Der römische Herumtreiber Giovanni Beri tut sich gerade an einem Teller Makkaroni gütlich und träumt von seinem nächsten Glas Wein. Da fällt ihm ein Reisender auf. Der sonderbare Herr gestikuliert mitten auf der Piazza del Popolo, als hätte ganz Rom auf ihn gewartet. Wer ist dieser Mann, ein adeliger Spinner, ein Advokat oder gar ein Spion? Beri, der neben seinen Gelegenheitsarbeiten auch den Patres des Vatikans mit Informationen zu Diensten ist, beschließt, den merkwürdigen Fremden näher unter die Lupe zu nehmen. Doch bevor er sich's versieht, verliert Beri nicht nur den Überblick, sondern auch seine Geliebte Faustina, und zwar ausgerechnet an den Mann, den er observiert, den berühmtesten aller Italienreisenden: Goethe.
"Am 3. September 1786, morgens oder vielmehr nachts um drei, damit niemand die Abreise bemerkt, stiehlt sich Goethe in der Postchaise davon, nur einen Jagdranzen und Mantelsack als Gepäck", so beschreibt Richard Friedenthal in seiner Goethe-Biographie die heimliche Ausreise aus Weimar. Was hier so geheimnisvoll angedeutet ist, hat Hanns-Josef Ortheil zum Anlaß genommen, eine höchst amüsante Geschichte um den Besuch des Dichtervaters in der ewigen Stadt zu spinnen.
"Am 3. September 1786, morgens oder vielmehr nachts um drei, damit niemand die Abreise bemerkt, stiehlt sich Goethe in der Postchaise davon, nur einen Jagdranzen und Mantelsack als Gepäck", so beschreibt Richard Friedenthal in seiner Goethe-Biographie die heimliche Ausreise aus Weimar. Was hier so geheimnisvoll angedeutet ist, hat Hanns-Josef Ortheil zum Anlaß genommen, eine höchst amüsante Geschichte um den Besuch des Dichtervaters in der ewigen Stadt zu spinnen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.1998Gipskopfsammler in der Morgensonne
Hanns-Josef Ortheil erzählt von Küssen für Goethe · Von Hermann Kurzke
Der Verstand hat ein paar Einwände, aber das Gefühl muß erst einmal zugeben: Es ist ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Es ist spannend, originell und intelligent, die Stunden vergehen wie im Fluge. Der Anfang ist zwar ein bißchen überdreht. Daß ein stellungsloser römischer Laufbursche und Gepäckträger den inkognito in Rom angekommenen Goethe im Auftrag des Heiligen Vaters ausspionieren soll, ist nicht leicht glaubhaft zu machen, erst recht nicht, daß er schweres Geld für seine politisch wertlosen Dienste erhält.
Aber hat man die Versuchsanordnung einmal akzeptiert, wird man belohnt durch viele kuriose Szenen. Ein Künstler muß immer grundsonderbar wirken auf alle, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Den großen Goethe im Bewußtsein eines fixen Burschen zu spiegeln ist eine Idee voll subtiler Komik. Giovanni Beri, so heißt der Gewitzte, ist anfangs voll Zorn auf den lichtscheuen Nordmenschen, der hastig ißt und trinkt, wie ein Getriebener Gipsköpfe sammelt, Altertümer anstarrt, uninteressante Ansichten zeichnet und nächtelang mit Künstlern und Stubenhockern Spitzfindigkeiten diskutiert. Giovanni liest seine "Leiden des jungen Werthers" und glaubt zu verstehen. Dieser Goethe ist ein liebeskranker Deutscher, der einer dummen Gans nachtrauert, die schon vergeben ist, obgleich es doch genug frische Mädchen gibt, die zu haben sind. Der Mensch hat offenbar keine Ahnung vom guten Leben! Giovanni beschließt, ihm den richtigen Weg zu zeigen, ihn zu bekehren, zu befreien, zum Römer zu machen.
