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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
John-Dylan Haynes und Matthias Eckolt über die Erforschung von Denk- und Entscheidungsvorgängen mit bildgebenden Verfahren
John-Dylan Haynes, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging, ist so etwas wie der Chef-Gedankenleser unter den Hirnforschern. Als einer der Ersten verwendete er Algorithmen des Maschinenlernens, um Muster in den Bildern aus dem Kernspintomographen (fMRT) zu erkennen. Damit sollten Denk- und Entscheidungsvorgänge besser verstanden werden. In ihrem Buch fassen er und Ko-Autor Matthias Eckoldt rund fünfzehn Jahre Forschung auf diesem Gebiet zusammen. Der Untertitel verspricht viel: "Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann."
Die Idee ist nicht neu. Als der Jenenser Professor Hans Berger vor bald hundert Jahren die Elektroenzephalographie (EEG) entwickelte, dachte man, sich bald Briefe in "Hirnschrift" schreiben zu können. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es dann große Fortschritte auf dem Gebiet der elektrischen Hirnstimulation. Im Kalten Krieg ging das mit Vorstellungen des Gedankenlesens und der Gedankenkontrolle einher. Für manche war es ein Fluch, andere sahen darin einen Segen, etwa bei der Bekämpfung von Kriminalität. Auch die Autoren spielen jetzt mit ähnlichen Gedanken: Hätten sich die Terroranschläge vom 11. September mit einer Gedankenkontrolle am Flughafen verhindern lassen?
Der Großteil des Buchs vermittelt wissenschaftliche Grundlagen: Wie funktioniert die fMRT? Was ist Mustererkennung? Was sind Gehirn-Computer-Schnittstellen? Wie funktionieren die einschlägigen Experimente? Dabei werden vor allem Haynes' eigene Studien besprochen. Zahlreiche Abbildungen verdeutlichen die abstrakten Konzepte, Comics lockern die wissenschaftliche Materie auf. In diesem Sinne ist das Buch wirklich gelungen und für eine breite Leserschaft geeignet.
Forschung muss sich auf das beschränken, was experimentell machbar und ethisch vertretbar ist. Doch Haynes vergisst diese Einschränkungen schnell, sobald er seine Daten interpretiert. Das wird auch im neuen Buch sehr deutlich. Beispielsweise bekommt der Selbstversuch einer Fernsehreporterin ein eigenes Kapitel mit der Überschrift "Computer knacken den Gedankencode". Die Frau brachte zehn Bilder - von Menschen, Tieren, Sehenswürdigkeiten und Gegenständen - mit, die sie im Kernspintomographen betrachtete. Wie in solchen Versuchen üblich, lernte der Algorithmus in einer ersten Phase, die Messdaten voneinander zu unterscheiden. In der zweiten Phase wurden die Bilder wieder betrachtet, doch musste der Algorithmus nun bestimmen, was die Versuchsperson sah. Fazit: Der Computer habe "eine Trefferquote von hundert Prozent im Erkennen der Gedanken der Journalistin" erzielt.
Dabei wurde hier nichts "geknackt" und auch kein Gedanke gelesen. Die Bedeutung - dass etwa das Brandenburger Tor gesehen wurde - gibt allein der Versuchsleiter den Gehirndaten, nicht der Computer. Die Reporterin hätte auch etwas ganz anderes sehen, denken oder tun können, solange sich die Datenmuster in der ersten und zweiten Phase nur hinreichend ähneln. "Hirnlose Hirnforschung" nannte das der Psychologieprofessor Scott Lilienfeld, ein Kritiker der bildgebenden Hirnforschung und ihrer Übertreibungen.
Haynes und Eckoldt diskutieren (wieder einmal) das Libet-Experiment. Eine unbewusste Gehirnaktivität sei der bewussten Entscheidung der Versuchspersonen vorausgegangen. Darum könne der Wille nicht frei sein. Wann hört diese Mythenbildung endlich auf? Benjamin Libet untersuchte keine Willensentschlüsse, sondern nur spontane Bewegungen. Da die Gehirnaktivität auch auftrat, wenn sich die Versuchspersonen nicht bewegten, kann sie nicht die Ursache sein. Die Buchautoren erwähnen zwar Grenzen des Versuchsaufbaus, ohne jedoch von ihrer weitreichenden Schlussfolgerung abzurücken. Und auf den Einwand, spontane Bewegungen seien wenig aussagekräftig, reagierte Haynes auf seine eigene Art: In späteren Versuchen sollten die Probanden wählen, zwei Zahlen zu addieren oder zu subtrahieren. Das seien dann "komplexere Entscheidungen".
Die Neurowissenschaften haben sicher viel Faszinierendes zu bieten. Als Beispiel sei hier ein Experiment von Haynes und seinen Mitarbeitern genannt, das im Buch als "Gehirn-Duell" bezeichnet wird: Dafür maß ein Computer in Echtzeit die Gehirnströme der Versuchspersonen und sollte deren Verhalten vorhersagen. Gelang es den Probanden, den Computer zu überlisten, bekamen sie einen Punkt. Das Ergebnis ist ein Unentschieden zwischen Mensch und Maschine: Manchmal gelang die Vorhersage, manchmal nicht. Nach einem "Point of no Return" konnten die Menschen die Bewegung aber nicht mehr stoppen.
