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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Telefon- und Wohnungsüberwachung von Oppositionellen während der 1980er Jahre
Die DDR sei "in der Konsequenz ein Unrechtsstaat" gewesen; diese Formulierung in der Präambel zu einem möglichen rot-rot-grünen Koalitionsvertrag in Thüringen sorgte für Aufregung im Lager der Linken. "Neues Deutschland", die Kommunistische Plattform, die thüringische Landtagsabgeordnete Ina Leukefeld, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Gesine Lötsch, und nicht zuletzt der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi widersprachen heftig: "Wir sind uns einig, diese Bezeichnung nicht zu verwenden." Rabulistisch legte Gysi nach, die DDR sei "zwar kein Unrechtsstaat gewesen, aber auch kein Rechtsstaat".
Ein ganz anderes Bild vermittelt der Band "Fasse Dich kurz". Diejenigen, die sich über das wahre Gesicht der DDR informieren wollen, seien auf den dicken Wälzer nachdrücklich hingewiesen, der aus einem Forschungsprojekt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) hervorgegangen ist. Es handelt sich um eine erste Analyse der konspirativen Telefon- und Wohnungsüberwachung von DDR-Oppositionellen aus Ost-Berlin in den 1980er Jahren. Dafür wurden Tausende von Abhörprotokollen und zusammenfassenden Berichten des BStU gesichtet und ausgewertet, aus denen mit Zustimmung der Betroffenen 151 Dokumente für diese Edition ausgewählt wurden. Bislang waren diese Quellen nur im Ausnahmefall einsehbar. In den Dokumenten wird nicht nur das politische Denken und mutige Handeln von maßgeblichen Opponenten gegen das Regime wie Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Werner Fischer, Jürgen Fuchs, Ralf Hirsch, Freya Klier, Roland Jahn, Stephan Krawczyk, Ulrike und Gerd Poppe, Lutz Rathenow und Wolfgang Templin und anderen deutlich, sondern auch, wie die SED mit Andersdenkenden umging.
Einleitend beschreiben fünf Autoren auf 270 Seiten die systematische und grenzüberschreitende Überwachung von privaten wie dienstlichen Telefonen der Bürgerrechtler und ihrer Rolle in der DDR. Ilko-Sascha Kowalczuk stellt klar, dass diese gezielte Überwachung im historischen Kontext keineswegs vergleichbar und geeignet sei für eine gegenwärtige notwendig kritische Auseinandersetzung mit den Maßnahmen von Geheimdiensten in demokratischen Verfassungsstaaten. Kenntnisreich führt er in das komplexe System des SED-Sozialismus ein, schildert die Überwachungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das zur besseren Kontrolle und Disziplinierung des Netzwerks der "feindlich-negativen Elemente" bevorzugt Telefonanschlüsse genehmigte, beschreibt Entwicklung und Verfolgung der Opposition, vor allem in Ost-Berlin, die Rolle der "Kirche im Sozialismus" und kommt zu dem Schluss, dass die Stasi zwar eine zentrale Stütze des Systems war, sie allein aber die Diktatur ohne andere Stützen nicht so lange hätte mittragen können.
Das jahrelange Abhören in Kombination mit Haus- und Wohnungsüberwachungen und dem anonymen Heer der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), der wichtigsten Waffe des MfS, habe nur auf Anordnung durch die SED funktionieren können und sei in enger Rücksprache mit SED-Chef Erich Honecker und dem für das MfS zuständigen Politbüromitglied Egon Krenz als eine wichtige Quelle für Maßnahmen gegen politisch Unzuverlässige angesehen worden. Es könne also keine Rede davon sein, dass das MfS ein "abgeschirmter Staat im Staate" gewesen sei, wie etwa Krenz, der letzte Staatsratsvorsitzende, behauptet hat. Dieses Verfahren bedeutete nicht nur eine permanente Verletzung von Menschenrechten, sondern auch einen permanenten Bruch von Artikel 31 der DDR-Verfassung.