Erst setzt er die muntere Rosina auf ihn an, aber Goethe weiß sie sich dienstbar zu machen, ohne mehr als ihre Fingerspitzen zu küssen. Doch kommen Giovanni und Goethe dabei einander näher, sie werden schließlich Freunde, und Giovanni darf den großen Dichter sogar belehren: Habt Ihr die Liebe nicht, so ist alles andere Wahn. Die Lehre wirkt allzu prompt. Zwei Stunden später schon hat Goethe ihm die Geliebte ausgespannt, jene Faustina nämlich, von der man aus den römischen Elegien weiß. Ortheil gibt der geheimnisvollen Schönen Figur und Gewand und einen kühnen, freien Charakter. Nicht daß wir nun alle Einzelheiten erführen über Goethes Liebesnächte, dazu ist Ortheils Stil zu diskret, wir sind nur Lauscher an der Wand, aber immerhin hören wir das rhythmische Knarren des Bettes und sehen den Nordmenschen aufgehen wie eine Blüte in der Morgensonne - sehen ihn lachen und scherzen und schwatzen und lieben.
Und Giovanni Beri, dem er die Geliebte genommen hat? Der verliert darüber seine Lebensart, wird eifersüchtig, wird ein Werther, ein unglücklicher Nordmensch. Ein ironisch überkreuz gestrickter Entwicklungsroman läuft vor uns ab. Der Bekehrung Goethes zur Welt kontrastiert die Bekehrung Beris zur Innerlichkeit. Am Ende ist Goethe der freie Römer und Beri der steife Fremde.
Der Beri-Roman entpuppt sich dabei immer mehr als der originellere. Der selbstgefälligen Versuchung, sich mit Goethe zu identifizieren, ist Ortheil klug aus dem Weg gegangen. Er bezahlt dafür mit einer gewissen Armut der Goethe-Figur. Dieser weimarfrustrierte Rom-Reisende hat zwar eine stattliche Erscheinung und eine sonore Stimme, mit der er die Frauen bezaubert, aber daß er zugleich der Mann sein soll, der den Faust, den Tasso und die Iphigenie schrieb, dafür spricht nichts. Welcher Furor aus diesem wenig voluminösen Charakter ein so gewaltiges Werk herausgetrieben haben soll, bleibt dem Leser unbekannt. Dem befreiten Goethe in Faustinas Armen traut man erst recht keine große Dichtung mehr zu. Er ist nur noch ein fröhlicher Tourist. Die Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts fordert nun einmal, daß der wahre Künstler immer pathologisch sei. Mit einem gesunden und glücklichen Goethe ist literarisch nichts anzufangen.
Weil die umgekehrte Entwicklung für den modernen Künstler viel mehr hergibt, hat sich Ortheil hinter der Beri-Maske versteckt. Beri wird immer mehr, und die Spionsrolle paßt dazu ausgezeichnet, vom Lebendigen zum Lebensvoyeur, der ausgeschlossen ist vom Feste der Glücklichen. Mit Beri, nicht mit Goethe teilt Ortheil die heiligen Traumata seines Lebens, vor allem die ewige Suche nach dem Bruder, der 1945 von einer Granate getroffen wurde. Denn die Brudersuche ist das heimliche Motiv, aus dem heraus Beri sich so intensiv um Goethe kümmert. Daß am Schluß auch ein leiblicher Bruder auftaucht, ein hochrangiger Priester der heiligen Inquisition, der als verborgener Marionettenspieler Giovannis Fäden gezogen hat und nun alle verbliebenen Rätsel löst, wirkt zunächst hergeholt und kolportagehaft. Seinen tieferen Sinn bezieht es erst aus jener Privatmythologie, die Hanns-Josef Ortheil in seinem autobiographischen Buch "Das Element des Elephanten" entfaltet hat. Der tote Bruder ist dort eine Art Schutzengel, mit breiter Stirn und leuchtenden Augen, ein innig Eingeweihter, ungeteilt aufmerksam, näher als alle Sichtbaren, ein bereits Erlöster, den noch ins Irdische Verbannten weit voraus.
