Alles ist genauso passiert, soweit ich mich erinnere … Ihre Wege kreuzen sich schon, laufen nebeneinander, lange, bevor Alexander Osang beschließt, Uwes Geschichte aufzuschreiben. Und mit ihm aufbricht auf einem Schiff in die Vergangenheit. Die weißen Nächte über der Ostsee - sie sind fast hell, verheißungsvoll und trügerisch, so wie die Nachwendejahre, die beide geprägt haben. Doch während Uwe der Unbestimmte, Flirrende bleibt, während sich seine Geschichte im vagen Licht der Sommernächte auflöst, beginnt für Alexander Osang eine Reise zu sich selbst, getrieben von der Frage, wie er zu dem wurde, der er ist. Eindringlich und mit staunendem Blick erzählt er von den Zeiten des Umbruchs und davon, wie sich das Leben in der Erinnerung zu einer Erzählung verdichtet, bei der die Wahrheit vielleicht die geringste Rolle spielt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, B, BG, CY, CZ, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2021Flucht im Kofferraum des Diplomaten
Als das Leben für einige den roten Teppich ausrollte: Alexander Osang beschreibt zwei Leben nach 1989
Für eine "Spiegel"-Sonderbeilage zum dreißigsten Mauerfalljubiläum soll der Reporter Alexander Osang ein Porträt schreiben, das dem Leser den rätselhaften Ostdeutschen erklärt und dessen Wesen zumindest ein bisschen entschlüsselt. Selbst Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer umweht den Ostdeutschen noch etwas Geheimnisvolles. Osang, selbst Ostdeutscher, denkt sofort an Uwe, jenen schillernden Bekannten, dessen aufregendes Leben leicht ein Broadway-Musical inspirieren könnte oder einen Spielfilm. Er kennt Uwe aus seiner Zeit in New York, er scheint der perfekte Protagonist für ein schwieriges Vorhaben zu sein, und glücklicherweise stimmt er zu. Also begleitet Osang Uwe und dessen Mutter auf einer Reise, es geht mit dem Schiff von Helsinki nach St. Petersburg. Zwei Nächte Fähre, drei Tage St. Petersburg, viel Zeit für einen Reporter, um einem Menschen näherzukommen und ihm gut gehütete Geschichten zu entlocken.
Aber der Artikel erscheint nicht in der Sonderbeilage, denn Osangs Kollegen aus der Dokumentation des Magazins bereiten Uwes unmöglich zu verifizierende Abenteuergeschichten Unbehagen. Existierte Nastja, die mit einer chinesischen Armee Motorräder und Kühlschränke schmuggelte, tatsächlich? Was ist mit Andjschella aus Murmansk, die von sich behauptet, mit fünfzig immer noch fruchtbar zu sein? Ganz zu schweigen von Uwes Tante Antje, die im Kofferraum eines argentinischen Botschafters in den Westen flieht.
Osang ist erleichtert, ja froh, eine Last fällt von seinen Reporterschultern. Uwes Leben ist zu groß, zu aufregend, zu widersprüchlich, um es auf ein paar Seiten in einem Magazin abzuhandeln - und, was noch schwerer wiegt, es hat mehr mit Alexander Osang selbst und dessen Familiengeschichte zu tun, als er am Anfang des Projekts geahnt haben dürfte. Und so ist aus einer für ein Magazin geplanten Geschichte ein Buch geworden, das nun vorliegt, "Fast hell" heißt und am ehesten in die Kategorie erzählendes Sachbuch fällt.
"Die Leben der anderen helfen mir, mein eigenes besser zu verstehen. Wenn sie überleben, kann ich es auch", heißt es zu Beginn des Buchs, und was Osang mit diesen Sätzen meint, wird mit jeder Seite deutlicher. Osang erzählt nicht nur Uwes Geschichte, er erzählt auch seine eigene, eine Art Doppelporträt auf gut zweihundert Seiten.
