In diesem Buch wird zurückgeschaut: auf die allerletzte Zigarette, den ersten eigenen Computer, auf Rückeroberungsversuche, hirnverbrannte Jobs, die Schule. Von liebenden, lügenden, kriminellen Männern, die die Paraderollen versäumt haben, die niemand Papa nennt, Chef oder Schatz. In einem Chile, für dessen Heldengeschichten sie zu allem Überfluss auch noch zu spät kamen. Ihre elf Stories finden sich in diesem Buch, jede ein Ferngespräch mit der eigenen Vergangenheit und eine Suche nach der Zeit, als Ängste wie Träume maßlos und unbegründet waren.
Alejandro Zambra schreibt die neueste Weltliteratur, und Ferngespräch ist ein schillerndes Meisterwerk. Mit einer Art des Erzählens, die kein Vorbild kennt, führt er uns an den Abgrundkanten von Alltag und Geschichte entlang – lässig, witzig und wehmütig.
Alejandro Zambra schreibt die neueste Weltliteratur, und Ferngespräch ist ein schillerndes Meisterwerk. Mit einer Art des Erzählens, die kein Vorbild kennt, führt er uns an den Abgrundkanten von Alltag und Geschichte entlang – lässig, witzig und wehmütig.
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buecher-magazin.deNach der Roman-Miniatur "Bonsai" greift der chilenische Autor Zambra hier seinen lakonischen, leicht verschrobenen narrativen Stil wieder auf. Die Handlung bleibt stets unvorhersehbar, er fokussiert sprunghaft überraschende Details aus dem (Innen-)Leben der Protagonisten und schert sich nicht um Genres. "Ferngespräch" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die auch wie einzelne Kapitel eines Romans gelesen werden können, mit einer Stimme erzählt, aus dem Leben in Chile Ende der Siebzigerjahre bis in die Neunziger. Dabei spielen sich zwischen den Zeilen kleine Tragödien ab: Da kämpft ein Raucher verzweifelt, aber ohne Überzeugung, um Nichtraucher zu werden, da borgt sich ein zielloser Mann für eine Weile das Leben eines Freundes, da beschreibt ein Junge seinen erdrückenden Schulalltag. Zambra gehört zu jener Generation chilenischer Schriftsteller, deren Eltern entweder Komplizen oder Opfer des Militärregimes unter Pinochet waren. Seine Helden sind sensible, kluge, aber gescheiterte Existenzen, die in einer vom wirtschaftlichen und sozialen Erfolg besessenen Mittelschicht zu überleben versuchen. So sind die Kurzgeschichten auch eine Vergangenheitsbewältigung aus der Zeit vom Übergang der Diktatur zur Demokratie - wo Werte und Wahrheiten ins Wanken geraten.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Das ist alles nur gespielt
So nah am eigenen Leben, das kann nur Literatur sein: Die Meistererzählungen des chilenischen Autors Alejandro Zambra.
Von Christian Metz
Manche Lügen stellen einen vor Aufgaben, von denen man kurz zuvor noch dachte, sie niemals bewältigen zu müssen. So spontan einem die Eingebung gekommen sein mag, kaum hat sich die letzte Silbe schwindelnd vom Lippenrand gelöst, bleibt einem nichts anderes übrig, als der falschen Behauptung Taten folgen zu lassen. Nennen wir, da es keinen Namen für sie gibt, die Form der Lüge wegen ihrer impliziten Herausforderung Herkules-Lüge. In Alejandro Zambras international gefeierten Erzählungsband "Ferngespräch" kommt der Herkules-Lüge eine auffällige Rolle zu. Da besucht etwa ein Junge brav und fromm den Kommunionsunterricht, als er durch einen Bekannten das Angebot bekommt, in der Nachbargemeinde Messdiener zu werden. Überschwenglich sagt er zu. Kurz darauf kommt er in höchste Nöte, weil er im Gottesdienst und dem Pfarrer zu Diensten die Kommunion empfängt, für die er eigentlich erst geschult werden soll. Verstrickt in ein Gespinst aus Schuld und Schulden, versucht der Junge, in der Wirklichkeit nachzuholen, was er in der Vorstellung anderer schon hinter sich hat.