Arno Polzin und Andreas Schmidt befassen sich mit der grenzüberschreitenden Telefonüberwachung. Für das Überwachungssystem in der DDR unterhielt das MfS eine eigene Abteilung, die 1989 gleichzeitig 4000 Telefonanschlüsse abhören konnte, allein in Ost-Berlin 1400; in der Bundesrepublik waren 100 000 Fernmeldeanschlüsse unter der Zielkontrolle des MfS. Diese Quellenabschöpfung und die damit verbundenen Desinformationsmaßnahmen bedeuteten auch eine Verletzung der Vollzugsordnung "Funk" der Internationalen Fernmeldeunion, der die DDR als Vollmitglied beigetreten war, worauf Angela Schmole hinweist, die sich mit den Abhörmaßnahmen der Abteilung 26 und ihrer technischen Ausstattung vornehmlich im Ortsnetz von Ost-Berlin befasst.
Schließlich berichtet Wolfgang Templin, Anfang der 1970er Jahre selbst IM, von seinem Weg zur politischen Opposition und stellt die wichtige Rolle der "Initiative Frieden und Menschenrechte" heraus, zu deren Mitgründern er 1985/86 zählte. Er verschweigt nicht, dass unter den Opponenten immer wieder interne Spannungen wegen der Antragsteller auf Ausreise in die Bundesrepublik aufbrachen. Derartige Gruppenkonflikte wurden durch die perfide Strategie des MfS mittels seiner eingeschleusten IM geschürt, Eifersüchteleien entfacht und verstärkt, Verdachtsmomente und Indizien gegen Mitglieder konstruiert und präsentiert, die die Zusammenarbeit einzelner mit der Stasi suggerieren sollten. Die menschenverachtende Zersetzungstätigkeit des MfS mit Verhaftungen, Psychoterror, illegalen Wohnungsdurchsuchungen, Drohanrufen, anonymen Briefen und anderem mehr zerstörte viele Existenzen. Aus diesen Erfahrungen kritisiert er auch den Film "Das Leben der Anderen", der diese Maßnahmen des MfS um der dramaturgischen Effekte willen verharmlose.
Die Autoren sind sich bewusst, dass viele Gründe zur Erosion des Systems und schließlich zum Fall der Mauer beigetragen haben wie die Perestrojka, die tiefe wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise, die Massenflucht in den Westen und nicht zuletzt die West-Erfahrung, die die Arbeit der Oppositionellen gestützt und beflügelt habe.
Parallel dazu kann man die hervorragend kommentierten Dokumente nachlesen. Die Tonbandmitschnitte wurden mit allen dialektalen Eigenheiten wortgetreu abgeschrieben, was teilweise geradezu komisch wirkt. Dass sich die Oppositionsbewegung von der Observierung durch die Stasi wenig beeindrucken ließ, beruhte nicht nur darauf, dass sie sich der ständigen Kontrolle bewusst war, die sie umgehen oder gar austricksen konnte, sondern auch darauf, dass sie durch Kontakte und Telefoninterviews mit den ins "westliche Ausland" Abgeschobenen und mit westlichen Medien Öffentlichkeit herstellen und so auf einen gewissen Schutz hoffen konnte, da die SED bei zu scharfen Maßnahmen um ihr internationales Renommee fürchtete. Freimütig spricht etwa Wolfgang Templin mit Roland Jahn über die Präsenz der Stasi in seinem Hausflur, was ihn daran hindere, im Keller Kohlen zu holen; dies übernahm dann ein Nachbar.
Ein umfassendes Glossar, das Begriffe, Ereignisse und Organisationen erläutert, die in der Geschichte der Opposition und des MfS eine Rolle spielen, Kurzbiographien von Personen, die als direkt abgehörte oder als handelnde Personen mehrfach vorkommen, sowie ein Personenregister beschließen diese eindrucksvolle Dokumentation, die allerdings nur ein Spektrum aus der Vielfalt weiterer Unterdrückungsmechanismen des Unrechtsstaats DDR aufdeckt.
GÜNTER BUCHSTAB
Ilko Kowalczuk/Arno Polzin (Herausgeber): Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 1059 S., 69,99 [Euro].
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