Beginnen wir mit Uwe: Er ist Kindersprecher beim Berliner Rundfunk, stammt aus der Provinz, will Schauspieler werden wie der Großvater, flüchtet oft zu seiner Oma nach Eichenwalde, "in eine Gegenwelt mit Büchern, einem Klavier, den Schauspielergeschichten". Er ist schwul, sein Vater bevorzugt seinen Bruder Klaus, die Mutter fremdelt mit Uwes Liebe zu Männern. Uwe fühlt sich nie zugehörig, ein Fremder in einem verriegelten Land, Opfer der Umstände. Verzagen aber kommt für ihn nicht in Frage, denn die Welt, sie lockt, und als Uwe 24 Jahre alt ist, fällt die Mauer. Alles ist möglich. Das Leben rollt unversehens den roten Teppich aus, wenn auch längst nicht für alle.
Uwe jedenfalls betritt ihn, ohne zu zögern. Er lebt in Hongkong, wo die Hitze feucht und klebrig ist und jeder Geruch fremd. Er reist nach Argentinien, zieht nach New York, heuert bei einer Privatbank an, investiert in Immobilien, erlebt eine irre Geschichte nach der nächsten, und beim Lesen wird einem manchmal ganz schwindlig von den vielen Abenteuern, was auch daran liegen mag, dass der eigene Bewegungsradius seit Monaten schmerzhaft winzig ist. Geschichten des Aufbruchs elektrisieren gerade enorm.
Und Osang schreibt in seinem fesselnden Osang-Sound. Man begegnet einem routinierten Erzähler, der sich für Menschen interessiert und ihnen nicht nur Material für eine gute Story abluchst. Anders formuliert: Osang verrät seine Protagonisten nicht. Man glaubt ihm, wenn er von Skrupeln schreibt, von der Angst, einem Menschen nicht gerecht zu werden, weil es immer etwas Vermessenes hat, fremde Geschichten zu Papier zu bringen und sie dramaturgisch maximal in Szene zu setzen. In "Fast hell" beschreibt Osang, wie er sich in Uwes Leben vortastet - und gleichzeitig in sein eigenes.
Die Entdeckerlust verbindet beide. So wie Uwe schießt auch Osang nach dem Mauerfall "wie eine Feuerwerksrakete in die Welt". Als wollte der knapp Dreißigjährige all seine Träume in kürzester Zeit verwirklichen, legt er ein gefährliches Tempo vor, das eines Getriebenen, der auch vor sich selbst flieht, der das Alte einerseits abschütteln will und dann doch wieder nicht. Dass man sich nie entkommt, ist zwar eine Binsenweisheit, aber man verdrängt sie allzu gern. Bis heute bereitet es Osang Schwierigkeiten, Menschen aus dem Westen des Landes seinen sozialistischen Alltag im Wendeherbst zu erklären. "Sie sahen mich entweder auf Appellplätzen herumstehen oder in Kellerräumen von Widerstandskirchen Flugblätter drucken." Der Kopf funktioniere nun einmal so, er wolle Opfer oder Täter. Leider liegen die Dinge nie derart einfach.
Während der auf etlichen Hochzeiten tanzende Uwe dem Leser langsam entgleitet, sich in eine Romanfigur zu verwandeln scheint mit unscharfen Konturen und räuberpistolenhaften Geschichten, rückt einem Osang, der fragt, zweifelt, mit sich hadert, immer näher. Osang und Uwe sind Wendegewinner, die Väter der beiden Wendeverlierer. Er habe, so Osang, seine Karriere auf der ostdeutschen Trümmerlandschaft aufgebaut, Gestrauchelte, Enttäuschte, Betrogene beschrieben. Verlierer, oft ohne eigenes Zutun.
Sobald Romane oder Sachbücher erscheinen, die sich mit den gewaltigen Umbrüchen, die die Wende gebracht hat, beschäftigen, steht sofort die Frage im Raum, ob dieses oder jenes Werk nun der langersehnte Wenderoman sei - eine für viele Schriftsteller (etwa Ingo Schulze) ärgerliche Etikettierung - oder die augenöffnende Erzählung. Doch das ist die falsche Frage, denn kein Autor kann das allein leisten. Osangs Buch steht in einer Reihe literarischer und nichtliterarischer Werke, die ein helleres Licht auf ein Stück deutsche Geschichte werfen - und in dieser Reihe funkelt es.
MELANIE MÜHL
Alexander Osang: "Fast hell".