Das ist interessant - doch die Autoren beziehen solche Funde gleich auf das Willensfreiheitsproblem und fordern eine "grundlegende Revision des Strafrechts". Neben dem genannten Terrorismus-Beispiel wird auch die Möglichkeit diskutiert, Menschen schon vor dem Begehen einer Tat einzusperren, wie im Film "Minority Report". Haynes und Eckoldt kritisieren zwar Übertreibungen in den Medien und geben Journalisten, die die Sensationslust ihres Publikums bedienten, hierfür die Schuld. Doch erzeugen sie selbst den Hype. Das zeigt sich schon am Buchtitel: Kommunikationsforscher berichteten bereits vor Jahren, Hirnforscher würden mit Metaphern wie dem "Fenster ins Gehirn" Übertreibungen provozieren.
Insbesondere muss man dem medienerfahrenen Direktor John-Dylan Haynes hier eine gewisse Janusköpfigkeit vorwerfen. Seine Interviewäußerungen klingen mitunter wie Erleuchtungserlebnisse. Und während die Forscher in der wissenschaftlichen Veröffentlichung des "Gehirn-Duells" das Problem der Willensfreiheit ausdrücklich ausklammern, lanciert Haynes' eigenes Institut zur Studie die Pressemitteilung: "Wie frei ist der Wille wirklich?". Es ist vorhersehbar, dass solche Schlagzeilen von Journalisten aufgegriffen werden. Das lässt den Verdacht aufkommen, hier werden Forschungsergebnisse regelmäßig übertrieben, um in die Medien zu gelangen.
Die im Buch entworfene Gesamtschau bleibt mager. Die Autoren entlehnen am Ende von der NASA eine Neun-Punkte-Skala zur Beurteilung des Reifegrads einer Technologie. Das Gedankenlesen befinde sich "derzeit eher auf den unteren Stufen dieser Skala", also im Bereich der experimentellen Grundlagenforschung. Die in den Medien diskutierte Gehirnschnittstelle des Technologie-Milliardärs Elon Musk erreiche noch nicht einmal die erste Stufe. Etwas genauer hätte man sich das in einem Buch übers Gedankenlesen schon gewünscht. Das Fazit zeigt jedenfalls, dass es mit dem vollmundigen Versprechen, das Titel und Untertitel formulieren, nicht weit her ist.
STEPHAN SCHLEIM
John-Dylan Haynes
und Matthias Eckoldt: "Fenster ins Gehirn". Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann.
Ullstein Verlag, Berlin 2021. 304 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John-Dylan Haynes’ neues Buch zum Stand der Hirnforschung
Facebook zum Beispiel, immer schon begierig auf alle Informationen, die es über seine Nutzer bekommen kann, will auch lernen, Gedanken zu lesen. Vordergründig geht es dem Unternehmen um das Verfassen von Textnachrichten. Aber ob es dabei bleibt? Schließlich ist es ein alter Traum, die Gedanken anderer lesen zu können. Lügner hätten keine Chance mehr, Betrug und Verrat würden unmöglich. Deshalb haben sich in der Vergangenheit Wissenschaftler schon im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes CIA mit Gedankenübertragung durch menschliche Medien beschäftigt. Von Mentalisten, die in ihren Shows die Gedanken von Zuschauern zu lesen scheinen, geht große Faszination aus. Und Visionäre wie Elon Musk geben sich überzeugt, in absehbarer Zeit das Gehirn sogar vollständig „auslesen“ zu können.
Tatsächlich aber kann noch niemand Gedanken lesen. Sie nutzen vielmehr die feinen Signale, die über den Gesichtsausdruck, die Körperhaltung oder physiologische Reaktionen wahrgenommen oder gemessen werden können. Und was Elon Musk vorschwebt, ist bislang reine Science Fiction. Das Gedankenlesen bleibt vorerst ein (Alb-)Traum. Zum Glück. Nicht einmal die Gedanken wären dann ja noch frei. Aber wird es noch lange so bleiben? Hirnforscher arbeiten intensiv daran, herauszufinden, was im Kopf vor sich geht. Bei dem Versuch, zu verstehen, wie das Bewusstsein entsteht und das „Ich“ sich einfindet, kommt die Forschung um den Versuch, Gedanken zu lesen, gar nicht herum. Von der Philosophie wird sie dabei mit neugieriger Skepsis beobachtet.
Einer, der dabei in Deutschland bislang am weitesten gekommen ist, ist John-Dylan Haynes, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Berliner Charité. Seine Erkenntnisse stellt er nun in einem Buch vor, dessen eher zurückhaltender Titel bereits zeigt, dass es nicht darum geht, Sensationen zu verkaufen: „Fenster ins Gehirn“. Haynes hat es gemeinsam mit dem Journalisten Matthias Eckoldt verfasst.