Einen solchen Imaginationskredit stottert auch Martín ab. Nur nach außen gelassen, fährt er seiner gewagten Behauptung hinterher, es sei kein Problem, seine neue Liebe Paz mit dem Auto zu einer Hochzeit zu bringen. Daniel hingegen, ein gestandener Anwalt, wickelt sich die Finger wund, nachdem er seinem Sohn erklärt hat, die Zubereitung von Sushi sei ihm quasi in die Wiege gelegt worden. Sind Herkules-Lügen verwerfliche Untaten, obwohl die Figuren offensichtlich an ihren Aufgaben wachsen und zugleich ihre Beziehungen stabilisieren?
Zumindest ist der 1975 in Santiago de Chile geborene Zambra so fasziniert von dieser Lügenart, dass sie in seinem Debüt die Keimzelle der eigenen Literatur darstellt. Das knappe, traurige, ungemein komische und zärtliche Buch erzählt vom Auftrag seiner Hauptfigur, fünf Notizbücher eines berühmten Autors in ein Roman-Typoskript übertragen zu dürfen. Julio ist so stolz, dass er seiner Nachbarin gleich davon erzählen muss. Als sich die Zusammenarbeit zerschlägt, zieht Julio die einzige für ihn denkbare Konsequenz: Wie im Fieberrausch füllt er fünf Notizbücher mit einer eigenen Geschichte, nur damit er vor den Augen seiner Nachbarin tatsächlich ein Manuskript abschreibt. Der abgetippte Roman heißt "Bonsai". Das wiederum war der Titel von Zambras Debüt. Was im zweiten Roman, "Das Leben der Bäume", aufs Neue eine Rolle spielt, weil die Hauptfigur an einem Roman über einen Bonsai arbeitet. Eine kleine Lüge kann weit in die Zukunft vorausgreifen und erstaunliche Kräfte freisetzen.
Dabei dreht sich nicht das gesamte Erzählen dieses außergewöhnlichen Autors um diese eine Lügenform. Sie steht aber für Zambras besondere Beobachtungsgabe, wenn es um Beziehungen geht. Und sie zeigt seine Gabe, eigenwillige Figuren in verwickelte Situationen zu versetzen. Gepaart ist dies mit dem Anspruch, eine literarische Chronik der jüngeren chilenischen Geschichte zu verfassen. Zambra zufolge prägen drei große Sorgen die heutige chilenische Mentalität: der stockende Übergang vom Pinochet-Regime zur Demokratie, die schwelende Angst vor einem Erdbeben und die vergebliche Suche nach einem Symbol für die nationale Identität, für die Zambra wiederholt den Fußball ins Spiel bringt. Die elf Erzählungen in "Ferngespräch" zeichnen ein weites Panorama des Strukturwandels der Öffentlichkeit, der mit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1989 eingesetzt hat.
Man kann diesen Autor nicht lesen, ohne an Roberto Bolaño zu denken, dessen Gedichte, Erzählungen und enzyklopädischen Romane das Feld lateinamerikanischer Literatur auf den Kopf gestellt haben. Bolaño hat dem Magischen Realismus die kitschverdächtigen Flügel gestutzt, dem Erzählen vom Erzählen und Schreiben eine ungekannte Zartheit und Eleganz verliehen. Und er hat die Auswüchse der Gewalt nicht länger in Umschreibungen gesperrt, sondern ihnen direkt ins Angesicht geschaut. Wie eine Reihe nachfolgender Autoren - genannt werden in "Ferngespräch" etwa Valeria Luiselli und Álvaro Enrique - beherrscht Zambra alle Facetten von Bolaños Erzählen. Er verfeinert sie zugleich mit einer Lakonik, die an Pierre Michon geschult ist, und mit einem Timing von Dialogen und einer Wärme gegenüber den Figuren, die an Natalia Ginzburg erinnern.