Aufbau Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als das Leben für einige den roten Teppich ausrollte: Alexander Osang beschreibt zwei Leben nach 1989
Für eine "Spiegel"-Sonderbeilage zum dreißigsten Mauerfalljubiläum soll der Reporter Alexander Osang ein Porträt schreiben, das dem Leser den rätselhaften Ostdeutschen erklärt und dessen Wesen zumindest ein bisschen entschlüsselt. Selbst Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer umweht den Ostdeutschen noch etwas Geheimnisvolles. Osang, selbst Ostdeutscher, denkt sofort an Uwe, jenen schillernden Bekannten, dessen aufregendes Leben leicht ein Broadway-Musical inspirieren könnte oder einen Spielfilm. Er kennt Uwe aus seiner Zeit in New York, er scheint der perfekte Protagonist für ein schwieriges Vorhaben zu sein, und glücklicherweise stimmt er zu. Also begleitet Osang Uwe und dessen Mutter auf einer Reise, es geht mit dem Schiff von Helsinki nach St. Petersburg. Zwei Nächte Fähre, drei Tage St. Petersburg, viel Zeit für einen Reporter, um einem Menschen näherzukommen und ihm gut gehütete Geschichten zu entlocken.
Aber der Artikel erscheint nicht in der Sonderbeilage, denn Osangs Kollegen aus der Dokumentation des Magazins bereiten Uwes unmöglich zu verifizierende Abenteuergeschichten Unbehagen. Existierte Nastja, die mit einer chinesischen Armee Motorräder und Kühlschränke schmuggelte, tatsächlich? Was ist mit Andjschella aus Murmansk, die von sich behauptet, mit fünfzig immer noch fruchtbar zu sein? Ganz zu schweigen von Uwes Tante Antje, die im Kofferraum eines argentinischen Botschafters in den Westen flieht.
Osang ist erleichtert, ja froh, eine Last fällt von seinen Reporterschultern. Uwes Leben ist zu groß, zu aufregend, zu widersprüchlich, um es auf ein paar Seiten in einem Magazin abzuhandeln - und, was noch schwerer wiegt, es hat mehr mit Alexander Osang selbst und dessen Familiengeschichte zu tun, als er am Anfang des Projekts geahnt haben dürfte. Und so ist aus einer für ein Magazin geplanten Geschichte ein Buch geworden, das nun vorliegt, "Fast hell" heißt und am ehesten in die Kategorie erzählendes Sachbuch fällt.
"Die Leben der anderen helfen mir, mein eigenes besser zu verstehen. Wenn sie überleben, kann ich es auch", heißt es zu Beginn des Buchs, und was Osang mit diesen Sätzen meint, wird mit jeder Seite deutlicher. Osang erzählt nicht nur Uwes Geschichte, er erzählt auch seine eigene, eine Art Doppelporträt auf gut zweihundert Seiten.
Beginnen wir mit Uwe: Er ist Kindersprecher beim Berliner Rundfunk, stammt aus der Provinz, will Schauspieler werden wie der Großvater, flüchtet oft zu seiner Oma nach Eichenwalde, "in eine Gegenwelt mit Büchern, einem Klavier, den Schauspielergeschichten". Er ist schwul, sein Vater bevorzugt seinen Bruder Klaus, die Mutter fremdelt mit Uwes Liebe zu Männern. Uwe fühlt sich nie zugehörig, ein Fremder in einem verriegelten Land, Opfer der Umstände. Verzagen aber kommt für ihn nicht in Frage, denn die Welt, sie lockt, und als Uwe 24 Jahre alt ist, fällt die Mauer. Alles ist möglich. Das Leben rollt unversehens den roten Teppich aus, wenn auch längst nicht für alle.
Uwe jedenfalls betritt ihn, ohne zu zögern. Er lebt in Hongkong, wo die Hitze feucht und klebrig ist und jeder Geruch fremd. Er reist nach Argentinien, zieht nach New York, heuert bei einer Privatbank an, investiert in Immobilien, erlebt eine irre Geschichte nach der nächsten, und beim Lesen wird einem manchmal ganz schwindlig von den vielen Abenteuern, was auch daran liegen mag, dass der eigene Bewegungsradius seit Monaten schmerzhaft winzig ist. Geschichten des Aufbruchs elektrisieren gerade enorm.