Der Künstler, das Leben, die Liebe, das Glück, die Heilung von Melancholie, Depression und Impotenz, umgekehrt die Vernichtung des Lebens durch die Kunst, das Unglück des Schaffenden, seine Einsamkeit, das "Du darfst nicht lieben": das Aroma der großen Themen des europäischen Ästhetizismus belebt dieses zugleich kunstvoll komponierte und künstlich konstruierte erzählerische Experiment. Außerdem und nebenbei macht es Lust auf Rom.
Hanns-Josef Ortheil: "Faustinas Küsse". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 1998. 351 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanns-Josef Ortheil erzählt von Küssen für Goethe · Von Hermann Kurzke
Der Verstand hat ein paar Einwände, aber das Gefühl muß erst einmal zugeben: Es ist ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Es ist spannend, originell und intelligent, die Stunden vergehen wie im Fluge. Der Anfang ist zwar ein bißchen überdreht. Daß ein stellungsloser römischer Laufbursche und Gepäckträger den inkognito in Rom angekommenen Goethe im Auftrag des Heiligen Vaters ausspionieren soll, ist nicht leicht glaubhaft zu machen, erst recht nicht, daß er schweres Geld für seine politisch wertlosen Dienste erhält.
Aber hat man die Versuchsanordnung einmal akzeptiert, wird man belohnt durch viele kuriose Szenen. Ein Künstler muß immer grundsonderbar wirken auf alle, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Den großen Goethe im Bewußtsein eines fixen Burschen zu spiegeln ist eine Idee voll subtiler Komik. Giovanni Beri, so heißt der Gewitzte, ist anfangs voll Zorn auf den lichtscheuen Nordmenschen, der hastig ißt und trinkt, wie ein Getriebener Gipsköpfe sammelt, Altertümer anstarrt, uninteressante Ansichten zeichnet und nächtelang mit Künstlern und Stubenhockern Spitzfindigkeiten diskutiert. Giovanni liest seine "Leiden des jungen Werthers" und glaubt zu verstehen. Dieser Goethe ist ein liebeskranker Deutscher, der einer dummen Gans nachtrauert, die schon vergeben ist, obgleich es doch genug frische Mädchen gibt, die zu haben sind. Der Mensch hat offenbar keine Ahnung vom guten Leben! Giovanni beschließt, ihm den richtigen Weg zu zeigen, ihn zu bekehren, zu befreien, zum Römer zu machen.
Erst setzt er die muntere Rosina auf ihn an, aber Goethe weiß sie sich dienstbar zu machen, ohne mehr als ihre Fingerspitzen zu küssen. Doch kommen Giovanni und Goethe dabei einander näher, sie werden schließlich Freunde, und Giovanni darf den großen Dichter sogar belehren: Habt Ihr die Liebe nicht, so ist alles andere Wahn. Die Lehre wirkt allzu prompt. Zwei Stunden später schon hat Goethe ihm die Geliebte ausgespannt, jene Faustina nämlich, von der man aus den römischen Elegien weiß. Ortheil gibt der geheimnisvollen Schönen Figur und Gewand und einen kühnen, freien Charakter. Nicht daß wir nun alle Einzelheiten erführen über Goethes Liebesnächte, dazu ist Ortheils Stil zu diskret, wir sind nur Lauscher an der Wand, aber immerhin hören wir das rhythmische Knarren des Bettes und sehen den Nordmenschen aufgehen wie eine Blüte in der Morgensonne - sehen ihn lachen und scherzen und schwatzen und lieben.
Und Giovanni Beri, dem er die Geliebte genommen hat? Der verliert darüber seine Lebensart, wird eifersüchtig, wird ein Werther, ein unglücklicher Nordmensch. Ein ironisch überkreuz gestrickter Entwicklungsroman läuft vor uns ab. Der Bekehrung Goethes zur Welt kontrastiert die Bekehrung Beris zur Innerlichkeit. Am Ende ist Goethe der freie Römer und Beri der steife Fremde.
