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Kein Scheinproblem, doch ungelöst: Ein "Faust" für Kinder
Faust kannte die Sorge, die bürgerlichen Eltern der Gegenwart kennen die Pisa- und die Kanon-Sorge. Aber was jetzt zur Lösung der Bildungsprobleme in Deutschland angeboten wird, taugt nicht immer und verdient jedenfalls genaue Prüfung. Daß der Faust-Stoff sich für Kinder spannend aufbereiten läßt, steht außer Frage. Denn ist nicht der Teufelspakt ein Ding, das jedes Kind aus eigener Erfahrung kennt?: Man tut das streng Verbotene, genießt es, und doch bohrt die Ahnung, daß irgendwann alles rauskommt und die Strafe furchtbar sein wird.
Goethe hatte als Knabe das Puppenspiel vom Doktor Faustus gesehen. Und der Stoff kam ihm so gelegen, daß er die Gretchen- und Kindsmörderin-Geschichte aufnehmen konnte, die Seelenverfassung des Genies, schließlich den Prozeß mit Gott, der sich durch das Stück zieht. "Faust" ist ein Stück für Erwachsene. Die ambitionierte Kleinverlegerin Barbara Kindermann hat es unternommen, es in eine für Kinder zumutbare Erzählung zu verwandeln. Konnte der Versuch überhaupt glücken? Zunächst: Ein "Faust" für Kinder ist ein echtes, kein Scheinproblem. Die Bearbeitung des Volksbuches durch Gustav Schwab hat anderthalb Jahrhunderte auf dem Buckel und läßt sich beim besten Willen nicht mehr verwenden - aber vom Volksbuch, nicht von Goethes Bearbeitung, müßte man ausgehen: Des Farbigen, Grellen und Schauerlichen, das Kinder ansprechen könnte, gibt es darin genug. Das Volksbuch gliedert den Stoff zudem in lockere Episoden, Komisch-Unterhaltsames wechselt mit der strengen Ermahnung.
Barbara Kindermann, die statt dessen Goethe folgt, streut in den Text wörtliche Zitate ein, die durch Kursivierung hervorgehoben sind. Wenn's der Bildung nützt - aber der Effekt erinnert doch ein wenig an Robert Walsers herrliche Umschrift aus dem "Wilhelm Tell": "Durch diese hohle Gasse muß er, glaube ich, kommen." Denn so liest sich nun der Osterspaziergang: "Kopfschüttelnd murmelte er: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!" Als unser Held zum ersten Mal Gretchen erblickt hat, heißt es: "Sehnsüchtig schaute Faust ihr nach: Beim Himmel, dieses Kind ist schön! Mephisto, du mußt mich mit ihr bekannt machen!"
Aber es geht um mehr. Wenn man
der Faust-Figur die Selbstmordgedanken nimmt, wenn von ihnen nur eine resiginierte, ruhige Müdigkeit bleibt, dann verschieben sich die Gewichte; wenn das Obszöne der Walpurgisnacht gemildert wird, wenn Mephistos Negativität alles Lustige - und auch alles relative Recht - verliert, dann beginnen die Dinge in der Luft zu hängen. Und was soll ein Kind mit Auerbachs Keller anfangen?
Die Bilder von Klaus Ensikat lobt man mit Recht. Sie sind meisterlich, das Winklig-Altdeutsche ist getroffen, wenn auch in allzu betonter Nähe zur grotesken Karikatur. Das Giftige in Ensikats Farben muß man hinnehmen, es gehört zur Kunst einer Generation, die ihre Gegenstände am liebsten kritisch sieht. Gretchens Anmut überzeugt, während um Faust etwas Trübes hängt, nicht nur um den alternden Gelehrten am Anfang, sondern auch um den Verjüngt-Verliebten. Warum sollte eine junge Frau irgendetwas an diesem Mann finden, dem vor allem ein offener Blick fehlt?
Auch in Bildungsfragen sollte man Vernunft und Mäßigung walten lassen. Das Optimale für Kinder wäre eine gute Aufführung von "Faust" als Puppenspiel. Wer mit sieben Jahren die Marionetten erlebt hat, unter denen am Ende der Nachtwächter umgeht und das Näherrücken der Todesstunde verkündet, wer gesehen hat, wie dann die große Pastete auf die kleine Bühne kam, wie alles erstrahlte und wie Faust noch ein letztes Mal glauben konnte, sein Schicksal sei abgewendet, wie dann aus der Pastete mit Blitz und Getöse Mephistopheles im roten Jäckchen heraussprang und sich den Sünder schnappte, der ist zehn Jahre später auch ohne verblasene Bildungsideologien reif geworden für die Lektüre Goethes oder für den immer noch wunderschönen Film der Gründgens-Inszenierung.
LORENZ JÄGER
",Faust' nach Johann Wolfgang von Goethe". Neu erzählt von Barbara Kindermann. Mit Bildern von Klaus Ensikat. Kindermann-Verlag, Berlin 2002. 32 S., 15,50 [Euro]. Ab 7 J.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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