Und Osang schreibt in seinem fesselnden Osang-Sound. Man begegnet einem routinierten Erzähler, der sich für Menschen interessiert und ihnen nicht nur Material für eine gute Story abluchst. Anders formuliert: Osang verrät seine Protagonisten nicht. Man glaubt ihm, wenn er von Skrupeln schreibt, von der Angst, einem Menschen nicht gerecht zu werden, weil es immer etwas Vermessenes hat, fremde Geschichten zu Papier zu bringen und sie dramaturgisch maximal in Szene zu setzen. In "Fast hell" beschreibt Osang, wie er sich in Uwes Leben vortastet - und gleichzeitig in sein eigenes.
Die Entdeckerlust verbindet beide. So wie Uwe schießt auch Osang nach dem Mauerfall "wie eine Feuerwerksrakete in die Welt". Als wollte der knapp Dreißigjährige all seine Träume in kürzester Zeit verwirklichen, legt er ein gefährliches Tempo vor, das eines Getriebenen, der auch vor sich selbst flieht, der das Alte einerseits abschütteln will und dann doch wieder nicht. Dass man sich nie entkommt, ist zwar eine Binsenweisheit, aber man verdrängt sie allzu gern. Bis heute bereitet es Osang Schwierigkeiten, Menschen aus dem Westen des Landes seinen sozialistischen Alltag im Wendeherbst zu erklären. "Sie sahen mich entweder auf Appellplätzen herumstehen oder in Kellerräumen von Widerstandskirchen Flugblätter drucken." Der Kopf funktioniere nun einmal so, er wolle Opfer oder Täter. Leider liegen die Dinge nie derart einfach.
Während der auf etlichen Hochzeiten tanzende Uwe dem Leser langsam entgleitet, sich in eine Romanfigur zu verwandeln scheint mit unscharfen Konturen und räuberpistolenhaften Geschichten, rückt einem Osang, der fragt, zweifelt, mit sich hadert, immer näher. Osang und Uwe sind Wendegewinner, die Väter der beiden Wendeverlierer. Er habe, so Osang, seine Karriere auf der ostdeutschen Trümmerlandschaft aufgebaut, Gestrauchelte, Enttäuschte, Betrogene beschrieben. Verlierer, oft ohne eigenes Zutun.
Sobald Romane oder Sachbücher erscheinen, die sich mit den gewaltigen Umbrüchen, die die Wende gebracht hat, beschäftigen, steht sofort die Frage im Raum, ob dieses oder jenes Werk nun der langersehnte Wenderoman sei - eine für viele Schriftsteller (etwa Ingo Schulze) ärgerliche Etikettierung - oder die augenöffnende Erzählung. Doch das ist die falsche Frage, denn kein Autor kann das allein leisten. Osangs Buch steht in einer Reihe literarischer und nichtliterarischer Werke, die ein helleres Licht auf ein Stück deutsche Geschichte werfen - und in dieser Reihe funkelt es.
MELANIE MÜHL
Alexander Osang: "Fast hell".
Aufbau Verlag, Berlin 2021. 237 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2021Überall,
nur nicht hier
Von einer spezifisch ostdeutschen Unmöglichkeit,
in Deutschland anzukommen, erzählt Alexander Osang in seinem
autobiografischen Buch „Fast hell“.
VON CORNELIUS POLLMER
Neulich war der Reporter Alexander Osang in einer Büchersendung des MDR zu Gast und sagte, beim Spiegel würden nicht sehr viele Ostdeutsche arbeiten. Die westdeutsche Moderatorin Susanne Fröhlich warf auf diese Feststellung etwas zurück, das man bei aller gebotenen Freundlichkeit lieber nicht einen Gedanken nennen möchte; wenige Ostdeutsche beim Spiegel, das sei, so Fröhlich, „ja auch ’ne Frage, die man sich mal stellen könnte, warum eigentlich?“
Osang hob ein bisschen hilflos die Arme, als hätte er beim Pantomimespielen den Begriff „Vergeblichkeit“ gezogen. Und doch passte dieser atmosphärisch prekäre Fernsehmoment gut zu seinem neuen Buch „Fast hell“. Dieses ist zwar auch Reisereportage, Doppelporträt und Deutschlandessay, vor allem aber ist es ein biografischer Text über die Unmöglichkeit des Ankommens.