Mit ihr hat Zambra auch den autofiktionalen Ansatz des Schreibens gemein. Die Erzählungen sind so nah am eigenen Leben, dass sie nur Literatur sein können. Die chilenische Literatur hat mit Autoren wie Zambra ihren Kreis über Bolaño hinaus erweitert, um so das spezifisch Chilenische präzise in den Blick zu bekommen: In "Ferngespräch" wird nichts dem Zufall überlassen, wenn die Erzählungen sowohl bei der Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur als auch im Umgang mit der Erdbeben-Angst Lügenstrukturen aufzeigen. Selbst der Fußball bleibt nicht außen vor. So nimmt man noch einmal auf dem Wohnzimmersofa Platz, während Chile 1989 im entscheidenden Spiel gegen Brasilien versucht, sich die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1990 zu sichern. Gebannt schaut man zu, wie der chilenische Torwart nach zwanzig Minuten im Mythos Maracanã zusammenbricht und die Emotionen überkochen. Später wird sich herausstellen, dass Roberto Rojas nicht etwa von einem Feuerwerkskörper getroffen wurde, sondern sich die Verletzung selbst zugefügt hat. Alles nur gespielt. Statt die erhoffte Heldengeschichte zu liefern, bringt der Fußball Chile Betrug, Disqualifikation und Beschämung.
Doch was wäre passiert, wenn der Betrug geglückt wäre? Hätte die erfolgreiche Teilnahme den vorherigen Betrug rechtfertigen sollen? Man glaubt fast, dabei zu sein, wenn sich bei Rojas die spontane Schnapsidee zur unumkehrbaren Herkules-Lüge auswächst. Zambra, der für solche prägenden Phänomene einen klaren Blick hat, ist ein herausragender, weil ungemein konsequenter Erzähler.
Alejandro Zambra: "Ferngespräch". Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 246 S., geb., 22,- [Euro].
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So nah am eigenen Leben, das kann nur Literatur sein: Die Meistererzählungen des chilenischen Autors Alejandro Zambra.
Von Christian Metz
Manche Lügen stellen einen vor Aufgaben, von denen man kurz zuvor noch dachte, sie niemals bewältigen zu müssen. So spontan einem die Eingebung gekommen sein mag, kaum hat sich die letzte Silbe schwindelnd vom Lippenrand gelöst, bleibt einem nichts anderes übrig, als der falschen Behauptung Taten folgen zu lassen. Nennen wir, da es keinen Namen für sie gibt, die Form der Lüge wegen ihrer impliziten Herausforderung Herkules-Lüge. In Alejandro Zambras international gefeierten Erzählungsband "Ferngespräch" kommt der Herkules-Lüge eine auffällige Rolle zu. Da besucht etwa ein Junge brav und fromm den Kommunionsunterricht, als er durch einen Bekannten das Angebot bekommt, in der Nachbargemeinde Messdiener zu werden. Überschwenglich sagt er zu. Kurz darauf kommt er in höchste Nöte, weil er im Gottesdienst und dem Pfarrer zu Diensten die Kommunion empfängt, für die er eigentlich erst geschult werden soll. Verstrickt in ein Gespinst aus Schuld und Schulden, versucht der Junge, in der Wirklichkeit nachzuholen, was er in der Vorstellung anderer schon hinter sich hat.
Einen solchen Imaginationskredit stottert auch Martín ab. Nur nach außen gelassen, fährt er seiner gewagten Behauptung hinterher, es sei kein Problem, seine neue Liebe Paz mit dem Auto zu einer Hochzeit zu bringen. Daniel hingegen, ein gestandener Anwalt, wickelt sich die Finger wund, nachdem er seinem Sohn erklärt hat, die Zubereitung von Sushi sei ihm quasi in die Wiege gelegt worden. Sind Herkules-Lügen verwerfliche Untaten, obwohl die Figuren offensichtlich an ihren Aufgaben wachsen und zugleich ihre Beziehungen stabilisieren?
Zumindest ist der 1975 in Santiago de Chile geborene Zambra so fasziniert von dieser Lügenart, dass sie in seinem Debüt die Keimzelle der eigenen Literatur darstellt. Das knappe, traurige, ungemein komische und zärtliche Buch erzählt vom Auftrag seiner Hauptfigur, fünf Notizbücher eines berühmten Autors in ein Roman-Typoskript übertragen zu dürfen. Julio ist so stolz, dass er seiner Nachbarin gleich davon erzählen muss. Als sich die Zusammenarbeit zerschlägt, zieht Julio die einzige für ihn denkbare Konsequenz: Wie im Fieberrausch füllt er fünf Notizbücher mit einer eigenen Geschichte, nur damit er vor den Augen seiner Nachbarin tatsächlich ein Manuskript abschreibt. Der abgetippte Roman heißt "Bonsai". Das wiederum war der Titel von Zambras Debüt. Was im zweiten Roman, "Das Leben der Bäume", aufs Neue eine Rolle spielt, weil die Hauptfigur an einem Roman über einen Bonsai arbeitet. Eine kleine Lüge kann weit in die Zukunft vorausgreifen und erstaunliche Kräfte freisetzen.