Der Beri-Roman entpuppt sich dabei immer mehr als der originellere. Der selbstgefälligen Versuchung, sich mit Goethe zu identifizieren, ist Ortheil klug aus dem Weg gegangen. Er bezahlt dafür mit einer gewissen Armut der Goethe-Figur. Dieser weimarfrustrierte Rom-Reisende hat zwar eine stattliche Erscheinung und eine sonore Stimme, mit der er die Frauen bezaubert, aber daß er zugleich der Mann sein soll, der den Faust, den Tasso und die Iphigenie schrieb, dafür spricht nichts. Welcher Furor aus diesem wenig voluminösen Charakter ein so gewaltiges Werk herausgetrieben haben soll, bleibt dem Leser unbekannt. Dem befreiten Goethe in Faustinas Armen traut man erst recht keine große Dichtung mehr zu. Er ist nur noch ein fröhlicher Tourist. Die Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts fordert nun einmal, daß der wahre Künstler immer pathologisch sei. Mit einem gesunden und glücklichen Goethe ist literarisch nichts anzufangen.
Weil die umgekehrte Entwicklung für den modernen Künstler viel mehr hergibt, hat sich Ortheil hinter der Beri-Maske versteckt. Beri wird immer mehr, und die Spionsrolle paßt dazu ausgezeichnet, vom Lebendigen zum Lebensvoyeur, der ausgeschlossen ist vom Feste der Glücklichen. Mit Beri, nicht mit Goethe teilt Ortheil die heiligen Traumata seines Lebens, vor allem die ewige Suche nach dem Bruder, der 1945 von einer Granate getroffen wurde. Denn die Brudersuche ist das heimliche Motiv, aus dem heraus Beri sich so intensiv um Goethe kümmert. Daß am Schluß auch ein leiblicher Bruder auftaucht, ein hochrangiger Priester der heiligen Inquisition, der als verborgener Marionettenspieler Giovannis Fäden gezogen hat und nun alle verbliebenen Rätsel löst, wirkt zunächst hergeholt und kolportagehaft. Seinen tieferen Sinn bezieht es erst aus jener Privatmythologie, die Hanns-Josef Ortheil in seinem autobiographischen Buch "Das Element des Elephanten" entfaltet hat. Der tote Bruder ist dort eine Art Schutzengel, mit breiter Stirn und leuchtenden Augen, ein innig Eingeweihter, ungeteilt aufmerksam, näher als alle Sichtbaren, ein bereits Erlöster, den noch ins Irdische Verbannten weit voraus.
Der Künstler, das Leben, die Liebe, das Glück, die Heilung von Melancholie, Depression und Impotenz, umgekehrt die Vernichtung des Lebens durch die Kunst, das Unglück des Schaffenden, seine Einsamkeit, das "Du darfst nicht lieben": das Aroma der großen Themen des europäischen Ästhetizismus belebt dieses zugleich kunstvoll komponierte und künstlich konstruierte erzählerische Experiment. Außerdem und nebenbei macht es Lust auf Rom.
Hanns-Josef Ortheil: "Faustinas Küsse". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 1998. 351 S., geb., 42,- DM.
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"Dieses Buch ist wunderbar erzählt, dicht und geistreich. Hanns-Josef Ortheil hat ein Spiel inszeniert, um Freundschaft noch mehr als um Liebe kreisend, schön und in sich stimmig."(SZ über Faustinas Küsse)
"Mit Leichtigkeit und erzählerischer Eleganz hat Hanns-Josef Ortheil ein grosses Thema und einen grossen Menschen der Weltliteratur wiederbelebt." (Neue Zürcher Zeitung über Faustinas Küsse)
"Mit Leichtigkeit und erzählerischer Eleganz hat Hanns-Josef Ortheil ein grosses Thema und einen grossen Menschen der Weltliteratur wiederbelebt." (Neue Zürcher Zeitung über Faustinas Küsse)