Das Fenster ist einerseits natürlich das Buch selbst, über das ein Blick ins Haus der Gedanken geworfen wird. Zugleich spielt Haynes damit auf sein wichtigstes Werkzeug an: Den Kernspin- oder Magnetresonanztomografen (MRT), der in der Medizin eingesetzt wird, um Gewebestrukturen detailliert darzustellen. Der Untertitel verspricht darüber hinaus Auskunft darüber, wie unsere Gedanken entstehen und – das ist dann doch das eigentliche Thema – wie man sie lesen kann. Das ist geschickt formuliert, denn das „wie“ verspricht viel, schränkt aber zugleich ein. Denn im Geiste lässt es sich ergänzen durch ein „und wie es nicht funktioniert“.
Um es vorwegzunehmen: Haynes behauptet nicht, er könnte mit „Brain-Reading“ (Hirn-Lesen) tatsächlich Gedanken so auslesen, wie sie die Denkenden selbst erleben, etwa als Satz wie „Ich lese gerade ein Buch über Hirnforschung“ oder „Ich liebe meinen Partner“. Wie seine Studien belegen, können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem speziellen „funktionellen“ MRT unter bestimmten Voraussetzungen aber ziemlich zuverlässig feststellen, an was Menschen gedacht haben. Und damit ist es wohl legitim, von Gedankenlesen zu sprechen. Haynes und sein Team beobachteten dazu etwa die Hirnaktivität ihrer Versuchsteilnehmer, wenn diese in der Röhre des MRT liegen und an vorgegebene Dinge denken – einen Hund, eine Katze, das Brandenburger Tor. Erinnert sich dieselbe Person später erneut an eines davon, können die Wissenschaftler mit großer Trefferquote anhand der Hirnscans identifizieren, welches es war. Ihr Computer erkennt wieder, was er zuvor gelernt hat. Mit den MRT-Scans wird dabei, wie Haynes es beschreibt, ein Blick aus der Vogelperspektive auf wiederkehrende, wiedererkennbare Muster von Gedankenaktivität in verschiedenen Bereichen auf der Landkarte des Gehirns geworfen.
Hirnforscher weltweit haben die Technik inzwischen so weit entwickelt, dass sie schon Hinweise darauf finden, wovon Menschen im MRT geträumt oder was sie gefühlt haben. Sie können sogar relativ gut bestimmen, ob ihre Versuchspersonen sich entschieden haben, welche von zwei Aufgaben – Subtrahieren oder Addieren –, sie lösen wollen, noch bevor sie damit beginnen. Und: Diese Entscheidung lässt sich anhand bestimmter Messungen schon erkennen, bevor die Probanden selbst sich bewusst entschieden haben. Damit steckt man direkt in der Diskussion darüber, ob der Mensch einen freien Willen hat.
Um informierten Kritikern zuvorzukommen: Haynes verweist selbst auf die Schwächen der Kernspin-Methode, die die Aktivität in bestimmten Hirnbereichen nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einer hohen Wahrscheinlichkeit anzeigen kann. Es braucht ausreichend viele Scans für seriöse Daten. Denn: Selbst ein toter Lachs, das zeigte 2005 ein legendäres Experiment, lässt im fMRT einige Bildpunkte aufleuchten. Doch da die Fachleute bei der Bildanalyse häufiger richtig liegen als falsch, vertrauen sie weiterhin auf die Methode.
Um den Lesern die Forschungsergebnisse verständlich zu machen, führt Haynes in die Grundlagen der Hirnprozesse ein, abknapp und nachvollziehbar, biografische Einsprengsel lockern den harten Stoff auf. Er diskutiert auch Möglichkeiten, Grenzen, Sinn und Vertretbarkeit von Lügendetektoren, von Technologien, die terroristische Gedanken oder psychische Krankheiten identifizieren sollen, er geht ein auf die Versuche, Prothesen oder Videospiele über das Gehirn zu steuern, Textnachrichten über Gedanken zu erstellen, das Neuromarketing und die Vorstellungen eines Ray Kurzweil, der daran arbeitet, die Persönlichkeit eines Menschen komplett auf einen Computer zu übertragen und so unsterblich zu machen.
Noch, so Haynes, seien die Ergebnisse des Brain-Reading von „begrenzter Aussagekraft“, wenn es um Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Produktpräferenzen oder politische Eindellungen geht. Doch viele Möglichkeiten zeichnen sich zumindest ab, natürlich auch solche des Missbrauchs. Haynes fordert deshalb rechtlich verbindliche Regeln zur Verwendung des Brain-Reading. Dazu müsste allerdings zuerst eine Antwort auf die Frage gefunden werden: „Was wollen wir überhaupt dürfen?“ Als Hirnforscher sieht sich Haynes in der Verantwortung, über die Möglichkeiten und Gefahren zu informieren. Dass diese auch durch seine Grundlagenforschung wachsen, aus diesem Dilemma bietet auch er keinen Ausweg.
MARKUS C. SCHULTE VON DRACH
Es geht ihm nicht
darum, Sensationen
zu verkaufen
John-Dylan Haynes,
Matthias Eckoldt:
Fenster ins Gehirn – Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein Buchverlage, Berlin 2021. 304 Seiten.
24 Euro.
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