Dabei dreht sich nicht das gesamte Erzählen dieses außergewöhnlichen Autors um diese eine Lügenform. Sie steht aber für Zambras besondere Beobachtungsgabe, wenn es um Beziehungen geht. Und sie zeigt seine Gabe, eigenwillige Figuren in verwickelte Situationen zu versetzen. Gepaart ist dies mit dem Anspruch, eine literarische Chronik der jüngeren chilenischen Geschichte zu verfassen. Zambra zufolge prägen drei große Sorgen die heutige chilenische Mentalität: der stockende Übergang vom Pinochet-Regime zur Demokratie, die schwelende Angst vor einem Erdbeben und die vergebliche Suche nach einem Symbol für die nationale Identität, für die Zambra wiederholt den Fußball ins Spiel bringt. Die elf Erzählungen in "Ferngespräch" zeichnen ein weites Panorama des Strukturwandels der Öffentlichkeit, der mit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1989 eingesetzt hat.
Man kann diesen Autor nicht lesen, ohne an Roberto Bolaño zu denken, dessen Gedichte, Erzählungen und enzyklopädischen Romane das Feld lateinamerikanischer Literatur auf den Kopf gestellt haben. Bolaño hat dem Magischen Realismus die kitschverdächtigen Flügel gestutzt, dem Erzählen vom Erzählen und Schreiben eine ungekannte Zartheit und Eleganz verliehen. Und er hat die Auswüchse der Gewalt nicht länger in Umschreibungen gesperrt, sondern ihnen direkt ins Angesicht geschaut. Wie eine Reihe nachfolgender Autoren - genannt werden in "Ferngespräch" etwa Valeria Luiselli und Álvaro Enrique - beherrscht Zambra alle Facetten von Bolaños Erzählen. Er verfeinert sie zugleich mit einer Lakonik, die an Pierre Michon geschult ist, und mit einem Timing von Dialogen und einer Wärme gegenüber den Figuren, die an Natalia Ginzburg erinnern.
Mit ihr hat Zambra auch den autofiktionalen Ansatz des Schreibens gemein. Die Erzählungen sind so nah am eigenen Leben, dass sie nur Literatur sein können. Die chilenische Literatur hat mit Autoren wie Zambra ihren Kreis über Bolaño hinaus erweitert, um so das spezifisch Chilenische präzise in den Blick zu bekommen: In "Ferngespräch" wird nichts dem Zufall überlassen, wenn die Erzählungen sowohl bei der Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur als auch im Umgang mit der Erdbeben-Angst Lügenstrukturen aufzeigen. Selbst der Fußball bleibt nicht außen vor. So nimmt man noch einmal auf dem Wohnzimmersofa Platz, während Chile 1989 im entscheidenden Spiel gegen Brasilien versucht, sich die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1990 zu sichern. Gebannt schaut man zu, wie der chilenische Torwart nach zwanzig Minuten im Mythos Maracanã zusammenbricht und die Emotionen überkochen. Später wird sich herausstellen, dass Roberto Rojas nicht etwa von einem Feuerwerkskörper getroffen wurde, sondern sich die Verletzung selbst zugefügt hat. Alles nur gespielt. Statt die erhoffte Heldengeschichte zu liefern, bringt der Fußball Chile Betrug, Disqualifikation und Beschämung.
Doch was wäre passiert, wenn der Betrug geglückt wäre? Hätte die erfolgreiche Teilnahme den vorherigen Betrug rechtfertigen sollen? Man glaubt fast, dabei zu sein, wenn sich bei Rojas die spontane Schnapsidee zur unumkehrbaren Herkules-Lüge auswächst. Zambra, der für solche prägenden Phänomene einen klaren Blick hat, ist ein herausragender, weil ungemein konsequenter Erzähler.
Alejandro Zambra: "Ferngespräch". Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 246 S., geb., 22,- [Euro].
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»Man kann diesen Autor nicht lesen, ohne an Roberto Bolaño zu denken ... ein herausragender, weil ungemein konsequenter Erzähler.« Christian Metz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20171007