Oslo 1940 – am Vorabend der Deutschen Invasion in Norwegen. Der Beginn einer Familiensaga, deren treibende Kräfte sechs Frauen sind. Im Mittelpunkt stehen Rita Bohre und ihr Lebenswerk Femina erecta. Es handelt von der aufgerichteten Frau. Von Frauen, die immer aufs Neue aufstehen müssen. Agnes tritt eine Pilgerreise an. Rita führt Gespräche mit Fridtjof Nansen in seinem Turm in der Villa Polhøgda. Maud segelt auf einem Floß den Kongo-Fluss stromabwärts. Bjørg schreibt Gedichte in der psychiatrischen Klinik Gaustad. Laila arbeitet als Kabinenmädchen auf der MS Bergensfjord. Ingri wird die jüngste Ministerin in der Regierung. Etwa 2000 Jahre sind vergangen, und wir befinden uns in der Chinesischen Föderation. Durch eine gewaltige Katastrophe vor 1000 Jahren wurden alle gespeicherten Daten und Informationen vernichtet, doch weil Mitglieder der Long-Dynastie in vielen zentralen Positionen sitzen und diese Norwegen als ihre ursprüngliche Heimat betrachten, wurde eine von drei Frauen geleitete Gruppe mit der Aufgabe betraut, von den norwegischen Ahnen der Long-Dynastie zu erzählen, d. h. über das Geschlecht der Bohre aus der Zeit vor der ersten Emigrationswelle nach China.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2021Weshalb Norwegen am Ende völlig ausgelöscht wurde
Die Frauen waren etwas Besonders: Jan Kjærstad besichtigt ein Land, an das sich im Jahr Y-1040 nur noch Forscher erinnern
Norwegens Schriftsteller haben derart einen Narren an dem gefressen, was sich Wirklichkeit nennt, dass es mit "Wirklichkeitsliteratur" sogar einen Schubladenbegriff für ihre autobiographischen Erzeugnisse gibt. Im Land existieren aber auch noch waschechte Romanciers, die auf den Mehrwert des Fiktiven pochen. So etwa der produktive Jan Kjærstad. Auch bei ihm gerät die "Wirklichkeit" nicht aus dem Blick. "Berge" etwa, die Geschichte eines Anschlags, bei dem die Familie eines sozialdemokratischen Ministers auf grausame Weise ermordet wird, ist nicht zu verstehen ohne Norwegens Reaktion auf den rechtsradikalen Anschlag von Oslo und Utøya 2011. Aber die Story selbst war eben reine Erfindung.
Das gilt auch für Kjærstads Roman "Femina Erecta", ein vergleichsweise entspannt gestimmtes Buch aus dem Jahr 2015, das von mehreren Generationen einer norwegischen Familie und vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) von ihren Frauen erzählt. Über sie erkunden wir Norwegen im zwanzigsten Jahrhundert. Also ein Land, das man beinahe vergessen hat, und eine Zeit, an die sich niemand erinnert. "Femina Erecta" richtet sich nämlich - ein gewitzter Verfremdungseffekt - an asiatische Leser, die sich mit mehr als zweitausend Jahren Abstand für die Wurzeln einer berühmten Dynastie interessieren. Die Erzählstimme gehört den Wissenschaftlerinnen An Xue, Cui Xiaofen, Zong Meifeng aus Weinan, die im Jahre "Y-1040" eine Studie zum Thema vorlegen und dabei auch "die Ursachen dafür andeuten" wollen, "weshalb Norwegen als Nation dem Verfall erlag und am Ende völlig ausgelöscht wurde".
Um es vorwegzunehmen: An bewundernswerten Frauen wie Rita Bohre, deren Leben von der Kindheit bis zum Tod den roten Faden des Romans bildet, scheiterte Norwegen nicht. Und natürlich war das Land mit manchen Eigenarten auch nicht völlig allein: Es existierte in einer Zeit, in der die Menschheit im Ganzen mit ihrer Abschaffung beschäftigt war - dem Leser der Zukunft sind diese Dinge vertraut dank Wang Chuantos offenbar herausragender Darstellung "Der Versuch der Menschheit, sich selbst auszulöschen - Teil 1: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Siebzigjährigen Krieg" aus dem Jahr Y-998.
