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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Witold Gombrowicz hat in seinem nun neu übersetzten Roman "Ferdydurke" die groteskesten Schulstunden der Weltliteratur geschaffen.
Manche Menschen träumen davon, dass sie wieder in der Schule sitzen und eine Prüfung ablegen müssen - und können es einfach nicht. Aus diesem Albtraumklassiker des Nichtkönnens aufzuwachen ist mit großer Erleichterung verbunden. Im Roman "Ferdydurke" von Witold Gombrowicz, neben seinem berühmten Tagebuch das beste und temperamentvollste Werk dieses polnischen Klassikers der Moderne, gibt es jedoch kein Erwachen.
Der Schriftsteller Josi Kowalski ist gerade dreißig geworden, er hat mit dem Buch "Memoiren aus der Epoche des Reifens" eine schöne Talentprobe abgegeben und sich den inneren "Rotzbengel" ausgetrieben. Da steht plötzlich die Kolossalgestalt des Gymnasialprofessors Pimko in seinem Zimmer. Umstandslos wird Josi zurückgestuft in die Spätpubertät und aufgefordert, mitzukommen in die Schule. Widerstand zwecklos: "Banal eingepaukert tripple ich neben einem Riesenpauker einher, der bloß plappert 'Putt, putt, Hühnchen . . .'."
In der Klasse erkennt zu seinem Entsetzen niemand Josis überlegenes Alter, vielmehr wird er sogleich als "Neuer" involviert in die Kulturkämpfe zwischen den Coolen und den Kindlichen, an denen sich Professor Pimko als Jugendforscher ergötzt. Er provoziert die Schüler, indem er von ihrer Unschuld schwärmt, worauf die Jungens umso röhrender von Geschlechtsteilen faseln, herumfluchen und ihre Vertrautheit mit der wirklichen Wirklichkeit zum Besten geben, was der pädagogische Mephisto nur umso bezaubernder und unschuldiger findet. Im Blick der anderen formt sich das Verhalten - eine Grundlehre von Gombrowicz.
Einige Schüler bilden allerdings prompt eine idealistische Gegenfraktion, zur Freude der Mütter, die das Schulhofgeschehen durch den Zaun beobachten. Die Auseinandersetzung zwischen den Knaben und den Kerlen eskaliert, wobei die Darstellung des Gezänks sich auch persiflierend aus dem Wortschatz der ideologischen Kämpfe der Dreißigerjahre bedient. Dann dürfen die Leser mit dem zwangsverkleinerten Josi die vielleicht groteskesten Schulstunden der Weltliteratur erleben. In der ersten versucht der Literaturlehrer verzweifelt, bei den Schülern Begeisterung für klassische Lyrik zu entfachen; in der zweiten scheitert die Klasse fulminant am Lateinunterricht.
Für Gombrowicz ist alles Reife, Erwachsene "mit Kind durchsetzt". Das dürfte heute, wo die Suche nach dem "inneren Kind" zur therapeutischen Manie geworden ist, noch mehr einleuchten als im Erscheinungsjahr des Romans, 1938. Und wenn gegenwärtig viel Ehrgeiz darauf verwendet wird, "Zuschreibungen" und "Stereotypen" zu entlarven, dann darf Gombrowicz als virtuoser Pionier auch dieses Sports gefeiert werden: Die "Grundqual" des Lebens sei "einzig und allein das Leiden, das aus der Beschränkung durch den anderen Menschen herrührt, daraus, dass wir uns ersticken und würgen lassen in der schmalen, engen, steifen Vorstellung, die der andere Mensch von uns hat", heißt es in "Ferdydurke".
Allerdings erkennt Gombrowicz das Stereotyp - das er "Phrase, Grimasse, Fresse" nennt - eben auch dort, wo progressiv das Alte abgelehnt wird. Das zeigt der Mittelteil von "Ferdydurke", der furios die lebensweltliche Moderne karikiert. Josi wird von Pimko bei der überaus liberalen, fortschrittsfreudigen Familie Jungiewicz einquartiert, um seine Verkleinerung noch weiterzutreiben. Der Vater ist Wissenschaftler, die Mutter Ingenieurin und Feministin, die Tochter eine einzige Versuchung des Jungseins: "Schon sah ich nichts mehr außer der Zauberwelt der neuzeitlichen Gymnasiastin, Sport, Gelenkigkeit, Hochmut, Waden, Beine, Wildheit, Dancing, Segelboot, Kajak." Von Liebe ergriffen, sinken Josis Chancen, jemals wieder seine Dreißigjährigkeit zurückzuerlangen. Schließlich gelingt es ihm, mit den Mitteln der Intrige und des Schadenszaubers den Untergang des Hauses Jungiewicz herbeizuführen.
