum" einer "zukünftigen Literaturtheorie". Doch auch dieser Traum ist zerstoben, da wegen der Inkompatibilität der Zugangsweisen "offenbar keine Synthese möglich ist". Irritierend, dass diese für ein dialektisch geschultes Denken wenig überraschende Erkenntnis von Moretti als "erstaunliche Entdeckung" präsentiert wird. Im Nachvollzug der Genese dieser Einsicht schwankt die Darstellung sichtlich zwischen Rechtfertigung und Desillusionierung. Denn aufgeben will Moretti weder sein distant reading noch den Traum "schöner Theorien". Deren Entwurf wird im Schlusswort der "intellektuellen Verwegenheit" und "wissenschaftlichen Phantasie" künftiger Geister überantwortet.
Es empfiehlt sich, das Buch vom Ende her zu lesen. Das letzte Kapitel über "das Quantitative als Verheißung und Problem" ist besonders interessant, weil darin eine Reihe exemplarischer Untersuchungen aus dem Literary Lab zusammenfassend referiert, deren Befunde befragt und diese Auswertung in eine kritische Bestandsaufnahme der "quantitativen Wende" und der Entwicklung der digital humanities eingebettet werden. Die Diagnose zu letzterer: "eine Lawine kleinerer Studien ohne jede geistige Synthese". Und diese Lawine ist offensichtlich auch über das distant reading und über Morettis an der Morphologie orientiertem "quantitativen Formalismus" geschwappt und hat dabei die theoretischen Ambitionen mitgerissen.
Aus den theoretischen Vorbildern seiner eigenen quantitativen Studien stechen zwei Schlüsselreferenzen heraus, indem diese gleichlautend mehrfach zitiert werden: Vladimir Propps "Morphologie des Märchens" und die einzige Zeichnung in Charles Darwins "Natural Selection", das Baumdiagramm zum "Ursprung der Arten". Propps Zerlegung unzähliger Märchen in Handlungseinheiten und Darwins Genealogie der Arten standen Pate für Morettis "quantitative Morphologie" literarischer Texte. Indem Texte auf "grundlegende formale Elemente reduziert" werden, sei man mit einer "Form zweiten Grades" konfrontiert, die, so der Autor, ungewöhnliche analytische Erkenntnisse ermögliche - sogar die Entstehung einer neuen Form in der longue durée nachzuzeichnen. Dennoch muss Moretti einräumen, dass seine Idee, "die Annales der Literatur zu schaffen", zwar ein "kristallklares", aber "ziemlich unmögliches Ziel" war.
Besonders lesenswert ist auch das vorletzte Kapitel, in dem die theoretischen Implikationen der Visualisierungspraxis quantitativer Studien beleuchtet werden. In einer Art Metaanalyse zahlreicher Artikel zur quantitativen Literatur- und Kulturanalyse arbeitet Moretti heraus, wie die Reduktion der untersuchten Gegenstände auf einzelne Kategorien auf einer zweiten Ebene gleichsam verdoppelt wird: durch die Abstraktion der Datenvisualisierung. Zentrales Beispiel sind die vorherrschenden chronographischen Diagramme, mit deren Hilfe die vermessenen Merkmale im Zeitverlauf sichtbar gemacht werden, um das Ergebnis dann als "Trend" zu lesen. In diesem Zusammenhang beobachtet er zudem ein Überangebot an Studien zum neunzehnten Jahrhundert, das sich aus der schlichten Tatsache digitaler Verfügbarkeit erklärt: Ältere Bücher sind selten automatisch lesbar, jüngere aus Urheberrechtsgründen nicht online zugänglich. So wird der Trend zu dem Schlüsselwort digitaler Kulturgeschichte, eine "Art statistisches Phantom", so Moretti.