Die eigentliche Handlung beginnt im Vorfeld des deutschen Angriffs auf Norwegen 1940. Rita Bohre, eine alleinstehende Paläontologin, die in einer Villa in Lysaker lebt und von einer Professorenstelle träumt, hat anlässlich ihres vierundvierzigsten Geburtstags einige Freunde zu Gast, ihre ungleichen Söhne Sigurd und Harald sowie Bjørg, ihre Tochter. Man diskutiert die deutsche Bedrohung ("Nein", meint einer der Deutschlandfreunde im Raum, "wenn sie eine Invasion bei uns im Sinn hätten, bräuchten sie dafür nur ihre überlegene Kultur!"), und auch Themen wie "Rassenhygiene" und Antisemitismus kommen auf den Tisch. Rita berichtet von klugen Artikeln, die ein Bekannter zum "dämonischen Element im deutschen Nationalsozialismus" verfasst hat. Es sind kunstvoll verdichtete Szenen, facettenreicher als das meiste, was man so in Spielfilmen und Fernsehserien über Norwegen vor und nach 1940 erfährt. Einzelne Passagen sind überfrachtet vom Bildungsauftrag, den Kjærstad empfindet.
Doch das sind seine Leser seit der grandiosen Wergeland-Trilogie, die um einen Fernsehhistoriker gestrickt war, ebenso gewohnt wie sein Staunen über die wundersamen Momente des Lebens, das viele Szenen wie dünner Zuckerguss überzieht. Die Wergeland-Trilogie hatte, als sie Ende der neunziger Jahre erschien, einen spannenden Aufhänger: Es galt, einen Mord aufzulösen, und ähnlich ist es bei anderen Werken Kjærstads - von den postmodernen Thrillern "Rand" und "Homo Falsus", die seinen Ruf als Schriftsteller begründeten, bis zu "Ich bin die Walker Brüder", in dem es neben vielen anderen Dingen um einen bevorstehenden Terroranschlag und den Verlust von Phantasie geht, oder dem bereits erwähnten "Berge", das bei den norwegischen Rezensenten 2017 gut ankam.
Ein ähnlich fesselnder Fluchtpunkt fehlt "Femina Erecta". Im Leben Ritas und ihrer Nachfahren geht es fast nur während der Kriegszeit dramatisch zu: Harald stirbt, Sigurd landet im Gefangenenlager, Bjørg wird unter anderem Augenzeugin der Deportation norwegischer Juden. In den Nachkriegsjahrzehnten zieht sich der Roman in die Länge, weil er manchmal stärker vom historischen Zettelkasten des Autors getrieben wird als von den erfundenen, mal in dieses und mal in jenes Leben hüpfenden Geschichten.
Aber das gleicht der ungewöhnliche, über die Zukunft auf die Vergangenheit gerichtete Blickwinkel wieder aus. Und immerhin macht Kjærstad bei seiner Besichtigung der Vergangenheit nicht, wie sein Kollege Ketil Bjørnstad, mit gleich sechs autobiographischen Bänden über "Die Welt, die meine war" auf Karl Ove Knausgård. (Das hätte Kjærstad, der 2001 den Nordischen Literaturpreis erhielt, auch gar nicht nötig.)
"Femina Erecta" ist ein übersprudelnd ideenreiches, farbiges, stärker als andere Werke Kjærstads für ein breites Publikum geschriebenes Buch. Wie fast alle Bücher dieses Autors steckt es voll neckischer Seitenhiebe auf Norwegens Selbstzufriedenheit, und erst recht bei der Beschreibung des neureichen Ölstaates zur Jahrtausendwende holt Kjærstad abermals zur Generalkritik aus: "Norwegens historische Chance war kurz, und sie blieb ungenutzt." Gleichzeitig verneigt sich das Buch: vor Norwegens starken Frauen. Sie scheinen den Forscherinnen An Xue, Cui Xiaofen, Zong Meifeng besonders zu imponieren.
Und auch eine vergessene Kulturtechnik hat das Trio beeindruckt: "Zu einem großen Teil bauen wir auf den sogenannten Roman", erklären Xue, Xiaofen und Meifeng im Vorwort, "ein Genre, das im 19., 20. und 21. Jahrhundert seine Hochblüte feierte." Es sei damals immer kommerzieller und emotional übertriebener geworden. "Als Folge dessen wurde ein knochentrockener Dokumentarismus betrieben, nebst verschiedenen kurzen, narzisstischen Hybriden, die durch die neuen Medien entstanden. Dann trat die Katastrophe ein und setzte dem allen ein Ende."
