In ihren Novellen »Fenitschka« und »Eine Ausschweifung« fokussiert Lou Andreas-Salomé aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Positionierung zweier emanzipierter Frauen zur Zeit der Jahrhundertwende. Die promovierte Wissenschaftlerin Fenitschka und die erfolgreiche Künstlerin Adine sind keineswegs Werbefiguren der Frauenbewegung; sie regen viel eher zum Nachdenken darüber an, wie schwierig sich die Integration unabhängiger Frauen in eine Gesellschaft gestaltet, in der es für erfolgreiche Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen noch keine positiv besetzten Rollenvorbilder gibt. Die beiden Frauenfiguren erscheinen als Repräsentantinnen einer neuen Gattung, die vor der Herausforderung steht, sich zu behaupten. Ungeachtet ihrer Erfolge sind die nicht an einen Mann gebundenen Frauen beständig Gerüchten und Verleumdungen ausgesetzt, sodass sich ihre Unabhängigkeit als höchst ambivalent erweist. Zudem ist sie ein überaus fragiler Status, der mit einer Eheschließung abrupt enden würde. Die Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft erscheint in den Novellen als unverträglich mit der Liebe zum anderen Geschlecht. Folgerichtig werden weder strahlende Heldinnen der Frauenbewegung stilisiert, noch romantische oder glückliche Liebesbeziehungen inszeniert. Lou Andreas-Salomés Novellen sind literarische kunstvoll inszenierte und philosophisch akzentuierte Gesellschaftsstudien, die einen sachlichen und facettenreichen Einblick in das Seelenleben emanzipierter Frauen zur Zeit der Jahrhundertwende ermöglichen.