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Ein Hoch auf die Verwilderung: In ihren Aufsätzen macht sich Brigitte Kronauer auf die Suche nach zersplitterten und gebrochenen Charakteren.
Von Wiebke Porombka
Brigitte Kronauer ist eine Autorin, deren Romane stets auch poetologische Reflexionen entfalten. Deshalb überrascht es es nicht, mit welch ästhetischer Feinnervigkeit sie sich in dem Band "Favoriten" anderen Autoren nähert. Und doch verwundert es dann jedes Mal aufs Neue, wie Kronauer mit katzenartiger Leichtigkeit und Eleganz quer durch ganze Lebenswerke taucht, von Mörike oder Raabe genauso wie von Marie-Luise Scherer oder Eckhard Henscheid, oder wie sie dann wieder nur einzelne Episoden dieser Texte erhellend und mitunter überraschend beleuchtet. Selbstredend fehlen auch Kronauers bekannte Favoriten Hamsun, Conrad und Melville nicht in diesem Band, der mit wenigen Ausnahmen aus den siebziger und achtziger Jahren Texte, Dankes- und Preisreden aus dem vergangenen Jahrzehnt versammelt. Für einen Essay über Tom Drurys Roman "Das Ende des Vandalismus", der in diesem Frühjahr in deutscher Übersetzung erschienen ist, bekennt Kronauer im Vorwort, habe die Zeit nicht mehr gereicht.
Freilich kann man nicht nur den Hinweis auf Drury, sondern alle Texte in diesem Band zunächst einmal als Lektüre-Empfehlungen nehmen, gerade weil Kronauers Favoriten - Hans Erich Nossack etwa oder der Lyriker Gerard Manley Hopkins - sich eher am Rand des literaturgeschichtlichen Kanons befinden. "Ich beurteile doch nicht die Größe eines Mannes nach dem Umfang der Bewegung, die er hervorruft", diesen Satz aus Knut Hamsuns "Mysterien" stellt Kronauer unmittelbar an den Anfang ihres Buches, um im Folgenden ihre Kriterien offenzulegen. Geradezu liebevoll schreibt sie über Helmut Heißenbüttel und dessen Vermögen, im Schreiben die "Bewegung vom Gedanken zu den Wahrnehmungsbildern" zu vollziehen, und flicht dazu eine persönliche Erinnerung an den Dichter ein - ein etwas schüchternes Plauderstündchen beim Tee, bei dem sie staunend bemerkte, dass all die von ihr bewunderte "aggressiv-avantgardistische Intelligenz" hinter einem "großen, leicht geröteten Gesicht mit dem freundlichen Lächeln" verborgen ist.
Und was über die energiegeladenen, die Regeln der Realität außer Kraft setzenden Texte von Ror Wolf nachgerade emphatisch aus ihr hervorzusprudeln scheint und sie selbst zu atemlosen Satzkaskaden inspiriert, kann man kaum an sich vorüberziehen lassen, ohne umgehend einen von Wolfs Bänden aus dem Regal zu greifen.
Viel mehr aber als Lektüreempfehlungen oder ästhetische Deutungen von Kollegen kann man diese Essays als Teilstücke einer eigenen Poetologie lesen, zu deutlich sind die Motivwiederholungen in den unterschiedlichen Texten oder die sich wiederholenden Hinweise auf bestimmte formale und inhaltliche Konstellationen, die Kronauer affizieren. All seine verstreuten Feuilletons und Prosaminiaturen seien Beiträge zu einem großen "Ich-Buch", so nannte es Robert Walser einmal, dessen "schüchtern-ungenierten Helden" bei Kronauer ebenfalls ein Beitrag vorbehalten ist.
In diesem Sinne kann man auch diese gesammelten Aufsätze zur Literatur als ein solches Ich-Buch verstehen, in dem Kronauer Auskunft darüber gibt, was sie für das Wesen und das Wesentliche an Literatur hält. Über etwas mithin, das sich immer wieder auch auf ihr eigenes Schreiben zurückspiegeln lässt. Allen voran steht eins: ein Lob, eine Feier der "Verwilderung", ein von Brentano entlehnter Begriff, und gleichsam deren entschiedene Einforderung. Kronauer wird nicht müde zu betonen, dass ",jenes bißchen' Seele, und mit ihr die Wirklichkeit, heterogen ist, über unzählige, rasant wechselnde, gegensätzliche Zustandsweisen verfügt", die in der Literatur - als das eigentliche Unfassbare - fasslich und sagbar gemacht werden müssen, jedenfalls für Momente. Deshalb ist Kronauer beständig auf der Suche nach diesen zersplitterten, widersprüchlichen, wankelmütigen Charakteren und verwehrt sich gegen Logik und Konsistenz. Büchners Woyzeck ist solch eine Figur für sie, der als geistig unterbemitteltes Wesen, als "das arme Stück Mensch", auf die Bühne gezerrt wird und plötzlich hochphilosophische Spekulationen anzustellen vermag.
Wo es flirrt und diffus unkontrollierbar ist in der Seele und in der Welt, da ist Sprache für Kronauer - der mitunter das allzu Artifizielle ihres Schreibens vorgeworfen wird - das Mittel, das Form verleiht, ohne zu Starrheit zu formen. "Nichts Konkretes, kein Lidschlag ist zu gering", schreibt sie an einer Stelle, "um nicht durch das treffende Wort vor dem Zerstäuben gerettet, durch das vieldeutige, jeder programmatischen Einschnürung fremde Erzählen Joseph Conrads in Bronze gegossen zu werden." Ein permanentes Miteinander von Verwilderung und Bändigung ist es mithin, das der Literatur wesentlich ist.
Bei allen grundsätzlichen, analytischen und poetologischen Reflexionen aber bleibt Kronauer immer auch Leserin, die Texte auf sich wirken lassen kann. Beim Lesen von Hamsun etwa fühlt sie sich in einen "zugigen Korridor zwischen Himmel und Hölle" versetzt, zugleich gibt es aber immer wieder auch die ephemeren Lektüreerlebnisse, in denen sich der ureigentliche Grund von Literatur erschließt: "Für mich sind diese vollständig irdischen, nicht selten skurrilen Momente einer strahlend und fast schon geräuschlos aufreißenden Transzendenz dasjenige, was mich bei einem Menschen und in einem Roman unwiderstehlich ergreift und sich mir schärfer eingraviert als das ganze notwendige Drumherum."
Brigitte Kronauer: "Favoriten". Aufsätze zur Literatur. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 200 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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