Seit mehr als 30 Nachwendejahren fegen gelegentlich Ost-Diskurse übers Land, seit mehr als 30 Jahren bleiben sie sagenhaft folgenlos und dienen wenn überhaupt der Profilierung derer, die sie führen. Alexander Osang ist in dieser Hinsicht zunächst ganz klar ein Profiteur, aber offenbar ist er auch ein auf hohem Niveau Leidender. Über der Digitalversion eines Essays von ihm zum Tag der Deutschen Einheit, dem Murmeltiertag der Ost-Journalisten, stand 2019: „30 Jahre später, und ich erzähle immer noch dieselbe Geschichte“.
Nachdem er lange für die Berliner Zeitung geschrieben hatte, wechselte der ostdeutsche Journalist Alexander Osang 1999 zum Spiegel und ging nach New York. Er hatte New York nach dem Mauerfall im Unterschied beispielsweise zu West-Berlin erlebt als „die einzige Stadt, die mit meinen Erwartungen mithalten konnte“. Diese Erfahrung erneuerte sich in späteren Jahren als Korrespondent. In New York, schreibt Osang, „konnte ich am besten vergessen, dass ich eigentlich kein Zuhause hatte“.
Wenn einzig und bestenfalls New York der Ort ist, an dem man es irgendwie aushält, dann wird es biografisch natürlich eng, jedoch auch interessant. Und vor genau diesem biografischen Hintergrund ist dieses literarische Sachbuch zu lesen, das an der Oberfläche von einer Reise mit einer Fähre nach St. Petersburg erzählt, die Osang mit Uwe und dessen Mutter unternimmt. Sie gehen aufs Schiff, sie trinken, sie reden, sie schlafen zu wenig, auch am Ziel in St. Petersburg. Alles Geschehen ist gleichmäßig, mehr muss es nicht sein, weil es den eigentlichen Text nur dekoriert, die Suche nach Frieden und Heimat in der eigenen Biografie.
Von Uwe hatte Osang zu einem Murmeltiertag schon im Spiegel erzählen wollen, doch obschon der real existierende Uwe Ostdeutscher ist, war er – wenn man Osang richtig versteht – für den Spiegel nicht ostdeutsch genug in dem Sinne, wie man auch in Hamburg nach wie vor gerne von den „rätselhaften Ostdeutschen“ erzählt bekommen mag. Vor allem aber war die Biografie Uwes unüberprüfbar für die vermutlich noch immer auf Bewährung inkriminierende Dokumentation im Haus. Die Details dieser Uwe-Biografie sind hier unmöglich zusammenzufassen, Osang bringt sie im Buch auf die Formel „Uwe schien ein ostdeutscher Weltbürger zu sein. Ein Oxymoron.“
Zum Doppelporträt wird diese tagträumend fantastische, halbwirkliche Reise, weil Alexander Osang seine Biografie mit der von Uwe misst. Der Autor erlaubt sich gewissermaßen erst über den Umweg Uwe, von seinem eigenen Leben zu erzählen, die Biografie Uwes wird zur als nötig empfundenen Rechtfertigung, auch in der eigenen einmal nachzusehen wie in einem länger nicht aufgeräumten Keller. Die Tatsache, dass man das insbesondere als Ostdeutscher gleich wieder komplett logisch finden kann, sagt vermutlich etwas aus.
Damit zu Deutschland und einer spezifisch ostdeutschen Unmöglichkeit, irgendwie anzukommen. Als Leser, zumal als ostdeutscher Leser, puzzelte man sich aus den Texten Osangs immer eine überwältigende Reporterbiografie zusammen. Mit einer möglicherweise in angriffslustigem Rot gehalten Spesenkreditkarte des Spiegel ging es wieder und wieder um die Welt. Manchmal schrieb der Großreporter Osang wie ein Angeber, aber selbst wenn man ihn dafür kurz hasste, hasste man auf Knien. In seinem Mittel- oder Frühspätwerk oder wie auch immer man die kolumnistischen Szenengemälde gehobenen deutschen Alltags nennen möchte, die Osang, 58, weiterhin für den Spiegel schreibt, sitzt oft fast jeder Satz mit exaktem Spaltmaß. Lakonie und Erfahrungsreichtum und offensives Außenseitertum bei gleichzeitig einsetzender Wohlstandsverwahrlosung verbinden sich zu Texten, die mindestens lustig, oft zudem lehrreich sind.