Zwischen der desillusionierten Synthese und der Kritik der digitalen Wende steht - einer Zentraltafel im Triptychon des Buches gleich - ein Kapitel zur Operationalisierung von Aby Warburgs "Pathosformeln", für Moretti ein eher gelungenes Beispiel der Laborforschung. Um der Frage nach dem Formelcharakter der Pathosgebärden nachzugehen, wurden die Körperbewegungen auf Bildern des Mnemosyne-Atlas in "Gerippe-Vektoren" verwandelt, um mithilfe der automatisierten Analyse Cluster ähnlicher Bewegungen zu identifizieren. Im Ergebnis konnten die Pathosformeln, Warburgs "Superlative der Gebärdensprache", von den übrigen Bewegungen unterschieden werden. Dass hier "Quantität und Qualität einander erhellen", wie Moretti resümiert, ist allerdings wenig plausibel. Denn in den Strichmännchen wird ja im Grunde die Abstraktion von malerischen Qualitäten (wie Farbe und Format) in den von Warburg genutzten Schwarz-Weiß-Reproduktionen, die die Gebärden hervortreten lässt, weiter forciert. Und während die kulturwissenschaftliche Forschung zur Pathosformel durch die Feststellung, dass diese sich von den übrigen Bewegungen unterscheiden, keine neuen Einsichten gewinnt, greift Moretti, um dem Ergebnis der algorithmischen Vermessung einen Sinn zu geben, auf kulturwissenschaftliche Arbeiten zu den Pathosformeln und deren psychohistorische Bedeutung zurück. Die Erhellung ist da eher einseitig.
Im abschließenden Rückblick erläutert Moretti noch einmal sein ursprüngliches Motiv, als Marxist nach einer materialistischen Geschichtsschreibung gesucht zu haben. Im Rückblick wird sein Vorhaben des distant reading damit aus dem Klima poststrukturalistischer Theoriediskurse an amerikanischen Literatur-Departments vor der Jahrtausendwende verständlich, deren Lektürepraxis sich nicht selten in Endlosschleifen von Lektüren-der-Lektüren-der-Lektüren verlor. Heimgesucht von der digitalen Wende wirkt der Autor nun jedoch wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Von hier aus lohnt sich ein Blick zurück auf die Weggabelung zur "Falschen Bewegung", an der 2013, im selben Jahr wie "Distant Reading", auch Morettis großartiges Buch "Der Bourgeois" erschien: Darin entsteht aus der genauen Lektüre europäischer Romanliteratur eine Mentalitätsgeschichte des Bürgertums.
Franco Moretti: "Falsche Bewegung". Die digitale Wende in den Literatur-und Kulturwissenschaften.
Aus dem Englischen von Bettina Engels. Konstanz University Press, Göttingen 2022. 175 S., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel kennt ihren in Stanford lehrenden italienischen Kollegen als schillernden Theoretiker, der einerseits mit genauer Lektüre aus dem europäischen Roman eine Mentalitätsgeschichte des Bürgertums destillierte, anderseits zum Propagandisten des Distant Readings wurde. In seiner Studie "Falsche Bewegung" nun vollzieht er eine radikale Kehrtwende und erklärt das Projekt der "digital humanities" für gescheitert. Das überrascht Weigel nicht, die quantitative Literaturanalyse scheint ihr von vornherein allein einer fragwürdigen Drittmittelpolitik geschuldet gewesen zu sein. Dass Moretti sich so erstaunt über das Scheitern zeigt, verwundert die Rezensentin allerdings, als alter Marxist hätte er ahnen können, wie ttheoriearm ein quantitativer Zugriff sei. Auch als Kenner von Aby Warburg hätte er es besser wissen müssen. Schon Warburg kommentierte, wie Weigel zitiert, seinen eigenen gescheiterten Versuch, Symboltheorie mathematisch zu konzipieren: "Husarenstimmung aus Californien grämlichem Preußentum gewichen".
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»Pflichtlektüre für alle (...), die weiterhin besinnungs- und geistlos in die digitale Wende in den Literatur- und Geisteswissenschaften investieren.« (Eva Geulen, ZfL-Blog, 25.11.2022)