Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Geld, Geist und Kunst: Hermine Wittgensteins "Erinnerungen" machen mit einer besonderen Wiener Familie näher bekannt, die eigenwillige und auch sehr berühmte Figuren hervorbrachte.
So eine Flucht wäre aber für meine Schwester das Allerunmöglichste gewesen." Das ist unüberhörbar ein Thomas-Bernhard-Satz. Wenn auch einer, der nicht bei Bernhard steht. Obwohl er tatsächlich eine Verbindung unterhält zu dessen Texten, denn er findet sich in den Erinnerungen an eine Familie, auf die Bernhard öfter zurückkam. Niedergeschrieben hat ihn Hermine Wittgenstein, ältere Schwester des Philosophen Ludwig und des Pianisten Paul.
Die Schwester, die sich nicht in die Flucht treiben ließ - nämlich von den Hindernissen beim Spendensammeln in den Vereinigten Staaten für ein Kinderhilfswerk in Österreich nach 1918 -, ist Margaret Stonborough-Wittgenstein, für die Ludwig wenige Jahre später das berühmte Stadthaus in der Wiener Kundmanngasse baute.
Die "Familienerinnerungen" Hermine Wittgensteins sind kein ganz unbekannter Text. Einige Passagen aus ihnen sind insbesondere in Darstellungen des Lebens von Ludwig eingegangen. Vor allem über das biographische Interesse an einem der hervorstechendsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts kam die gesamte außergewöhnliche Familie in den Blick. Vor einigen Jahren erschien eine erste, wenn auch ziemlich missglückte Familiengeschichte (F.A.Z. vom 17. September 2009). Eine Auswahl von Briefen, die unter den Familienmitgliedern gewechselt wurden, liegt seit längerer Zeit schon vor, auch Tagebücher von Hermine.
Die "Familienerinnerungen" schrieb Hermine, ältestes der acht Geschwister, und damals bereits siebzig, von 1944 an nieder, zuerst noch in Wien, nach den ersten Bombenangriffen der Alliierten auf der Hochreit, dem Landhaus der Familie in den Voralpen, mit dem Näherrücken der Ostfront dann in Gmunden am Traunsee, in Margarets "Villa Toscana", schließlich wieder auf der Hochreit. Gedacht waren sie für die weitverzweigte Familie, unter deren Mitgliedern sie in Typoskript-Kopien weitergegeben wurden.
Die "Erinnerungen" nehmen den Faden der Familiengeschichte bei den Großeltern väterlicherseits auf, deren Sohn Karl dann in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Aufstieg zum österreichischen Stahlmagnaten und einem der reichsten Männer der Monarchie gelingt. Hermine und ihre Geschwister erben 1913 von ihm riesige Vermögen. Dass Ludwig auf seinen Erbteil schließlich verzichtet, ist eine von vielen Eigensinnigkeiten, mit denen die Geschwister aufwarten und die einem, je mehr man über diese Familie liest, desto weniger wundernehmen. Nicht deshalb, weil man die Charaktere klar vor sich hätte, dafür sind die "Erinnerungen" viel zu lückenhaft, auch zu anspruchslos geschrieben. Aber trotzdem meint man mit ihnen ein klein wenig besser verstehen zu können, in welcher Nährlösung die "ziemlich harten und scharfhäutigen Brocken" entstehen, als die Ludwig einmal in einem Brief an Hermine die Geschwister beschreibt.
Die überlebenden Geschwister, wie man gleich hinzufügen muss, denn von den zwei oder vielleicht sogar drei Brüdern, die ihrem Leben in jungen Jahren ein Ende setzten, ist in den "Erinnerungen" fast gar nicht oder nur in Andeutungen die Rede. Ein Regime hoher Ansprüche an sich selbst, das seine schneidenden Seiten hatte, gehörte zur Familientradition, aber auch das Eintauchen in Kunst, insbesondere in die Musik. Das Palais Wittgenstein war eine der ersten Adressen des reichen musikalischen Lebens in Wien, Karl Wittgenstein ein großzügiger Förderer von Musikern und bildenden Künstlern, Hermine als sein "Kunstdirektor" mit Erwerbungen beschäftigt.
Die vielfältigen mäzenatischen und karitativen Aktivitäten der Familienmitglieder änderten nichts daran, dass die Geschwister nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 plötzlich als Juden galten, weil drei ihrer Großeltern aus jüdischen Familien stammten. Am Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen ist das von Hermine mit großem persönlichem Einsatz geführte Jugendheim bereits als Quartier der Hitlerjugend in Beschlag genommen. Ein überstürzter Plan, sie und ihre Schwester Helene außer Landes zu bringen, hätte fast fatale Folgen gehabt. Dann geht man den Weg, den Schwestern den Schutz vor Verfolgung - über Zuteilung der "Mischlingseigenschaft" - durch Überlassung von Teilen des im Ausland angelegten Vermögens zu erkaufen, in langwierigen, bis wenige Wochen vor Kriegsausbruch sich hinziehenden Verhandlungen mit Stellen der Deutschen Reichsbank in Berlin, die diese Erpressung abwickeln.
Die "Familienerinnerungen" geben von diesen Unterhandlungen einen recht detailreichen Bericht. Sonst ist über die Jahre nach 1938 wenig zu erfahren, nur eingeschobene "Zwischenblätter" markieren den Zeithintergrund der betagten Schreiberin, die Bombardierungen, das Vorrücken der alliierten Fronten, schließlich die Befreiung Österreichs. Hermine Wittgenstein starb nur fünf Jahre später, nachdem sie ihrem Manuskript noch Erinnerungen an ihre Tanten und Onkel angefügt hatte.
Der Band, von der Herausgeberin mit einem stattlichen Kommentarteil versehen, ist Auftakt zu einer Edition von Briefen und Aufzeichnungen aus dem Nachlass von Margaret Stonborough-Wittgenstein, die das Innsbrucker Brenner-Archiv erworben hat. Das Bild dieser Familie, die so beeindruckende Figuren hervorbrachte, wird also an Facetten noch weiter gewinnen.
HELMUT MAYER
Hermine Wittgenstein: "Familienerinnerungen". Hrsg. von Ilse Somavilla.
Haymon Verlag, Innsbruck 2015. 542 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main