Ein autobiografisches Buch desselben Autors sollte man gerade deswegen besonders vorsichtig lesen. Osang ist ein erfahrener Arrangeur und Dramaturg, er deutet in „Fast hell“ vieles gleich selbst aus. Vielleicht ist das ein manipulativer Akt, garantiert ist das aber: komplett egal. Man kann „Fast hell“ larmoyant finden, wenn man zu denen gehört, die keine Lust mehr haben, über einig Vaterland nachzudenken. Man könnte den Autor stellvertretend in eine nicht nur moralisch düstere Opferkonkurrenz zu Gruppen zwingen, die es nachweislich noch viel schwerer haben, einen Platz im Leben zu finden oder sogar: ihren. Tut man all dies aber nicht, lässt sich „Fast hell“ verstehen als eine ungeschützte, angenehm uneindeutige Bestandsprüfung des Lebens von Alexander Osang sowie des Seelenstandorts Deutschland.
Bei der Betrachtung dieses Lebens geht es darum, dass mit der DDR nicht nur Osang eine Heimat verloren ging, für die es keinen Ersatz gab oder je geben wird. Es geht darum, dass die daraus folgende, oft kraftzehrende Suche nach einer inneren Mitte „im abbindenden Beton der Geschichtsschreiber“ mindestens doppelt schwerfällt. Denn, um es sehr kurz zu machen: Der Westen hat sich nie wirklich für die potenzielle Heimatlosigkeit vieler Ostdeutscher in Kohl- und Merkel-Deutschland interessiert, er hat, wie Osang feststellt, im Gegenteil selbst solche kulturellen Werte aus Radioplaylists und sonstigen Kanons getilgt, die leicht aus der Vor-89-Zeit Ost in die neue zu retten gewesen wären.
„Ich wollte mir treu bleiben und doch nicht allein sein“, schreibt Alexander Osang, und „Es ist nicht einfach, … seinen Platz zu finden, wenn man es ernst meint.“ In genau diesem Versuch verlieren sich viele Ostdeutsche unterschiedlichen Alters in einem Land, das weder in Kategorien materieller oder machtpolitischer Teilhabe noch in solchen kultureller Hegemonie je wirklich auch ihres geworden wäre. Ein Land, dessen Diskurse notwendigerweise längst weiter gezogen sind zu neueren Herausforderungen.
Der Endpunkt dieser Entwicklung scheint leider zu sein, dass die Ostdeutschen weiterhin „rätselhaft“ bleiben und dass Exegeten wie Osang jedes Jahr zunehmend unfröhlicher von vorne anfangen, sie einem Publikum zu erklären, dessen Hauptinteresse jedoch darin zu bestehen scheint, es sich in der Abgrenzung zu den Beschriebenen noch ein wenig gemütlicher zu machen.
Der Westen hat sich nie für die
potenzielle Heimatlosigkeit vieler
Ostdeutscher interessiert
Alexander Osang:
Fast hell. Aufbau,
Berlin 2021.
237 Seiten, 22 Euro.
In New York schreibt Alexander Osang, 1962 in Ost-Berlin geboren, „konnte ich am besten vergessen, dass ich eigentlich kein Zuhause hatte“. Als Korrespondent und Reporter reiste er um die Welt.
Foto: Felix Rettberg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nur nicht hier
Von einer spezifisch ostdeutschen Unmöglichkeit,
in Deutschland anzukommen, erzählt Alexander Osang in seinem
autobiografischen Buch „Fast hell“.