MATTHIAS HANNEMANN
Jan Kjærstad: "Femina Erecta". Roman.
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Septime Verlag, Wien 2020. 816 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Frauen waren etwas Besonders: Jan Kjærstad besichtigt ein Land, an das sich im Jahr Y-1040 nur noch Forscher erinnern
Norwegens Schriftsteller haben derart einen Narren an dem gefressen, was sich Wirklichkeit nennt, dass es mit "Wirklichkeitsliteratur" sogar einen Schubladenbegriff für ihre autobiographischen Erzeugnisse gibt. Im Land existieren aber auch noch waschechte Romanciers, die auf den Mehrwert des Fiktiven pochen. So etwa der produktive Jan Kjærstad. Auch bei ihm gerät die "Wirklichkeit" nicht aus dem Blick. "Berge" etwa, die Geschichte eines Anschlags, bei dem die Familie eines sozialdemokratischen Ministers auf grausame Weise ermordet wird, ist nicht zu verstehen ohne Norwegens Reaktion auf den rechtsradikalen Anschlag von Oslo und Utøya 2011. Aber die Story selbst war eben reine Erfindung.
Das gilt auch für Kjærstads Roman "Femina Erecta", ein vergleichsweise entspannt gestimmtes Buch aus dem Jahr 2015, das von mehreren Generationen einer norwegischen Familie und vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) von ihren Frauen erzählt. Über sie erkunden wir Norwegen im zwanzigsten Jahrhundert. Also ein Land, das man beinahe vergessen hat, und eine Zeit, an die sich niemand erinnert. "Femina Erecta" richtet sich nämlich - ein gewitzter Verfremdungseffekt - an asiatische Leser, die sich mit mehr als zweitausend Jahren Abstand für die Wurzeln einer berühmten Dynastie interessieren. Die Erzählstimme gehört den Wissenschaftlerinnen An Xue, Cui Xiaofen, Zong Meifeng aus Weinan, die im Jahre "Y-1040" eine Studie zum Thema vorlegen und dabei auch "die Ursachen dafür andeuten" wollen, "weshalb Norwegen als Nation dem Verfall erlag und am Ende völlig ausgelöscht wurde".
Um es vorwegzunehmen: An bewundernswerten Frauen wie Rita Bohre, deren Leben von der Kindheit bis zum Tod den roten Faden des Romans bildet, scheiterte Norwegen nicht. Und natürlich war das Land mit manchen Eigenarten auch nicht völlig allein: Es existierte in einer Zeit, in der die Menschheit im Ganzen mit ihrer Abschaffung beschäftigt war - dem Leser der Zukunft sind diese Dinge vertraut dank Wang Chuantos offenbar herausragender Darstellung "Der Versuch der Menschheit, sich selbst auszulöschen - Teil 1: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Siebzigjährigen Krieg" aus dem Jahr Y-998.
Die eigentliche Handlung beginnt im Vorfeld des deutschen Angriffs auf Norwegen 1940. Rita Bohre, eine alleinstehende Paläontologin, die in einer Villa in Lysaker lebt und von einer Professorenstelle träumt, hat anlässlich ihres vierundvierzigsten Geburtstags einige Freunde zu Gast, ihre ungleichen Söhne Sigurd und Harald sowie Bjørg, ihre Tochter. Man diskutiert die deutsche Bedrohung ("Nein", meint einer der Deutschlandfreunde im Raum, "wenn sie eine Invasion bei uns im Sinn hätten, bräuchten sie dafür nur ihre überlegene Kultur!"), und auch Themen wie "Rassenhygiene" und Antisemitismus kommen auf den Tisch. Rita berichtet von klugen Artikeln, die ein Bekannter zum "dämonischen Element im deutschen Nationalsozialismus" verfasst hat. Es sind kunstvoll verdichtete Szenen, facettenreicher als das meiste, was man so in Spielfilmen und Fernsehserien über Norwegen vor und nach 1940 erfährt. Einzelne Passagen sind überfrachtet vom Bildungsauftrag, den Kjærstad empfindet.
