Die verschiedenen Seiten der Wahrheit
Johannas Vater verschwand am 4.10.1989, kurz vor der Wende, da war sie 2. Sie ist 19, als er sich plötzlich bei ihr meldet. Für sie ist er nicht Papa oder Vater, sondern Jens - er war ja nie da, aber sie hat ihn auch nicht vermisst. „Er ist wie der geflügelte
Tiger auf der Landkarte, ein Fabelwesen aber trotzdem irgendwie da.“
Natürlich hat sie sich so ihre…mehrDie verschiedenen Seiten der Wahrheit
Johannas Vater verschwand am 4.10.1989, kurz vor der Wende, da war sie 2. Sie ist 19, als er sich plötzlich bei ihr meldet. Für sie ist er nicht Papa oder Vater, sondern Jens - er war ja nie da, aber sie hat ihn auch nicht vermisst. „Er ist wie der geflügelte Tiger auf der Landkarte, ein Fabelwesen aber trotzdem irgendwie da.“
Natürlich hat sie sich so ihre Gedanken gemacht, was damals passiert ist. Ist er wirklich in den Westen abgehauen, wie ihre Mutter erzählt? Oder wurde er gar bei einem Fluchtversuch erwischt und verhaftet? Aber warum hat er sich nie gemeldet? Das wird plötzlich die zentrale Frage in Johannas Leben ...
Dabei ist dieses auch so schon aufregend genug. Sie macht gerade eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin in Berlin – wo auch ihr Vater wohnt, mit Blick auf einen Mauerrest, soviel hat er ihr am Telefon erzählt. Johanna könnte ihn also jederzeit treffen, ohne ihn zu (er)kennen.
Auch Johannas Beziehung zu ihrer Mutter ist heikel, beide wollen jeweils das Leben der anderen ändern, aber nicht ihr eigenes. Sie reden nicht wirklich miteinander und bei Fragen bekommt Johanna von ihr Ratgeber oder Bücher, nie einen Rat. Wobei, das stimmt nicht ganz, einen gibt sie ihr doch: „Und vielleicht hörst du mal auf, nach hinten zu schauen, und schaust stattdessen ein bisschen nach vorne.“
Zudem hat Johanna eine Affäre mit Karl, einem Kollegen. Auch er ist vaterlos, das verbindet sie seines Erachtens. Karl weiß, was er im Leben will – reisen, so viel und so weit wie möglich, eine Heimat suchen. Johanna sieht das anders: „Vielleicht muss man, um sich zu Hause zu fühlen, einfach lange genug an einem Ort bleiben ...“
Das Buch ist wie „Nach-Hause-Kommen“ – es fühlt sich vertraut an und bereitet doch Herzklopfen. Ich kenne Berlin, mein Bruder wohnt mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen, im Hof ist ein Gedenkstein. Manchmal reden wir darüber und es ist immer noch unwirklich.
Den Oberuckersee und die Umgebung, wo Johann aufgewachsen ist, kenne ich ebenfalls, mein Mann hat lange in Prenzlau gelebt.
Jens ist ein typischer DDR-Name, „Sonnenallee“ mein Lieblingsfilm und die erwähnte DDR-Musik kann ich sofort mitsummen.
Die Geschichte ruft bei mir eine echte Gänsehaut hervor! Und sie macht nachdenklich, wirkt stellenweise surreal, wirft Fragen auf:
Steht die Straßenbahn für Johannas Ziellosigkeit im Umgang mit Jens und ihrer Suche nach festen Strukturen im Leben?
Die immer wiederkehrende Badewanne bzw. blaue Zinkwanne: Steht sie für das Abwaschen von etwas? Ärger, Wut, Einsamkeit?! Die Geschichte geht viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint.
Als ich die „Familie der geflügelten Tiger“ zu Ende gelesen hatte, habe ich mich erst mal geärgert: es hat mir nicht gefallen, zu viele Fragen sind offen geblieben. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto logischer wurde es. Johanna ist endlich angekommen. Sie muss nicht alles wissen: „In einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten.“
Manchmal muss man einfach nach vorn schauen und mit der Vergangenheit abschließen ...
Der Roman ist angenehm unauffällig und zurückhaltend, (be)wertet nicht, will nicht überzeugen. Er ist leise, aber nicht anschmiegsam, nichts für zwischendurch sondern regt zur Reflexion an. Durch ihn hab ich wieder an meine Kindheit und Jugend (in der DDR) gedacht, mich erinnert. Es hat Spaß gemacht zu überlegen, wie wir eigentlich zu dem geworden sind, was wir jetzt sind.