VON CORNELIUS POLLMER
Neulich war der Reporter Alexander Osang in einer Büchersendung des MDR zu Gast und sagte, beim Spiegel würden nicht sehr viele Ostdeutsche arbeiten. Die westdeutsche Moderatorin Susanne Fröhlich warf auf diese Feststellung etwas zurück, das man bei aller gebotenen Freundlichkeit lieber nicht einen Gedanken nennen möchte; wenige Ostdeutsche beim Spiegel, das sei, so Fröhlich, „ja auch ’ne Frage, die man sich mal stellen könnte, warum eigentlich?“
Osang hob ein bisschen hilflos die Arme, als hätte er beim Pantomimespielen den Begriff „Vergeblichkeit“ gezogen. Und doch passte dieser atmosphärisch prekäre Fernsehmoment gut zu seinem neuen Buch „Fast hell“. Dieses ist zwar auch Reisereportage, Doppelporträt und Deutschlandessay, vor allem aber ist es ein biografischer Text über die Unmöglichkeit des Ankommens.
Seit mehr als 30 Nachwendejahren fegen gelegentlich Ost-Diskurse übers Land, seit mehr als 30 Jahren bleiben sie sagenhaft folgenlos und dienen wenn überhaupt der Profilierung derer, die sie führen. Alexander Osang ist in dieser Hinsicht zunächst ganz klar ein Profiteur, aber offenbar ist er auch ein auf hohem Niveau Leidender. Über der Digitalversion eines Essays von ihm zum Tag der Deutschen Einheit, dem Murmeltiertag der Ost-Journalisten, stand 2019: „30 Jahre später, und ich erzähle immer noch dieselbe Geschichte“.
Nachdem er lange für die Berliner Zeitung geschrieben hatte, wechselte der ostdeutsche Journalist Alexander Osang 1999 zum Spiegel und ging nach New York. Er hatte New York nach dem Mauerfall im Unterschied beispielsweise zu West-Berlin erlebt als „die einzige Stadt, die mit meinen Erwartungen mithalten konnte“. Diese Erfahrung erneuerte sich in späteren Jahren als Korrespondent. In New York, schreibt Osang, „konnte ich am besten vergessen, dass ich eigentlich kein Zuhause hatte“.
Wenn einzig und bestenfalls New York der Ort ist, an dem man es irgendwie aushält, dann wird es biografisch natürlich eng, jedoch auch interessant. Und vor genau diesem biografischen Hintergrund ist dieses literarische Sachbuch zu lesen, das an der Oberfläche von einer Reise mit einer Fähre nach St. Petersburg erzählt, die Osang mit Uwe und dessen Mutter unternimmt. Sie gehen aufs Schiff, sie trinken, sie reden, sie schlafen zu wenig, auch am Ziel in St. Petersburg. Alles Geschehen ist gleichmäßig, mehr muss es nicht sein, weil es den eigentlichen Text nur dekoriert, die Suche nach Frieden und Heimat in der eigenen Biografie.
Von Uwe hatte Osang zu einem Murmeltiertag schon im Spiegel erzählen wollen, doch obschon der real existierende Uwe Ostdeutscher ist, war er – wenn man Osang richtig versteht – für den Spiegel nicht ostdeutsch genug in dem Sinne, wie man auch in Hamburg nach wie vor gerne von den „rätselhaften Ostdeutschen“ erzählt bekommen mag. Vor allem aber war die Biografie Uwes unüberprüfbar für die vermutlich noch immer auf Bewährung inkriminierende Dokumentation im Haus. Die Details dieser Uwe-Biografie sind hier unmöglich zusammenzufassen, Osang bringt sie im Buch auf die Formel „Uwe schien ein ostdeutscher Weltbürger zu sein. Ein Oxymoron.“
Zum Doppelporträt wird diese tagträumend fantastische, halbwirkliche Reise, weil Alexander Osang seine Biografie mit der von Uwe misst. Der Autor erlaubt sich gewissermaßen erst über den Umweg Uwe, von seinem eigenen Leben zu erzählen, die Biografie Uwes wird zur als nötig empfundenen Rechtfertigung, auch in der eigenen einmal nachzusehen wie in einem länger nicht aufgeräumten Keller. Die Tatsache, dass man das insbesondere als Ostdeutscher gleich wieder komplett logisch finden kann, sagt vermutlich etwas aus.
