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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Deutschland und Polen tun sich schwer miteinander. Ein ehemaliger Diplomat hält beiden Seiten den Spiegel vor und mahnt zur Mäßigung.
Von Hermann Wentker
Die Beziehungen zwischen der deutschen und der polnischen Regierung befinden sich "heute in der schwersten Krise seit Ende des Kalten Kriegs". Dieser beunruhigende Befund bildet den Ausgangspunkt von Rolf Nikel, der von 2014 bis 2020 als deutscher Botschafter in Warschau war und sich auf verschiedenen früheren Verwendungen immer wieder mit Ost(mittel)europa befasst hat. Sein Buch enthält keine klassischen Memoiren, sondern eine kluge, historisch sensible politische Analyse der deutsch-polnischen Gegenwart, mit der er zu einem besseren Verständnis Polens beitragen will. Nachdem mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag vom November 1990 alle Irritationen über den Bestand der polnische Westgrenze ausgeräumt worden waren und der Nachbarschaftsvertrag vom Juni 1991 das Fundament des bilateralen Verhältnisses für die Zeit nach dem Kalten Krieg gelegt hatte, ging es mit den Beziehungen steil bergauf. Getragen wurden sie vor allem von einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, die vom polnischen Wirtschaftswunder und vom EU-Beitritt Polens 2004 profitierten. Hinzu kamen sich stetig verbessernde zivilgesellschaftliche Beziehungen, die unter anderem vom 1991 gegründeten Deutsch-Polnischen Jugendwerk, von Städtepartnerschaften und einem intensiven Kulturaustausch gefördert und von den Kirchen unterstützt wurden. Einen Rückschlag erhielt die Erfolgsgeschichte mit dem Antritt der PiS-Regierung 2015. Diese betreibt Nikel zufolge unter ihrem Spiritus Rector Jaroslaw Kaczynski eine "konservative Revolution". Nachdem die PiS zwischen 2005 und 2007 schon einmal eine wenig erfolgreiche Regierung angeführt hatte, geht es ihr nun um einen grundlegenden staatlichen und gesellschaftlichen Umbau, angeblich um den unvollendeten Systemwechsel von 1989/90 zu vollenden. Denn in den 1990er-Jahren hätten Kaczynski zufolge "Walesa und Co. die Revolution gestohlen und einer Restaurierung linker Kräfte Vorschub geleistet". Dazu werden nun der Rechtsstaat demontiert, das staatliche Fernsehen politischer Kontrolle unterworfen, ein Austausch der Eliten in Verwaltung und Staatsmedien betrieben und ein Kulturkampf gegen antipolnische Einflüsse geführt. Unter dieser Entwicklung leiden insbesondere die Beziehungen zu Deutschland und zur EU. Denn anders als ihre Vorgänger, begann die PiS-Regierung deutsch-polnische Meinungsverschiedenheiten ideologisch aufzuladen, hochzustilisieren und innenpolitisch zu instrumentalisieren. Besonders die wiederholten, inzwischen sehr konkreten polnischen Reparationsforderungen tragen laut Nikel einen klaren politisch-instrumentellen Charakter. In engem Zusammenhang damit steht der Konflikt mit der EU, die für Kaczynski vor allem ein Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen ist. Seit Beginn des Ukrainekriegs kommt das Scheitern der deutschen Ostpolitik hinzu. Deutschland stehe damit "vor einem der größten außenpolitischen Scherbenhaufen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland". Nikel sieht ein "systemisches Versagen" von aufeinanderfolgenden Bundesregierungen, der Wirtschaft und großer Teile der Gesellschaft in der Russlandpolitik, die zu naiv gewesen sei, eine verhängnisvolle Energieabhängigkeit in Kauf genommen und isoliert auf kooperative Sicherheit mit Russland gesetzt habe, ohne gleichzeitig die eigene Verteidigungsfähigkeit zu sichern. Warschau hingegen hat stets vor Russland gewarnt und wirft Berlin Fehlverhalten auch in der Gegenwart vor, da es den Krieg "immer noch durch das Moskauer Prisma" betrachte und Kiew nur halbherzig unterstütze. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind folglich auch einer erheblichen ostpolitischen Belastungsprobe ausgesetzt, für die Deutschland mitverantwortlich ist. Nikel sagt einen langjährigen Systemkonflikt mit Russland voraus, der auch die Tektonik der europäisch-atlantischen Ordnung verändern werde. Da Sicherheit vorerst ohne oder sogar gegen Russland organisiert werden müsse, komme Polen als neuem Frontstaat größere militärische und politische Bedeutung zu als bisher. Dessen Sorgen vor einer konventionellen Schwäche der NATO-Ostflanke angesichts der Furcht, das nächste Opfer Russlands zu werden, müssten ernst genommen werden. Insgesamt rücke das Gravitationszentrum der NATO weiter nach Osten. Demgegenüber sei Deutschlands Führungsrolle in Europa angeschlagen - was von Polen, das auf eigenen Machtgewinn hoffe, begrüßt werde. Gleichwohl mahnt Nikel Warschau zur Mäßigung gegenüber Berlin und Brüssel, da eine einheitliche westliche Linie gegenüber Moskau unverzichtbar sei. Was hält Deutschland und Polen noch zusammen? Neben funktionierenden wirtschaftlichen Beziehungen ist dies nach wie vor die EU: Denn trotz heftiger Auseinandersetzungen stehe wegen einer mehrheitlich proeuropäischen polnischen öffentlichen Meinung und umfangreicher EU-Finanzzuweisungen kein "Polexit" bevor. Außerdem verweist Nikel auf eine lange, bis in die 1960er-Jahre reichende Aussöhnungsgeschichte, deren elementarer Bestandteil das Erinnern an die deutschen Verbrechen in Polen nach 1939 ist. Er selbst hat sich sowohl als Botschafter als auch danach durch sein Engagement für einen Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen in Berlin hier große Verdienste erworben. Für die Zukunft rät er Deutschland zu einer "Strategie des ruhigen konstruktiven Engagements", ohne sich allerdings in zentralen Fragen wie den Grundwerten der EU auf faule Kompromisse einzulassen. Gerade in der Sicherheitspolitik müsse Deutschland Polen davon überzeugen, "dass die Zeitenwende real ist". Bei all dem ist er sich freilich im Klaren darüber, dass ohne ein Umdenken auch in Polen die bilateralen Beziehungen nicht aus der Krise herauskommen werden. Sehr viel hängt daher vom Ausgang der Wahlen in Polen im Herbst 2023 ab. Rolf Nikel: Feinde Fremde Freunde. Polen und die Deutschen. Langen Müller Verlag, München 2023. 288 S., 24,- Euro.
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