Nach der Reifungsanstalt Schule und der urbanen Moderne gilt es noch die Sehnsucht nach dem Einfachen, Ursprünglichen, Unverbildeten zu erledigen. Das Zurück zur Natur landet im letzten Teil des Romans indes beim polnischen Landadel, einer verkünstelten, hierarchisch geprägten Lebensform, die Gombrowicz mit besonderer Schärfe und Detailkenntnis aufs Korn nimmt, weil es sich um seine eigene Herkunftswelt handelt.
Ungeachtet der satirisch-realistischen Details sind die verschiedenen Lebensbereiche symbolische Arenen eines Ideenromans, der sich entlang des zentralen Gegensatzes von Reife und Unreife entzündet. Weil die Sprache dabei selbst ein Hauptkampfplatz ist, tut Gombrowicz alles, um den Stil eines gereiften Romanciers und das Lob der "Kulturtanten" zu vermeiden. "Tiefsinnsdiskussionen" und "Erleuchtungsgesichter" sind ihm verhasst. "Ferdydurke" ist bestes literarisches Kabarett. Je mehr Klamauk und "Poppo", desto mehr tiefere Bedeutung; je mehr Komik, desto mehr existenzieller Ernst.
Man könnte meinen, dass der Roman einiges von seiner polemischen Kraft eingebüßt hat, weil es Pauker wie Pimko doch längst nicht mehr gibt und die Ideale der "Reife" obsolet geworden sind. Aber aus der zeitlichen Distanz wirken die Figuren noch fratzenhafter und grotesker; sie überzeugen als Allegorien. Und leicht ließe sich für die beflissene Zeitgeistigkeit der Familie Jungiewicz eine aktuelle Entsprechung finden. Mehr denn je erweist sich "Ferdydurke" als Zerrspiegel der Infantilgesellschaft.
Höchstes Lob verdient die Neuübersetzung von Rolf Fieguth. Sie reißt den Grauschleier der verdienstvollen, aber deutlich gealterten Übertragung Walter Tiels von dem Roman und lässt ihn in seiner schillernden Farbenpracht neu erstehen. Denn "Ferdydurke" ist, wie die besten Werke der Moderne, im Wesentlichen ein Sprachkunstwerk. Der Stil ist mehr als nur Medium; er ist die Sache selbst. Die furiose Albernheit des Buches, seine kontrastreichen Register des Sprachspiels und der Parodie, sein gestischer Witz, sein Übermut, sein Hass, sein unvergleichlicher Sound - das alles kommt nun endlich auch im Deutschen voll zur Geltung. Viele Umständlichkeiten werden beseitigt, und sei es nur, dass in der polnischen Provinz nicht mehr der "Weiß-nicht-was-ich-Bin mit dem Weiß-nicht-was-ich-Will" herumgeht, sondern "Dödel mit Dämel über die Felder ziehen". Die Neuübersetzung ist plastischer und klarer; Schülergesichter sind nun nicht mehr "wie gespickt und faschiert", sondern "picklig und teigig". Tempo und Dynamik sind gesteigert, etwa wenn eine Überschrift nicht mehr "Entfesselte Beinfreiheit und neues Ertappen" lautet, sondern "Schwing das Bein und wieder drangekriegt". Manchen Worten und Namen verleiht Fieguth mehr Pep, indem er sie dichter am polnischen Original belässt; so wird aus Schuldirektor "Federfuchser" ein "Federfukski", aus einem "Blässling" ein Blasslak. Rolf Fieguth hat sich jahrzehntelang mit Gombrowicz beschäftigt. In diese kongeniale Neuübersetzung ist sein Herzblut geflossen. Man spürt es auf jeder Seite. WOLFGANG SCHNEIDER
Witold Gombrowicz: "Ferdydurke". Roman.
Aus dem Polnischen von Rolf Fieguth. Mit einem Vorwort von Susan Sontag. Kampa Verlag, Zürich 2022. 368 S., geb., 25,- Euro.
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