Damit zu Deutschland und einer spezifisch ostdeutschen Unmöglichkeit, irgendwie anzukommen. Als Leser, zumal als ostdeutscher Leser, puzzelte man sich aus den Texten Osangs immer eine überwältigende Reporterbiografie zusammen. Mit einer möglicherweise in angriffslustigem Rot gehalten Spesenkreditkarte des Spiegel ging es wieder und wieder um die Welt. Manchmal schrieb der Großreporter Osang wie ein Angeber, aber selbst wenn man ihn dafür kurz hasste, hasste man auf Knien. In seinem Mittel- oder Frühspätwerk oder wie auch immer man die kolumnistischen Szenengemälde gehobenen deutschen Alltags nennen möchte, die Osang, 58, weiterhin für den Spiegel schreibt, sitzt oft fast jeder Satz mit exaktem Spaltmaß. Lakonie und Erfahrungsreichtum und offensives Außenseitertum bei gleichzeitig einsetzender Wohlstandsverwahrlosung verbinden sich zu Texten, die mindestens lustig, oft zudem lehrreich sind.
Ein autobiografisches Buch desselben Autors sollte man gerade deswegen besonders vorsichtig lesen. Osang ist ein erfahrener Arrangeur und Dramaturg, er deutet in „Fast hell“ vieles gleich selbst aus. Vielleicht ist das ein manipulativer Akt, garantiert ist das aber: komplett egal. Man kann „Fast hell“ larmoyant finden, wenn man zu denen gehört, die keine Lust mehr haben, über einig Vaterland nachzudenken. Man könnte den Autor stellvertretend in eine nicht nur moralisch düstere Opferkonkurrenz zu Gruppen zwingen, die es nachweislich noch viel schwerer haben, einen Platz im Leben zu finden oder sogar: ihren. Tut man all dies aber nicht, lässt sich „Fast hell“ verstehen als eine ungeschützte, angenehm uneindeutige Bestandsprüfung des Lebens von Alexander Osang sowie des Seelenstandorts Deutschland.
Bei der Betrachtung dieses Lebens geht es darum, dass mit der DDR nicht nur Osang eine Heimat verloren ging, für die es keinen Ersatz gab oder je geben wird. Es geht darum, dass die daraus folgende, oft kraftzehrende Suche nach einer inneren Mitte „im abbindenden Beton der Geschichtsschreiber“ mindestens doppelt schwerfällt. Denn, um es sehr kurz zu machen: Der Westen hat sich nie wirklich für die potenzielle Heimatlosigkeit vieler Ostdeutscher in Kohl- und Merkel-Deutschland interessiert, er hat, wie Osang feststellt, im Gegenteil selbst solche kulturellen Werte aus Radioplaylists und sonstigen Kanons getilgt, die leicht aus der Vor-89-Zeit Ost in die neue zu retten gewesen wären.
„Ich wollte mir treu bleiben und doch nicht allein sein“, schreibt Alexander Osang, und „Es ist nicht einfach, … seinen Platz zu finden, wenn man es ernst meint.“ In genau diesem Versuch verlieren sich viele Ostdeutsche unterschiedlichen Alters in einem Land, das weder in Kategorien materieller oder machtpolitischer Teilhabe noch in solchen kultureller Hegemonie je wirklich auch ihres geworden wäre. Ein Land, dessen Diskurse notwendigerweise längst weiter gezogen sind zu neueren Herausforderungen.
Der Endpunkt dieser Entwicklung scheint leider zu sein, dass die Ostdeutschen weiterhin „rätselhaft“ bleiben und dass Exegeten wie Osang jedes Jahr zunehmend unfröhlicher von vorne anfangen, sie einem Publikum zu erklären, dessen Hauptinteresse jedoch darin zu bestehen scheint, es sich in der Abgrenzung zu den Beschriebenen noch ein wenig gemütlicher zu machen.
Der Westen hat sich nie für die
potenzielle Heimatlosigkeit vieler
Ostdeutscher interessiert
Alexander Osang:
Fast hell. Aufbau,
Berlin 2021.
237 Seiten, 22 Euro.
In New York schreibt Alexander Osang, 1962 in Ost-Berlin geboren, „konnte ich am besten vergessen, dass ich eigentlich kein Zuhause hatte“. Als Korrespondent und Reporter reiste er um die Welt.
Foto: Felix Rettberg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de