Doch das sind seine Leser seit der grandiosen Wergeland-Trilogie, die um einen Fernsehhistoriker gestrickt war, ebenso gewohnt wie sein Staunen über die wundersamen Momente des Lebens, das viele Szenen wie dünner Zuckerguss überzieht. Die Wergeland-Trilogie hatte, als sie Ende der neunziger Jahre erschien, einen spannenden Aufhänger: Es galt, einen Mord aufzulösen, und ähnlich ist es bei anderen Werken Kjærstads - von den postmodernen Thrillern "Rand" und "Homo Falsus", die seinen Ruf als Schriftsteller begründeten, bis zu "Ich bin die Walker Brüder", in dem es neben vielen anderen Dingen um einen bevorstehenden Terroranschlag und den Verlust von Phantasie geht, oder dem bereits erwähnten "Berge", das bei den norwegischen Rezensenten 2017 gut ankam.
Ein ähnlich fesselnder Fluchtpunkt fehlt "Femina Erecta". Im Leben Ritas und ihrer Nachfahren geht es fast nur während der Kriegszeit dramatisch zu: Harald stirbt, Sigurd landet im Gefangenenlager, Bjørg wird unter anderem Augenzeugin der Deportation norwegischer Juden. In den Nachkriegsjahrzehnten zieht sich der Roman in die Länge, weil er manchmal stärker vom historischen Zettelkasten des Autors getrieben wird als von den erfundenen, mal in dieses und mal in jenes Leben hüpfenden Geschichten.
Aber das gleicht der ungewöhnliche, über die Zukunft auf die Vergangenheit gerichtete Blickwinkel wieder aus. Und immerhin macht Kjærstad bei seiner Besichtigung der Vergangenheit nicht, wie sein Kollege Ketil Bjørnstad, mit gleich sechs autobiographischen Bänden über "Die Welt, die meine war" auf Karl Ove Knausgård. (Das hätte Kjærstad, der 2001 den Nordischen Literaturpreis erhielt, auch gar nicht nötig.)
"Femina Erecta" ist ein übersprudelnd ideenreiches, farbiges, stärker als andere Werke Kjærstads für ein breites Publikum geschriebenes Buch. Wie fast alle Bücher dieses Autors steckt es voll neckischer Seitenhiebe auf Norwegens Selbstzufriedenheit, und erst recht bei der Beschreibung des neureichen Ölstaates zur Jahrtausendwende holt Kjærstad abermals zur Generalkritik aus: "Norwegens historische Chance war kurz, und sie blieb ungenutzt." Gleichzeitig verneigt sich das Buch: vor Norwegens starken Frauen. Sie scheinen den Forscherinnen An Xue, Cui Xiaofen, Zong Meifeng besonders zu imponieren.
Und auch eine vergessene Kulturtechnik hat das Trio beeindruckt: "Zu einem großen Teil bauen wir auf den sogenannten Roman", erklären Xue, Xiaofen und Meifeng im Vorwort, "ein Genre, das im 19., 20. und 21. Jahrhundert seine Hochblüte feierte." Es sei damals immer kommerzieller und emotional übertriebener geworden. "Als Folge dessen wurde ein knochentrockener Dokumentarismus betrieben, nebst verschiedenen kurzen, narzisstischen Hybriden, die durch die neuen Medien entstanden. Dann trat die Katastrophe ein und setzte dem allen ein Ende."
MATTHIAS HANNEMANN
Jan Kjærstad: "Femina Erecta". Roman.
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Septime Verlag, Wien 2020. 816 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Matthias Hannemann findet die Erzählperspektive in Jan Kjaerstads neuem Roman überraschend: Aus Sicht einer chinesischen Dynastienforscherin erkundet der Autor Norwegen im 20. Jahrhundert. Als roter Faden dient das Leben einer Paläontologin ab 1940 bis in die Gegenwart, erläutert Hannemann, der Kjaerstads farbig fiktionales dem autobiografischen Schreiben bei Kjaerstads Landsmännern Knausgard und Björnstad vorzieht. Auch wenn dem Roman der "fesselnde Fluchtpunkt" fehlt und der Text sich mitunter in die Länge zieht, wie Hannemann feststellt, Kjaerstads "Seitenhiebe" auf seine Heimat Norwegen allein sind die Lektüre wert, meint der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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